Название | Die Flucht in den Hass |
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Автор произведения | Eva Reichmann |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783863935634 |
Wir sind in der vorstehenden Aufzählung der Faktoren, die die jüdische Gruppe zu einem besonders geeigneten Angriffsobjekt machen, absichtlich von außerwirtschaftlichen Faktoren ausgegangen, obgleich oder weil die wirtschaftlichen Faktoren Erklärungen von besonderer Durchschlagskraft liefern. Es ist die Absicht der gewählten Reihenfolge, zu zeigen, wie stark die Entstehung des Antisemitismus durch die besondere Stellung der jüdischen Gruppe begründet ist, schon bevor wir wirtschaftliche Momente zu seiner Erklärung heranziehen. Berücksichtigen wir schließlich diese und machen wir uns gleichzeitig klar, welche beherrschende Rolle sie in der modernen, auf Erwerb und Macht gerichteten Gesellschaft spielen, so wird an dem Phänomen des latenten Antisemitismus kaum noch ein unerklärlicher Rest zurückbleiben. Er wird vielmehr in der Tat, wie J. F. Brown37 ausführt, als im psychologischen Sinn „überbestimmt“ gelten müssen.
Der englische Historiker und Geschichtsphilosoph Professor Arnold J. Toynbee38 untersucht in seinem Kapitel „Herausforderung und Antwort“ die Gesetzmäßigkeiten, nach denen sich Herausforderungen physischer oder menschlicher Art in positive Antriebe umsetzen. Nachdem er das von ihm formulierte Gesetz „je stärker die Herausforderung, desto stärker der Antrieb“ durch ein „Gesetz des Ausgleichs“ abgewandelt hat, derart, daß auf dem gleichen Gebiet, auf dem die Herausforderung erfolge, auch ein Ausgleich Platz greife, sagt er39: „ … wir fanden unser ‚Gesetz des Ausgleichs‘ wieder am Werk bei dem ausgeprägtesten Beispiel von ‚Herausforderung und Antwort‘ auf menschlichem Gebiete, das man sich vorstellen kann: dem Beispiel der jüdischen Diaspora“. Er sieht den Ausgleich in folgendem40: „Die Notwendigkeit, sich in einer feindlichen Umwelt zu behaupten, hat die Juden der Diaspora nicht nur zur Rührigkeit angetrieben. Sie hat sie auch in verschiedenartigen nichtjüdischen Ländern und in vielen aufeinanderfolgenden Zeitaltern fähig gemacht, ihren Platz im Waren- und Geldhandel zu finden und sich ihren Anteil am goldenen Strom des Wirtschafts- und Finanzverkehrs zu sichern …“ Toynbee sieht demzufolge in der Placierung der Juden in Handel und Geldwirtschaft das direkte und folgerichtige Ergebnis der Zurücksetzung (discrimination), der die Juden in so besonderem Maße ausgesetzt waren. In ähnlicher Weise nennt der deutsche Soziologe Georg Simmel41 die Geschichte der europäischen Juden das klassische Beispiel dafür, daß der Handel „das indizierte Gebiet für den Fremden“ ist, weil er immer noch mehr Menschen aufnehmen könne als die primäre Produktion. Wir haben die Tatsache der disproportionalen jüdischen Berufsschichtung bereits erwähnt und auch kurz angedeutet, wie sie aus ihrer wirtschaftlichen Ausgangssituation im Geldgeschäft und Kleinhandel folgerichtig hervorging. Es kommt uns hier darauf an, zu zeigen, daß in dieser Schichtung ein weiteres Moment enthalten ist, das die jüdische Gruppe in eine besondere Gefahrenzone rückte.
Ob eine ursprüngliche Neigung, ob die Lage Palästinas an einem Schnittpunkt wichtiger Karawanenstraßen, ob die Zerstreuung unter Beibehaltung einer gemeinsamen Sprache und eines gemeinsamen Rechtes den frühesten Hinweis der Juden auf eine Betätigung im Handel enthielt, braucht hier nicht untersucht zu werden. Es ist anzunehmen, daß verschiedenartige Bedingungen nach der gleichen Richtung wirkten, so daß schließlich der Zwang der mittelalterlichen Machthaber, die die Juden aus religiösen und wirtschaftlichen Gründen auf Geldgeschäft und Kleinhandel beschränkten, nur eine schon bestehende Tendenz verstärkte. Es kommt hier auch nicht darauf an, daß Juden vorübergehend in einzelnen Ländern, so in Spanien und Südfrankreich42 eine prominente Stellung in vielen Zweigen des Handwerks behaupteten, und daß hier und dort Juden auch in der Landwirtschaft zu finden waren; derartige Berufszweige waren im Verhältnis zu der allgemeinen jüdischen Erwerbstätigkeit vom Beginn der Diaspora bis zur neuesten Zeit immer nur zusätzlich, immer nur die Ausnahmen43. Grundsätzlich etwas anders lagen die Verhältnisse nur in Osteuropa und vor allem in Polen, wo es eine beträchtlichere Zahl von jüdischen Handwerkern gab. Aber obgleich dort sogar jüdische Zünfte existierten, die mit den christlichen Zünften in Konkurrenz traten oder sich mit ihnen über ihren Kundenkreis einigten44, waren die Juden doch auch da überwiegend Händler; sie stellten außerdem einen übergroßen Anteil zu Berufen wie denen der Schankwirte und Zwischenpächter45. Teilweise war hier die Not so groß, daß die Juden keinen festen Beruf ausübten, sondern bald Lehrer, bald Händler, bald Arbeiter waren, – nach einem Wort von Max Nordau: Luftmenschen. Auf diese Gebiete also treffen die Folgerungen, die aus der Massierung der Juden im Handel und vor allem die, die aus der sichtlichen Rentabilität ihrer Gewerbe weiter unten gezogen werden, nur mit Einschränkung zu. Trotzdem fallen auch sie unter das allgemeine Charakteristikum, daß die Juden von der Urproduktion des Ackerbaues so gut wie ausgeschlossen waren, und daß solche Individuen, denen es gelang, sozial aufzusteigen, wiederum in Handel, Geldwirtschaft und gewissen noch zu erörternden Industrien eine disproportionale Prominenz erlangten.
