Название | Die Seele im Unterzucker |
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Автор произведения | Mica Scholten |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783991072393 |
Da sie sehr viele Kinder in der Familie waren, versteht sich von selbst, dass Axel niemals in Geld schwamm. Er war der Zweitjüngste und musste sogar gelegentlich die alten Kleidungsstücke von seinen großen Brüdern tragen. Wie stark dies damals schon an seinem Selbstwertgefühl nagte erzählte er mir erst viele Jahre später. Früher gab er stets den Unbeeindruckten. Wenn ich ihn diesbezüglich stichelte, trug er mal wieder ein abgetragenes Hemd, in welchem er fast versank. Gegenseitig gestichelt haben wir uns über all die Jahre. Es gibt Millionen Insiderwitze, welche nur wir beide verstehen und über welche wir uns jedes Mal halb totlachen, wenn wir uns sehen. Wie oft die Leute wohl denken mussten, wie dermaßen bescheuert wir beide in Kombination wohl sein müssen, lässt sich definitiv nicht mehr an nur einer Hand abzählen.
Mit meiner Stechhilfe, mit welcher ich mich täglich in den Finger stach um meinen Zuckerwert zu ermitteln, schlossen Axel und ich eines Tages sogar „Blutsbrüderschaft“.
Axel liebte das Geschäft meines Vaters, welches diverse Unterhaltungselektronik anbot. Er verfügte zwar nicht über das nötige Budget, um sich regelmäßig Spiele und Konsolen zu kaufen, aber er war trotz allem immer wieder neugierig, was denn gerade frisch auf dem Markt war und stöberte.
Wir borgten uns gegenseitig Spiele aus und unterstützten uns beim Freischalten diverser Charaktere. Während ich in den Rennspielen besser war, triumphierte Axel überwiegend bei den Kampfspielen. Beinahe jeden Abend telefonierten wir über Festnetz und gaben regelmäßige Rückmeldung, wie viele Durchgänge wir heute schon geschafft hatten.
Aber wir beide saßen nicht nur vor der Spielkonsole. Weiterhin unternahmen wir viel außerhalb der eigenen vier Wände. Wir gingen zusammen aufs Schützenfest, spielten in meinem Baumhaus, gingen zum Schwimmen und auch ab und an ins Kino. Gelegentlich spielten wir auch mit anderen Kids, waren aber überwiegend zu zweit unterwegs. Wir besaßen beide einen City Roller und tourten damit und mit unseren Fahrrädern durch Feld und Fluren. Axel versuchte vergebens, mir das Inline Skaten beizubringen, was mir aufgrund meiner Sehnenverkürzung auf der rechten Seite jedoch niemals gelang.
Axel war ein Abenteurer und sehr mutig. Einmal wettete ich mit ihm, dass er sich bestimmt nicht trauen würde, zwischen zwei Silos einer Firma hinaufzuklettern. Das war eine sehr waghalsige Aktion, aber Axel wagte es tatsächlich. Zwischen den Silos auf den nur knapp zwei Zentimeter breiten Rillen kletterte er fast 30 Meter in die Höhe. Ein falscher Schritt und er hätte sich höchstwahrscheinlich das Genick gebrochen. Ich hatte wahnsinnigen Respekt, er hatte die Wette eindeutig gewonnen. Sein Preis: Mein Plastikschwert. Wohlverdient, würde ich sagen …
Einmal gingen wir im Frühjahr zu unserem örtlichen Freibad, welches gerade frisch nach dem Winter wieder befüllt worden war. Wir hielten die Füße rein und stellten fest, dass es doch noch wesentlich frischer war als wir erwartet hatten. Wir beschlossen mutig zu sein und eine Runde über den Weiher zu schwimmen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit bis wir den Mut hatten, wenigstens knietief ins Wasser zu kommen. „Jetzt oder nie!“, rief Axel und schubste mich ohne jegliche Vorwarnung in das eiskalte Wasser und sprang hinterher. Mit aller Kraft durchquerten wir einmal tapfer den See, Axel hing sich vor lauter Kälte an meine Schultern und drückte mich beinahe runter. Als wir es geschafft hatten, besuchten wir mit klatschnassen Klamotten meinen Vater, welcher uns für absolute Spinner erklärte. Aber wir fühlten uns dennoch unüberwindbar stark und tapfer.
Unsere Freundschaft wurde auf eine harte Probe gestellt, nachdem wir eine kindliche Peinlichkeit betrieben hatten. Ich hatte einen kleinen Fotoapparat, welcher noch mit einem Film bestückt war, den man entwickeln lassen musste. Axel und ich saßen bei mir im Zimmer herum und machten unnötigen Blödsinn in Form von Grimassen und ähnlichem. Irgendwann wurden wir so albern, dass wir Arschbilder knipsten. Axel drehte sich zusätzlich noch um, ich drückte ab. So entstanden Bilder, welche es nicht hätte geben sollen …
Nachdem wir die entwickelten Bilder abgeholt hatten, lachten wir uns darüber schlapp. Versprachen uns aber fest, jene Aufnahmen niemals jemandem zu zeigen.
