Название | Die Seele im Unterzucker |
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Автор произведения | Mica Scholten |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783991072393 |
Bereits am ersten Abend ging es meinem Vater sehr schlecht. Er erbrach sich in einem fort und konnte das Bett (oder besser gesagt den Schlafsack) nicht mehr verlassen. Er verpasste sogar den Jahreswechsel und das Feuerwerk, auf welches wir dank der Lage in den Bergen eine grandiose Sicht hatten. Ich hielt es für ihn auf Bildern fest. Warum es ihm so schlecht ging, wusste keiner. Wir dachten, er hätte eine kleine Lebensmittelvergiftung.
Nach 2 Tagen auf der Hütte fuhren wir wieder nach Hause. Nachdem wir nach 2-stündigem Stau endlich die Heimat erreicht hatten, waren wir alle recht froh. Es war noch sehr glatt und verschneit. Mein Vater fühlte sich inzwischen wieder etwas besser. So dachten wir zumindest. Nachdem wir uns von Ralf und Irmgard verabschiedet hatten, stiegen wir die Treppen zum Wohnungseingang hinauf und mein Vater schloss die Türe auf. Plötzlich ein gequälter Laut. Mein Vater kippte vor meinen Augen nach vorne über und landete auf dem Bauch. Er krampfte und sabberte. Zuerst dachte ich noch, dass er ein Späßchen mit mir machen wollte, so wie er es öfters gerne versuchte und schaltete nicht sofort. Doch als er so liegen blieb sah ich, dass es ernst war und rannte schnell zur Nachbarin und klingelte Sturm. Ich sagte, mein Vater sei plötzlich umgefallen. Sie und ihr Sohn kamen sofort herbei und alarmierten einen Krankenwagen. Ich sprintete nach oben in die Wohnung, schloss die Wohnungstüre auf, schnappte mir das Telefon und rief meine Großeltern an. Meine Oma meldete sich, wünschte ein frohes neues Jahr und fragte gut gelaunt, wie es denn in Österreich gewesen war. Ich weiß noch genau, dass es mir sehr leid tat sie jetzt beunruhigen zu müssen, aber sie musste ja schließlich auch Bescheid wissen. Ich erzählte, dass Papi soeben im Treppenhaus zusammengebrochen war und sie und Opa schnellstmöglich kommen sollten.
Sie trafen kurz nach dem Krankenwagen ein. Mein Vater – inzwischen von der Nachbarin mit einem der Schlafsäcke aus unserem Gepäck zugedeckt – war inzwischen sogar wieder bei Bewusstsein. Die Sanitäter sagten ihm, dass sie ihn mit ins Krankenhaus nehmen würden. Mein Vater protestierte, schließlich hatte er seit 2 Tagen nicht geduscht. Ich musste gedanklich schmunzeln, das war so typisch für meinen stets hoch gepflegten Vater. Doch das rückte jetzt erst einmal in den Hintergrund und er wurde auf der Trage mitgenommen. Meine Großeltern und ich gingen noch einmal kurz in seine Wohnung und suchten einige Dinge für ihn zusammen. Unterwäsche, Schlafanzug, Waschsachen etc. Anschließend fuhren wir zu ihm ins Krankenhaus.
Dort fanden wir ihn in der Notaufnahme. Er saß auf einer Liege und schien geistig schon wieder ganz anwesend zu sein. Was war eigentlich passiert? Man erklärte uns, dass er einen epileptischen Anfall erlitten hatte, was auch die Krämpfe und die Zuckungen erklärte. Dass er unter einer leichten Form der Epilepsie litt, wusste ich bis zum damaligen Zeitpunkt noch gar nicht.
Er meinte, dass es ihm soweit wieder gut gehe und er jetzt nach Hause könne. Doch der Arzt bestand darauf, ihn über Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus zu behalten. Was auch passierte. Meine Großeltern und ich verabschiedeten uns alsbald und waren froh, dass er in guten Händen war. Sie waren ganz krank vor Sorge und fragten mich, ob er am Wochenende denn Alkohol getrunken hatte, was ich verneinte. Wann denn auch? Er war ja zum Großteil außer Gefecht und schlief.
Zuhause angekommen, erzählte ich auch meiner Mutter was geschehen war. Ich war noch immer in größter Sorge um meinen Papa und schaute einige Stunden später am Abend nochmal bei ihm im Krankenhaus vorbei. Ich wollte ihm meinen Lieblingsteddy vorbeibringen, dass er die Nacht über nicht so allein war. Als ich ihn dort vorfand, erschrak ich sehr. Er hatte eine herausgezogene Infusionsnadel in seiner Hand und war überströmt mit Blut. Außerdem wirkte er sehr benommen und verwirrt. Die Infusion sei irgendwie herausgerutscht und er bekomme sie nicht wieder hinein. Ich rief nach einer Schwester, welche sich seiner annahm. Ich verließ das Zimmer und versprach, direkt morgen wieder zu kommen. Ich war in Sorge und hoffte, dass er gut über die Nacht kommen würde. Dass er so durcheinander war, machte mir Angst. Meine Mutter beruhigte mich und sagte, dass ein epileptischer Anfall eine enorme Stresssituation für den Körper darstellt, er in guten Händen sei und es ihm morgen bestimmt schon wieder besser gehen würde. Zuversichtlich legte ich mich bald schlafen, nachdem ich noch den Rest von meinem Gouda gegessen hatte, welchen ich mir bewusst für später aufgehoben hatte.
