Die Flucht in den Hass. Eva Reichmann

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Название Die Flucht in den Hass
Автор произведения Eva Reichmann
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783863935634



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Vollständigkeit oder Genauigkeit für sich beanspruchen wollen. Das liegt nicht in ihrer Absicht. Es handelte sich vielmehr darum, unter außerordentlichen, teilweise gewaltsamen Fortlassungen und Vereinfachungen einige typische Tatbestände der jüdischen Existenz in ihrer Bedeutung für die Entstehung des neuzeitlichen Antisemitismus darzustellen. Demgegenüber besagt es nichts, daß einige dieser Erscheinungen nicht auf alle Landesjudenheiten zutreffen, daß, um nur ein Beispiel zu nennen, von einem übermäßigen Anteil der englischen Juden an den freien Berufen nicht gesprochen werden kann. Dieses in England ausfallende Gruppenmerkmal wird dort durch eine besonders einseitige Verstädterung und ein relativ noch früheres Assimilationsstadium der aschkenasischen Juden ausgeglichen, wie es der noch kurzen Emanzipationszeit – etwa seit der Jahrhundertwende – entspricht.

       5. Widersprüche in der Erscheinung des modernen Juden

      Damit haben wir aber unsere Übersicht über jene Eigenschaften der jüdischen Gruppe, die den Antisemitismus begünstigen, noch nicht beendet. Wir müssen, wenn wir versuchen, aus dem bisher Gesagten ein Ergebnis abzuleiten, noch auf einen Umstand hinweisen, der alle zuvor erwähnten Faktoren in sich faßt und zugleich in einem besonderen Licht erscheinen läßt.

      Der durchschnittliche Jude ist so sehr an das eigentümliche Bild gewöhnt, das seine Gruppe ihm bietet, daß er geneigt ist, ihre verschiedenartigen Züge so zu betrachten, als ob sie alle miteinander zusammenhingen oder sich folgerichtig auseinander ergäben. Er besitzt ein mehr oder minder begrenztes Wissen von der jüdischen Geschichte und von der jüdischen Religion, als deren Folge er die Diaspora ansieht; und sofern er überhaupt eine gewisse Fragwürdigkeit empfindet, werden Gewohnheit und eben dieses Wissen eine ausreichende Antwort alsbald bereithalten. Beim Nichtjuden, der das Phänomen des Judentums von außen sieht, ist das anders. Ihm begegnet dieses Phänomen zu irgendeiner Zeit seines bewußten Lebens, vornehmlich während der Schulzeit, wenn das jüdische Kind der engen Lebensgemeinschaft seiner Klasse äußerlich angehört und doch als „jüdisches“ Kind durch eine Reihe unterschiedlicher Züge von ihr getrennt bleibt. Diese Züge können sehr verschiedenartig sein: Sie können in anderem Religionsunterricht, anderen Feiertagen, unter Umständen auch im Schreibverbot am Sabbath und dergleichen mehr bestehen. Sie können je nach ihrem Umfang und der Sensibilität des Mitschülers, der darüber nachzudenken anfängt, eine undurchdringliche Mauer aufrichten oder nur noch wie ein durchsichtiger Schleier erscheinen. Ganz fehlen werden sie niemals, wo immer das jüdische Kind noch in diesem oder jenem Sinne Mitglied seiner Gruppe ist und während seiner Freizeit in deren Bereich zurückkehrt. Der Widerspruch zwischen Nähe und Entferntheit, der in diesem Verhältnis obwaltet, wiederholt sich noch auf vielen anderen Gebieten. Auf jedem einzelnen und auf allen zusammen bleibt ein Rest von Unerklärlichem, von Geheimnisvollem, von Unheimlichem. In einer Antwort an Erich Kahler63 weist Carl Mayer64 mit Recht darauf hin, daß dem modernen Bewußtsein die Erscheinung des Juden völlig unverständlich geworden sei und daß in diesem Nichtverstehen eine der Hauptursachen, wenn nicht die Hauptursache der neuzeitlichen Abneigung gegen die Juden zu sehen sei. Es ist für die jüdische Situation und alle ihre Begleiterscheinungen in der Tat charakteristisch, daß der Außenstehende sie zunehmend schwerer verstehen kann, je mehr Einzelheiten davon ihm bekannt werden.

