Die Flucht in den Hass. Eva Reichmann

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Название Die Flucht in den Hass
Автор произведения Eva Reichmann
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783863935634



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die Beziehungen teilweise noch nicht durch Konkurrenzfurcht und Vorurteile getrübt. Aber als gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts infolge des allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwungs und der spezifisch jüdischen Neigungen eine erhebliche Zahl von Juden in die genannten Berufe einströmte, wurde die Abwehr allgemeiner; sie wurde als eine Abwehr von Gruppe zu Gruppe empfunden und begann allenthalben, sich vorgeschobener Gründe zu bedienen.

      So wenig daran gezweifelt werden kann, daß zwischen der Zahl der in einer nichtjüdischen Gesellschaft vorhandenen Juden und der Stärke der Abwehrreaktion gegen sie ein Zusammenhang besteht, so wenig kann dieser Zusammenhang etwa in einem bestimmten Zahlenverhältnis ausgesagt werden. Absorptionsfähigkeit und Sättigungsgrad schwanken vielmehr je nach Art und Umständen so stark, daß ein Versuch, die Grenze etwa bei 4 % anzunehmen24, als äußerst gewaltsam angesehen werden muß. Einer der Gesichtspunkte, nach denen die Absorptionsfähigkeit einer nichtjüdischen Gruppe sich bemißt, ist der Grad ihrer eigenen inneren Bindung. Wo die Bindung am losesten ist, wie etwa in einem städtischen Wohndistrikt, wird die Absorptionsfähigkeit gegenüber jüdischen Mitbewohnern hoch sein; wo die Bindung enger ist, wie in einem Wirtschaftsverband, und noch enger, wie in einem Freundeskreis, ist die Absorptionsfähigkeit jeweils geringer. Die Aufnahmefähigkeit richtet sich ferner nach dem Grade des wirtschaftlichen Wohlstandes, also nach dem Maße der Konkurrenzbefürchtungen. Sie verringert sich bei niedergehender Konjunktur und wird in einer Krise so gering, daß die Tendenz besteht, selbst gut eingeordnete Angehörige einer Untergruppe wieder auszuschalten, sofern nur scheinbar objektive Gründe dafür gefunden werden können. Ein weiterer Faktor ist das Tempo, in dem die jüdische Eingliederung stattfindet. Eine langsame und gleichmäßige Eingliederung ist imstande, die Sättigungsgrenze hinaufzuschieben, während ein schnelles, plötzliches Eindringen zu vorzeitigen Abwehrreaktionen führen kann. Schließlich darf auch der Fremdheitsgrad zwischen Juden und Nichtjuden nicht übersehen werden.

      Es war der Zweck der vorstehenden Ausführungen, der Auffassung entgegenzutreten, als ob man dem Antisemitismus den Charakter eines ernsten gesellschaftlichen Problems nehmen könne, indem man ihn unter den Oberbegriff der Gruppenfeindschaft bringt. Es ist nicht so, daß mit der Verlegung des Konfliktzentrums von der gesellschaftlichen ausschließlich auf die psychologische Ebene dem Problem Genüge geschieht. Neben dem Bedürfnis der Mehrheit nach Aggression und Selbstbestätigung, das in der Minderheit ein erwünschtes Ventil findet und sich fälschlich mit Eigenschaften der Minderheit begründet, ist es das Nebeneinanderexistieren von Gruppen selbst, das objektive Spannungen hervorruft. Die neuerdings stark im Vordergrund der Diskussion stehende Behauptung jüdischer Autoren, daß der Antisemitismus mit den Juden überhaupt nichts zu tun habe, ist fast ebenso einseitig wie die der Antisemiten, daß die Juden allein am Antisemitismus schuld seien. Es ist zum Beispiel verständlich, daß in der Frühzeit der Emanzipation die Mehrheit auf ein Überleben der aus der Voremanzipation herrührenden doppelten Moral der Minderheit gegenüber der Innen- und der Außengruppe feindlich reagiert; es handelt sich dagegen um ein anderes Phänomen, wenn in der Spätzeit der Emanzipation, in der die doppelte Moral längst verschwunden ist, ihr Fortbestand weiter behauptet wird, damit auf diese Weise ein wirksames Schlagwort für Boykottparolen geschaffen wird. Wir werden auf das jeweils verschiedene Mischungsverhältnis zwischen „echten“ und „unechten“ antisemitischen Motiven bald näher zu sprechen kommen.

      Die objektiven Spannungen haben die Tendenz, sich mit einem Nachlassen der Gruppenunterschiede zu vermindern, und hören langsam auf, von sich aus das gesellschaftliche Gleichgewicht zu stören. Völlig verschwinden aber könnten sie nur bei einem Verschwinden des jüdischen Gruppencharakters, also bei einem Aufhören der jüdischen Existenz. Die Existenz von Gruppenspannungen, sei es auch in noch so geringem Maße, also die Existenz einer objektiven Judenfrage ist mit der Existenz von jüdischen Gruppen, das heißt mit der Existenz von Juden untrennbar verbunden.