2 Tage später wurde mein Vater wieder entlassen. Er bekam von nun an Tabletten gegen seine Krankheit, welche künftigen Anfällen vorbeugen sollten. Außerdem hatte er die strikte Auflage, keinerlei Alkohol mehr zu trinken. Nicht mal sein geliebtes Feierabendbierchen durfte offiziell nun mehr sein. In meiner Gegenwart hielt er sich auch überwiegend daran. Trank er zwischendurch trotzdem mal etwas (einmal holte er sich in meiner Anwesenheit nach einem Arztbesuch in München ein Bierchen und „bestach“ mich mit einer Fahrtrunde in einem Fahrgeschäft auf dem Rummelplatz, wenn ich es niemandem erzählen würde), so stufte er es als harmlose Ausnahme ein. Daher beachtete ich es auch nicht weiter, ganz bestimmt wusste er, was er tat. Gelegentlich ein Bierchen klang in der Tat recht harmlos und war ihm auch mehr als vergönnt. Was und wie viel er tatsächlich in meiner Abwesenheit konsumierte, wird auf ewig sein wohl gehütetes Geheimnis bleiben.
Depressionen
Es war zuweilen recht erschreckend, in wie viele Widersprüchlichkeiten ich mich über die Jahre verrannte. Meine Meinungen variierten häufig nach Tagesform und änderten sich gelegentlich schneller als das Wetter.
Ein gutes Beispiel hierfür waren meine Krankheiten, welche ich gerne zum persönlichen Belieben variabel verwendete. Einerseits wollte ich unter keinen Umständen eine Sonderbehandlung. Jedoch kamen mir einige Ausreden ab und an ganz gelegen. Hatte ich auf irgendetwas keine Lust, so schob ich meine Sehnenverkürzung vor und bekundete, dass ich das nicht schaffen würde. Obwohl ich es im Grunde mit ein bisschen Disziplin durchaus geschafft hätte. Zum Beispiel hätte ich mich viel mehr bewegen können. Zumindest nach meinen persönlichen Möglichkeiten in meinem eigenen Tempo.
Irgendwann kam der Punkt, an welchem ich anfing, bewusster auf mein Äußeres zu schauen. In meiner Klasse waren definitiv nicht alle schlanke Topmodels, einige waren, wie auch ich, von etwas kräftigerer Natur. Ich begann überwiegend Schwarz zu tragen und zog sehr enge Unterhemden an, die so straff saßen, dass sie mir im Hochsommer sogar Striemen in die Haut rissen welche teilweise eiterten. Die Schmerzen und das endlose Schwitzen ertrug ich jedoch, um unnötige Fettpolster so gut wie möglich zu verbergen.
Zu Weihnachten 2005 bekam ich von meinem Vater meine erste Digitalkamera mit der Möglichkeit zur Tonaufzeichnung, welche bald zu meinem liebsten Begleiter mutierte und das alte Diktiergerät meines Vaters ablöste, welches ich bis dato stets bei mir getragen hatte. Ich knipste alles und jeden und drehte kurze Videos. Meist heimlich von meinem armen Vater, welchen ich gezielt regelmäßig zur Weißglut brachte, um mich später über die Aufnahmen köstlich zu amüsieren. Andere zu ärgern machte mir in jenem Zeitraum sadistische Freude, ich konnte mich stundenlang über Wutanfälle totlachen. Ich filmte heimlich, wie ich meinem Vater „versehentlich“ auf den Fuß trat, er lautstark vor Schmerzen aufschrie und schaute mir jenes Szenario gefühlte hundertmal in Folge an.
Auch in der Schule war die Kamera nun ständiger Begleiter. Ich stellte bewusst naive Fragen und stellte mich blöd, so dass die Lehrer oftmals nervlich an ihre Grenzen gelangten. Das alles nahm ich meist in Form von Sprachaufnahmen auf, zog es mir zuhause auf den Rechner und hörte es mir immer wieder an. Meine Form der Belustigung in einsamen Stunden. Natürlich machte ich jene – im Grunde unerlaubten Aufnahmen – niemals öffentlich und löschte auch die meisten im Laufe der Zeit wieder. Sie waren lediglich für mich und meine persönliche Belustigung gedacht.
Dieses Verhalten war nur bis zu einem gewissen Punkt lustig. Irgendwann nervte es sämtliche Mitschüler und ich wurde gemieden. Warum schoss ich mich schon wieder in eine Sonderrolle und diesmal aus freien Stücken? Bezüglich meiner Krankheiten wurde ich verhältnismäßig selten gemobbt, allerdings führte mein immer aufsässigeres, provokantes Verhalten dazu, dass ich von nun an regelmäßigem Mobbing ausgesetzt war. Selbst jene Mitschüler, welche ich bereits aus Kindergartentagen kannte, wendeten sich immer mehr von mir ab und mieden den Kontakt. Was ich inzwischen sogar verstehen kann. Wer konnte mich schon wirklich einschätzen und noch ansatzweise ernst nehmen? Meine