      Wie für das nichtjüdische Schulkind sein jüdischer Klassengenosse ihm gleich und doch ungleich ist, so geht es dem nichtjüdischen Erwachsenen mit seinem jüdischen Mitbürger. Allerdings ist der Widerspruch zwischen gleicher Staatsbürgerschaft und ungleicher nationaler, Volks- oder „Rassen“-Zugehörigkeit in den verschiedenen Ländern so unterschiedlich, daß wir der Einfachheit halber die frühere Situation in Deutschland zugrundelegen möchten, die unserer Betrachtung am nächsten liegt. Sie ist auch in ihrer Problematik charakteristisch für weitgehend assimilierte jüdische Gemeinschaften in anderen Ländern und schließlich doch nur graduell verschieden von der Situation, die selbst in Osteuropa bestand: dort wurde zwar die Zugehörigkeit von Juden zu einer anderen Kultur- und Sprachgemeinschaft als alltäglich und darum vielleicht „natürlich“ empfunden, aber die Existenz anderer assimilierter Juden und eine immer bestehende, wenn auch noch so stark modifizierte Forderung nach nationaler Homogenität ließen die Fremdartigkeit trotzdem zum Problem werden.65

      Wo der Jude weniger assimiliert ist als in Deutschland, liegt die Fragwürdigkeit mehr an der Oberfläche. Der Jude ist Neuankömmling oder der Nachkomme von Neuankömmlingen, er spricht oft die Landessprache gar nicht, schlecht oder mit Akzent, er hat ein anderes Aussehen, andere Sitten und Gewohnheiten als die Mehrzahl der Landesbewohner und zählt sich doch zu ihnen. Er ist Staatsbürger, Stadtbürger, erhebt die ihm daraus zustehenden Ansprüche, entwickelt auch nach und nach seine eigene Abart des landesüblichen Patriotismus. Aber das sind nicht die einzigen Rätsel, die die jüdische Existenz dem nichtjüdischen Betrachter aufgibt. Fast alle der früher erwähnten Tatsachen, die die jüdische Gruppe als besonders exponiert erscheinen lassen, enthalten auch scheinbare Paradoxien: Der Jude war in der mittelalterlichen Ständeordnung, deren Klassifizierung noch im Unterbewußtsein fortwirkt, der Niedrigste; aber er ist aufgestiegen und hat manche sichtbare Machtposition inne. Der Jude ist überall; aber er ist nirgends zu Haus, – so jedenfalls will es die ihm feindliche Propaganda, die ja ganz allgemein die Voraussetzung für das Bewußtwerden der erwähnten Widersprüche bildet. Der Jude glaubt an den gleichen Gott wie der Christ, aber er ist doch gerade auf diesem religiösen Gebiet durch Abgründe vom Christen geschieden. Christus war ein Jude, lebte und lehrte unter Juden; aber Juden haben ihn gekreuzigt. Jude sein heißt vornehmlich einer anderen religiösen Überzeugung anhängen; aber es gibt viele Juden, die gerade dadurch auffallen, daß sie keine wie immer geartete religiöse Überzeugung hegen, sondern die Reihen der Aufklärer, der Atheisten füllen. Die Juden werden als zweitrangig angesehen, man läßt sie zu intimen Freundeskreisen nicht zu; aber sie selbst halten sich für das von Gott erwählte Volk. Sie streben gegen Widerstände nach gesellschaftlicher Anerkennung durch die Nichtjuden; aber sie halten sich gleichzeitig zurück und beharren in selbstgewählter Abgeschlossenheit. Die Juden sind reich und hängen am Gelde; aber sie stellen sozialistische Führer, deren Programm es ist, den Kapitalismus zu stürzen. Die Juden sind radikal, sie sind prominent in allen fortschrittlichen Bewegungen; aber sie selbst halten im jüdischen Bereich an vielen offensichtlich längst überholten Tabus fest und bewahren merkwürdige jahrtausendealte Sitten.

      Alle diese Widersprüche bestehen. Aber sie bestehen nur für die Juden als Gemeinschaft, kaum je für das jüdische Individuum. Die Widersprüche erklären sich dadurch, daß die emanzipierten Juden nur