       3. Die subjektive oder „unechte“ Judenfrage

      Die Judenfrage, wie sie sich uns empirisch darstellt, reicht allerdings weit über den Kern dieser objektiven Judenfrage hinaus. Bei aller ihrer schon erwähnten Einseitigkeit ist die Auffassung, der Antisemitismus erkläre sich aus den subjektiven Eigenschaften des Antisemiten, ein gewaltiger Fortschritt gegenüber der früher herrschenden Gewohnheit, die für den Antisemitismus geltend gemachten Begründungen mehr oder minder mit seinen wahren Ursachen zu identifizieren. Man hatte sich aufgrund dieser Gewohnheit vorher bemüht, zu beweisen, daß die vorgebrachten Gründe in den Tatsachen keine oder nur eine ungenügende Stütze fänden, und meinte damit dem Antisemitismus wirksam begegnet zu sein. Nun ist zwar die Zurückweisung und Widerlegung falscher Behauptungen in der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus ganz gewiß nicht entbehrlich, aber diese Art der Apologetik allein genügt keineswegs. Die neue psychosoziologische Erklärung des Antisemitismus25 versuchte nun zu beweisen, daß das Wesen und Verhalten der Juden mit dem Antisemitismus überhaupt nichts zu tun hätte, und daß es darum nicht nur gleichgültig sei, was die Antisemiten darüber sagten, sondern auch, wie die Juden darauf reagierten. Der Antisemitismus entspringe einem Haß,- Aggressions- und Selbstbestätigungsbedürfnis der nichtjüdischen Umwelt, das sich nur mehr oder minder zufällig gegen die Juden wende. Er sei daher von den Juden schlechterdings nicht zu beeinflussen, es sei denn durch Beseitigung des Kontaktes, also durch völlige Absonderung.

      Freud sieht in dem gesamten Zivilisationsprozeß eine Zurückdrängung primärer menschlicher Triebe, die zwar vorübergehend oder dauernd gelingen kann, der Existenz der Triebe selbst jedoch kein Ende macht.26 Der Verdrängungsprozeß wird außerdem nur mit großer Anstrengung zustandegebracht und führt häufig zu nervösen Störungen oder charakterlichen Mißbildungen. Zur Überwindung des Aggressionstriebes mußte etwa ein so ungeheuer machtvoller Apparat wie die in einer völligen Umkehrung menschlicher Instinkte gipfelnde Moral des Christentums in Bewegung gesetzt werden.27 Diese radikale Entfernung von der ursprünglichen menschlichen Natur führt ihrerseits wieder zu einer übermäßigen Belastung des Ich und somit zu neuen Konflikten. „Wie gewaltig muß das Kulturhindernis der Aggression sein“, ruft Freud schließlich aus28, „wenn die Abwehr desselben ebenso unglücklich machen kann wie die Aggression selbst!“

      Wie die Fortschritte der menschlichen Gesittung ungünstig auf die menschlichen Triebe wirken und zu ihrer schmerzhaften Zurückdrängung nötigen, so ist auch innerhalb dieses größeren Rahmens im täglichen Leben an Leid, Schmerz und fortgesetzten Enttäuschungen kein Mangel. Diese Unlustgefühle aber setzen sich wiederum in Angriffslust um29, wobei es keine Rolle spielt, ob man wie Freud den Aggressionstrieb als etwas Primäres oder ihn wie Suttie30 als durch unerfüllte Liebe entstanden ansieht. Für unsere Zwecke genügt die Erkenntnis, daß er in erheblichem Maß vorhanden ist, daß die Gesellschaft ihn jedoch mißbilligt, und daß er aus diesem Grunde nach Auswegen sucht, die nach den herkömmlichen Moralauffassungen zulässig sind. Es ist nämlich darauf hinzuweisen, daß zwischen der Ursache der Unlust und dem Objekt der Angriffslust kein Zusammenhang zu bestehen braucht und in der Tat nur selten besteht; im Wege der von der Psychologie erforschten psychischen Mechanismen wie Verschiebung und Rationalisierung richtet sich vielmehr die Angriffslust mit dem gleichen Entspannungseffekt gegen an der Erregung der Unlust völlig unbeteiligte Objekte (Verschiebung), gegen die nachträglich Angriffsgründe konstruiert werden, die den Angriff vor dem eigenen Selbstgefühl moralisch vertretbar erscheinen lassen (Rationalisierung).

      Geht man aber einmal von dem im Individuum gleichsam freischwebenden und nach Entladung strebenden Aggressionstrieb und von einem akuten Gruppengegensatz aus, so wird es alsbald begreiflich, daß jener in diesem ein bevorzugtes Ventil findet. Muß, wie wir oben