Nun gehört aber der Handel und in noch viel stärkerem Maße das Geldgeschäft im Bereich der wirtschaftlichen Funktionen einer relativ späten Stufe an. Zuerst waren Landwirtschaft und Handwerk da, und erst mit zunehmender Ausweitung, Arbeitsteilung und Unübersichtlichkeit der wirtschaftlichen Tätigkeit wurde die Vermittlungstätigkeit zu einem selbständigen Erwerbszweig. Sie hat den Makel dieses sekundären und im Verhältnis zur Güterproduktion abstrakten Charakters niemals überwinden können, lief eingewurzelt im menschlichen Bewußtsein ist die Idee, daß man einmal in früheren Zeiten auch ohne den Handel ausgekommen sei, und daß – anderseits – der Handel unproduktiv sei, die Waren unnötig verteuere, ihren Wert aber nicht erhöhe46. Uns geht der volkswirtschaftliche Fehler in dieser Auffassung nichts an, und wir haben hier nicht mit ihr zu rechten. Wichtig für uns ist ihre weite Verbreitung und ihre Volkstümlichkeit. Zwar schwankt die Bewertung des Handels in den verschiedenen Ländern; sie ist in England zweifellos erheblich höher als in Deutschland. Hier jedenfalls, wo selbst in Zeiten der Kommerzialisierung das Heer und die Bürokratie den Handelsberuf in seiner sozialen Schätzung niederhielten, ist seine Minderbewertung bis in unsere Tage hinein allgemein. Deshalb konnte die nationalsozialistische Unterscheidung zwischen „raffendem“, nämlich Handels- und Finanz-, und „schaffendem“, nämlich industriellem Kapital und Grundbesitz eine politische Parole von sicherer Wirkung werden.
In noch größerem Maße aber besteht eine Geringschätzigkeit, ja eine Abneigung gegen alles, was mit dem reinen Geldgeschäft zusammenhängt, handle es sich um Geldverleihen gegen Pfänder und Zinsen oder um komplizierte bank- und börsenmäßige Transaktionen. Hier ist der Zusammenhang mit der Produktion von Konsumgütern noch weniger sichtbar, da es sich nicht einmal mehr um ihre Verteilung, sondern um die Vermittlung des abstrakten Ausdrucks der Kaufkraft, des Geldes, handelt. Der auf diese Weise erzielte Verdienst erscheint noch ungerechtfertigter, ja geradezu unmoralisch. Buchführung und Geldzählen werden noch nicht einmal in dem Sinne als Arbeit gewertet, in dem man Lagerhaltung, Einkauf und Verkauf von konkreten Waren allenfalls noch dafür gelten läßt. Es ist kein Zufall, daß nicht nur die jüdische Lehre und die katholische Kirche das Zinsennehmen einschränkten oder verboten, sondern daß kaum eine andere wirtschaftliche Funktion sich im Laufe ihrer Entwicklung eine so fortwährende Reglementierung gefallen lassen mußte wie diese. Dazu kommt, daß gerade in diesem moralisch stigmatisierten, ebenso verhaßten wie unentbehrlichen Erwerbszweig wie nirgends sonst die Entscheidung über Rettung oder Vernichtung des wirtschaftlichen Kontrahenten in der Willkür dessen zu liegen scheint, der ihn ausübt. Gerade in diesem Erwerbszweig war es den Juden bestimmt, eine so wichtige Rolle zu spielen, daß sie ihrer Identifizierung mit dem Geldgeschäft gleichkam. Aber die verhängnisvolle Rolle des Geldgeschäfts beschränkt sich nicht auf seine Unbeliebtheit. Es gibt auch andere Berufe, die verschmäht und verdächtig sind, und deren Ausübung trotzdem eher Mitleid als moralische Entrüstung auslöst. Was im Gegensatz zu diesen das Geldgeschäft vollends verhaßt macht, ist seine relativ hohe Rentabilität. Diese Rentabilität allerdings entspricht zu einem entscheidenden Teile einer Art optischer Täuschung: man sah in den Zeiten, als etwa die Juden durch Geldausleihen Reichtümer ansammelten, nur diese verhältnismäßig schnell Reichgewordenen und war geneigt, die vielen anderen, die zu allen Zeiten auf Grund ihrer angehäuften Reichtümer ausgeraubt und des Landes verwiesen wurden, zu übersehen. Tatsächlich nämlich stellten die relativ hohen Gewinne der erfolgreichen Geldausleiher im wesentlichen