Die Flucht in den Hass. Eva Reichmann

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Название Die Flucht in den Hass
Автор произведения Eva Reichmann
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783863935634



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für das überdurchschnittlich aggressive Individuum geradezu eine Aufreizung zum Angriff dar. Zu der normalen Verneinung der „Anderen“ tritt die Versuchung, im offenen Kampf gegen die „Anderen“ nicht nur seine Aggressivität abzureagieren, sondern sich selbst als Wahrer hoher Ideale zu fühlen. Das Verlockende am Gruppenhaß ist nämlich die Leichtigkeit, mit der er „rationalisiert“ werden kann. Die Gruppenexistenz, die Gruppenhomogenität, die angebliche oder tatsächliche Bedrohung durch eine Nachbargruppe, der in der Gruppenbehauptung liegende Dienst an einer begrenzten Allgemeinheit, – alle diese Faktoren lassen sich überaus leicht idealisieren. Wenn man erlebt hat, wie aus der technischen Zweckmäßigkeit eines stenographischen Systems eine „Weltanschauung“ gemacht werden kann, ja mehr als das: ein moralisches Kriterium, an dem sich nicht nur „Dummköpfe“ von „Intelligenzen“, sondern auch „Bösewichter“ von ethischen Kapazitäten scheiden, dann ist man von der Brauchbarkeit schlechthin jedes Gruppenunterschiedes für die Abreaktion jedes Selbstbehauptungs- und Aggressionsbedürfnisses überzeugt. Gruppenliebe ist gesellschaftlich zulässige Selbstliebe, Gruppenhaß gesellschaftlich zulässige Aggressivität. Ja: beides wird nicht nur eben geduldet, sondern es kann unter Umständen geradezu verherrlicht werden als Aufopferung, Hingabebereitschaft und Todesmut.

       4. Die Merkmale der jüdischen Bevölkerungsgruppe

      Die Juden sind zwar nur eine Untergruppe unter den vielen Untergruppen der modernen Gesellschaft, aber sie weisen bestimmte Merkmale auf, die sie zum Ziel kollektiver Aggressivität geradezu prädestinieren. Die Juden sind nicht nur „anders“, sie können leicht als „Fremde“ hingestellt werden. Sie sind nirgends autochthon, und vor der Gründung des Staates Israel waren sie selbst im Lande ihrer nationalen Geschichte dem Vorwurf ausgesetzt, Eindringlinge zu sein. In der Diaspora jedenfalls sind sie überall „Eingewanderte“. Überall wird ihnen das Recht auf das Land von einer eingesessenen Mehrheit streitig gemacht; mag deren Anspruch auf Priorität auch mancherorts noch so umstritten sein, es genügt, daß er für die Gesamtheit den Schein des Rechts für sich hat.

      Die Juden sind überall eine schwache Minderheit. Die Schwäche besteht nicht nur in dem Minderheitscharakter als solchem, sondern in ihrem Mangel an einem machtvollen Zentrum, durch das sie sich geschützt fühlen könnten, und das auch tatsächlich ihre Interessen wahrzunehmen imstande wäre. Schwäche aber kommt in dem psychischen Mechanismus der „Verschiebung“ geradezu einer Einladung zur Aggression gleich. Die Juden leben nahezu überall. Sie leben nicht nur in fast allen Ländern, sondern – im Stande der Emanzipation – auch in allen Landesteilen und – wenn auch ungleich verteilt – in fast sämtlichen Wohnorten. Die Ubiquität führt zu ständiger Berührung, lädt zu Vergleichen ein und erzeugt ein gefährliches Moment der Internationalität und Unbegrenztheit des Phänomens.

      Die Juden stellen einen von den Mehrheitsvölkern mehr oder minder verschiedenen physiologischen Typ dar. Wenn sie auch nach dem Stande der zeitgenössischen Forschung keine Rasse sind, so bilden doch mindestens die aschkenasischen Juden eine durch Binnenheirat konservierte ethnische Gemeinschaft mit einer gewissen Ähnlichkeit des Typs. So wenig alle Juden diesen Typ repräsentieren, so gewiß ist er doch häufig genug, um zur Prägung eines Judentypus die äußeren Züge beizutragen. Daß der Typ dunkelhaarig ist, macht ihn nach Peter Nathan31 in einer vorwiegend hellhaarigen Umgebung für unangenehme Assoziationen besonders geeignet. Daß er noch teilweise die Züge einer jahrhundertelangen ungesunden Ghettoexistenz an sich trägt, hat zweifellos gleichfalls dazu beigetragen, ihn als hinter dem vorwiegend nordisch bestimmten Schönheitsideal zurückbleibend zu empfinden.

      Die Juden weichen anderseits trotz ihrer Typdifferenz nicht in entscheidenden körperlichen Zügen, wie etwa dem der Hautfarbe, von ihrer Umgebung ab. Diese Tatsache gibt ihnen gerade den Grad der Ähnlichkeit und Nähe, der den Rest an Verschiedenheit – zumal, wenn er nur das körperliche Symbol anderweitiger Unterschiede ist – als besonders irritierend empfinden läßt. „Die Intoleranz der Massen“, sagt Freud32, „äußert sich merkwürdigerweise gegen kleine Unterschiede stärker als gegen fundamentale Differenzen.“33 Das gleiche Moment der Ähnlichkeit und Nähe bei gleichzeitiger Differenz ist in der religiösen Sphäre vorhanden. Judentum und Christentum haben einen wesentlichen Teil ihrer heiligen Schriften und ihres Ideengehalts gemeinsam. Aber sie trennt die für das Christentum zentrale Figur, die nicht nur von den Juden nicht anerkannt, sondern die – unendlich viel schlimmer – nach dem Zeugnis der christlichen Überlieferung von ihnen verschmäht und gekreuzigt worden ist. Der zum Gruppenhaß prädestinierende Charakter dieser religiösen Beziehung ist so stark, daß er lange Zeit hindurch den Judenhaß entscheidend begründete. Aber auch in den neueren Zeiten, in denen die soziale Bedeutung der Religion erheblich geschwächt ist, bewahrt ihre besondere Rolle in der Jugenderziehung ihr und damit den aus ihr abgeleiteten Gegensatzgefühlen einen hervorragenden Einfluß auf das unbewußte Seelenleben.

      Der jüdischen Irreligiosität eng benachbart ist ein weiterer Faktor, der die jüdische Gruppe in den Vordergrund möglicher Gruppenantagonismen stellt, der jüdische Radikalismus. Ebensowenig wie die jüdische Irreligiosität ist er eine Eigenschaft der gesamten Judenheit oder auch nur eines erheblichen Teiles der Juden. Aber der Vorwurf der Radikalität ist eines der antisemitischen Standardthemen geworden; dieser Vorwurf blieb deshalb nicht ohne Resonanz, weil einige sehr sichtbare Repräsentanten auf verschiedenen Gebieten des politischen und kulturellen Radikalismus Juden waren. So sicher der Grund dafür in den oben angedeuteten Schwierigkeiten der kulturellen Angleichung liegt, also in einer Anpassungsetappe, die in sich selbst das Mittel zu ihrer Überwindung trägt, so gewiß muß eine