Название | Die Flucht in den Hass |
---|---|
Автор произведения | Eva Reichmann |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783863935634 |
4. Die Merkmale der jüdischen Bevölkerungsgruppe
Die Juden sind zwar nur eine Untergruppe unter den vielen Untergruppen der modernen Gesellschaft, aber sie weisen bestimmte Merkmale auf, die sie zum Ziel kollektiver Aggressivität geradezu prädestinieren. Die Juden sind nicht nur „anders“, sie können leicht als „Fremde“ hingestellt werden. Sie sind nirgends autochthon, und vor der Gründung des Staates Israel waren sie selbst im Lande ihrer nationalen Geschichte dem Vorwurf ausgesetzt, Eindringlinge zu sein. In der Diaspora jedenfalls sind sie überall „Eingewanderte“. Überall wird ihnen das Recht auf das Land von einer eingesessenen Mehrheit streitig gemacht; mag deren Anspruch auf Priorität auch mancherorts noch so umstritten sein, es genügt, daß er für die Gesamtheit den Schein des Rechts für sich hat.
Die Juden sind überall eine schwache Minderheit. Die Schwäche besteht nicht nur in dem Minderheitscharakter als solchem, sondern in ihrem Mangel an einem machtvollen Zentrum, durch das sie sich geschützt fühlen könnten, und das auch tatsächlich ihre Interessen wahrzunehmen imstande wäre. Schwäche aber kommt in dem psychischen Mechanismus der „Verschiebung“ geradezu einer Einladung zur Aggression gleich. Die Juden leben nahezu überall. Sie leben nicht nur in fast allen Ländern, sondern – im Stande der Emanzipation – auch in allen Landesteilen und – wenn auch ungleich verteilt – in fast sämtlichen Wohnorten. Die Ubiquität führt zu ständiger Berührung, lädt zu Vergleichen ein und erzeugt ein gefährliches Moment der Internationalität und Unbegrenztheit des Phänomens.
Die Juden stellen einen von den Mehrheitsvölkern mehr oder minder verschiedenen physiologischen Typ dar. Wenn sie auch nach dem Stande der zeitgenössischen Forschung keine Rasse sind, so bilden doch mindestens die aschkenasischen Juden eine durch Binnenheirat konservierte ethnische Gemeinschaft mit einer gewissen Ähnlichkeit des Typs. So wenig alle Juden diesen Typ repräsentieren, so gewiß ist er doch häufig genug, um zur Prägung eines Judentypus die äußeren Züge beizutragen. Daß der Typ dunkelhaarig ist, macht ihn nach Peter Nathan31 in einer vorwiegend hellhaarigen Umgebung für unangenehme Assoziationen besonders geeignet. Daß er noch teilweise die Züge einer jahrhundertelangen ungesunden Ghettoexistenz an sich trägt, hat zweifellos gleichfalls dazu beigetragen, ihn als hinter dem vorwiegend nordisch bestimmten Schönheitsideal zurückbleibend zu empfinden.
Die Juden weichen anderseits trotz ihrer Typdifferenz nicht in entscheidenden körperlichen Zügen, wie etwa dem der Hautfarbe, von ihrer Umgebung ab. Diese Tatsache gibt ihnen gerade den Grad der Ähnlichkeit und Nähe, der den Rest an Verschiedenheit – zumal, wenn er nur das körperliche Symbol anderweitiger Unterschiede ist – als besonders irritierend empfinden läßt. „Die Intoleranz der Massen“, sagt Freud32, „äußert sich merkwürdigerweise gegen kleine Unterschiede stärker als gegen fundamentale Differenzen.“33 Das gleiche Moment der Ähnlichkeit und Nähe bei gleichzeitiger Differenz ist in der religiösen Sphäre vorhanden. Judentum und Christentum haben einen wesentlichen Teil ihrer heiligen Schriften und ihres Ideengehalts gemeinsam. Aber sie trennt die für das Christentum zentrale Figur, die nicht nur von den Juden nicht anerkannt, sondern die – unendlich viel schlimmer – nach dem Zeugnis der christlichen Überlieferung von ihnen verschmäht und gekreuzigt worden ist. Der zum Gruppenhaß prädestinierende Charakter dieser religiösen Beziehung ist so stark, daß er lange Zeit hindurch den Judenhaß entscheidend begründete. Aber auch in den neueren Zeiten, in denen die soziale Bedeutung der Religion erheblich geschwächt ist, bewahrt ihre besondere Rolle in der Jugenderziehung ihr und damit den aus ihr abgeleiteten Gegensatzgefühlen einen hervorragenden Einfluß auf das unbewußte Seelenleben.