Einige Tage später spielten wir mit Axels kleinem Bruder Marco und Axel ärgerte mich beim Spielen. Ich wollte ihn ebenfalls ärgern, indem ich eines der Fotos aus der Tasche zog und einige Sekunden vor den Augen seines Bruders schwenkte. Ich hatte damit gerechnet, dass jener anfangen würde zu lachen oder ähnliches. Dem war allerdings nicht so. Geschockt riss er das Foto an sich und rannte damit zu seiner Mutter. Beschämt ging ich nach Hause, das war nun wirklich nicht meine Absicht, ich wollte ihn nur necken. Konnte ja nicht ahnen, dass sein Bruder Marco eine derartige Petze war. Natürlich war es auch nicht die feine englische Art meinerseits, schließlich hatten wir uns versprochen, keinem von den Bildern zu erzählen und sie schon gar keinem zu zeigen. Dies zeigte mal wieder von meinem mangelnden Einfühlungsvermögen und meiner hyperaktiven Egozentrik. Axel war enttäuscht von mir, was ich ihm alles andere als verübeln konnte. Nicht nur ein arger Vertrauensbruch, sondern auch eine sehr peinliche Situation für ihn.
Noch am selben Abend bei unserem täglichen Telefonat war plötzlich seine Mutter am Ende der Leitung, welche mich aufforderte, ihr sämtliche Fotos und Negative am nächsten Tag vorbeizubringen. Eingeschüchtert willigte ich ein und stand am nächsten Tag wie gewünscht auf der Matte. Sie erwartete uns draußen im Hof auf der Bank. Ich entschuldigte mich kleinlaut für die alberne Aktion mit den Bildern und hoffte, dass sie uns nicht allzu böse war. Ich überreichte ihr den Umschlag mit allen Negativen. Sie hielt die kleinen braunen Schnipsel prüfend gegen das Licht, Axel war beschämt. „Mama, muss das sein?“, fragte er genervt. Sie war entsetzt und wiederholte immer wieder, dass etwas Derartiges ganz und gar nicht ginge und in welche Schwierigkeiten Axel kommen könnte, käme so etwas an die Öffentlichkeit. Was wir beide als etwas übertrieben empfanden, auf den Aufnahmen waren keine Gesichter zu erkennen. Sie nahm die Bilder und Negative und verbrannte sie vor unseren Augen in der Flamme einer Kerze. Kein großer Verlust für die Welt. Anschließend sprach sie ein künftiges Kontaktverbot aus, sie könne es nicht riskieren, dass Axel durch mich in Schwierigkeiten käme. Ich entschuldigte mich unter Tränen noch einmal und beteuerte, dass das bestimmt nicht wieder vorkommen würde. Axel war doch schließlich mein allerbester Freund. Sie sagte, dass das definitiv nicht gehen würde und bat mich, zu gehen.
Heulend verließ ich das Grundstück und ging nach Hause. Dort erzählte ich niemandem von der Sache. Ich ging schwer davon aus, dass ich Axel tatsächlich nie wieder sehen würde, seine Mutter machte einen sehr strengen und dominanten Eindruck.
Natürlich ist es verständlich, dass eine Mutter über eine Aktion wie jene alles andere als erfreut ist und auch dementsprechende Konsequenzen zieht. Aber ein Kontaktverbot für immer? Das schien mir mehr als knallhart …
Wenige Stunden später klingelte das Telefon, es war Axel. Ich konnte es gar nicht recht glauben, schließlich herrschte doch ab sofort striktes Kontaktverbot?!
Axel meinte, seine Mutter sei gerade nicht anwesend und darum nutzte er die Chance mir zu sagen, dass er trotz allem mein bester Freund bleiben würde und sich den Umgang mit mir nicht verbieten lasse. Wir sollten uns von nun an eben heimlich treffen und bei Anrufen auf seinem Festnetz sollte ich mich als jemand anderes ausgeben, wenn Mutter, Vater oder Geschwister ans Telefon gehen sollten. Ich war so überglücklich seine Stimme zu hören und versicherte ihm noch einmal wie leid es mir tat, dass ich seinem Bruder das Foto unter die Nase gehalten hatte. Axel war nicht böse, er meinte nur, dass es Aktionen wie diese nie wieder geben dürfe.
Von nun an trafen wir uns auswärts nur noch heimlich oder eben bei mir zuhause, wo keine „Gefahr“ bestand. Meine Mutter wusste nur am Rande von der Geschichte, sah dies allerdings nicht so streng wie Axels Mutter. Sie meinte auch, dass es zwar eine blöde Aktion war, aber ein Kontaktverbot auf Lebenszeit hielt auch sie für weitaus übertrieben. Schließlich machen alle Kinder und Jugendliche einmal Blödsinn.
Das Ende einer Ära
Leider musste mein Vater sein Geschäft, welches er über viele Jahre erfolgreich als Meister geführt hatte, zu unser aller Bedauern im Jahre 2002 endgültig schließen. Es rentierte sich einfach nicht mehr,