Das Moment der religiösen Geringschätzung auf der Seite der Christen wird wesentlich verschärft dadurch, daß die jüdische Selbsteinschätzung ihre vornehmste Rechtfertigung gleichfalls auf religiöser Ebene findet, nämlich in der jüdischen Überzeugung, das von Gott auserwählte Volk zu sein. Diese Überzeugung ist zwar keineswegs auf die Juden beschränkt. Sie kehrt in säkularisierter Form in jedem modernen Nationalismus wieder. Aber während man die nationale Selbsterhöhung eines Staates innerhalb seiner ihn unzweideutig bestimmenden Grnezen als die unvermeidliche Folge seiner normalen Existenz hinnimmt, wird der gleiche Vorgang als peinlich, ja unerträglich empfunden, wenn wir ihn in einer schwachen, kleinen, verachteten, sich um Anerkennung bemühenden Minderheitengruppe antreffen. Wenn alle Umstände demütige Unterwürfigkeit als die adäquate Haltung erwarten lassen, muß der Auserwähltheitsglaube als eine unziemliche Arroganz erscheinen. Es ist darum nicht zu verwundern, daß die Idee des „auserwählten Volkes“ in Spott und Zorn von Antisemiten aller Zeiten und Länder immer wieder den Juden entgegengeschleudert worden ist.34 Es ist eine der in unserm Zusammenhang so häufigen Paradoxien, daß die ursprünglich rein religiös determinierte jüdische Gruppe, deren Jahrtausende hindurch eigenwillig festgehaltene religiöse Eigenart auch heute noch das sichtbarste Unterscheidungsmerkmal bildet, sich nach der Emanzipation vielfach durch einen Mangel an Religion als Angriffsobjekt auszeichnet. In dem Phänomen der jüdischen Irreligiosität, wo immer es auftritt, liegt freilich nur eine scheinbare Paradoxie. In Wirklichkeit ist es durchaus verständlich, daß für einige Mitglieder einer Gruppe, die viele Jahrhunderte lang vorwiegend unter religiösen Vorwänden unterdrückt worden waren, auch nach der Emanzipation ihre religiöse Gruppenbesonderheit einen negativen Akzent behält, den sie in ihrem Streben, von der Mehrheit aufgenommen zu werden, loszuwerden versuchen. Wichtiger ist jedoch, daß die jüdischen Individuen in ihrer langsamen Lösung von den Bindungen ihrer Gruppe ganz allgemein mit den jüdischen Bindungen auch die allgemeinen Bindungen zu zersetzen tendieren. So wird mit der Befreiung aus den Fesseln der jüdischen Tradition leicht Tradition als solche abgelehnt; mit der Verleugnung jüdischer Werte fällt oft die Anerkennung jedes eindeutigen Wertsystems; mit dem Abfall von der jüdischen Religion kann die Ablehnung jeglicher Religiosität Hand in Hand gehen. Es ist dies ein Prozeß, der für den kulturellen Kontakt jedes „Fremden“ mit der Kultur des Landes seiner Niederlassung charakteristisch ist. Simmel35 wertet ihn durchaus positiv als Voraussetzung größerer Freiheit, Objektivität, Vorurteilslosigkeit, wenn er auch die darin liegenden Gefahren nicht übersieht.*
Der jüdischen Irreligiosität eng benachbart ist ein weiterer Faktor, der die jüdische Gruppe in den Vordergrund möglicher Gruppenantagonismen stellt, der jüdische Radikalismus. Ebensowenig wie die jüdische Irreligiosität ist er eine Eigenschaft der gesamten Judenheit oder auch nur eines erheblichen Teiles der Juden. Aber der Vorwurf der Radikalität ist eines der antisemitischen Standardthemen geworden; dieser Vorwurf blieb deshalb nicht ohne Resonanz, weil einige sehr sichtbare Repräsentanten auf verschiedenen Gebieten des politischen und kulturellen Radikalismus Juden waren. So sicher der Grund dafür in den oben angedeuteten Schwierigkeiten der kulturellen Angleichung liegt, also in einer Anpassungsetappe, die in sich selbst das Mittel zu ihrer Überwindung trägt, so gewiß muß eine