Die Flucht in den Hass. Eva Reichmann

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Название Die Flucht in den Hass
Автор произведения Eva Reichmann
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783863935634



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dann von Zeit zu Zeit der vorsichtigen und indirekten Förderung durch die Regierung.

      Der Antisemitismus selbst ist vielleicht hie und da das Motiv für die öffentliche Tätigkeit einzelgängerischer Heißsporne; wo jedoch die Judenfrage in die ernste Politik einbezogen wird, dient sie hauptsächlich als Tarnungsmittel. Auch damit wird ihre Bedeutung als ein ernsthaftes gesellschaftliches Problem entwertet, zugleich aber wird bemerkenswert deutlich, daß ein Aufrollen der Judenfrage beim Bemühen, latente Unlustgefühle in zweckdienliche Kanäle zu leiten, nahezu immer Erfolg verspricht. Allerdings ist dieser Erfolg von der Summe der „echten“ und „unechten“ Motivationen abhängig, die in einer bestimmten Epoche vorliegen. Waren in der Gegen-Emanzipationszeit die „echten“ relativ stark, die „unechten“ nicht eben knapp, wogegen eine bewußte politische Ausnützung des Antisemitismus noch wenig ausgebildet war, so liegen in der Stoecker-Zeit weit weniger „echte“, dafür um so mehr „unechte“ Motive vor, die sich aus der latenten sowohl, als auch aus der akuten Krise ergeben; noch dazu wird der Antisemitismus zu anderweitigen politischen Zwecken sehr bewußt ausgenutzt.

      Wie sah dieses Verhältnis in der Zeit des nationalsozialistischen Antisemitismus aus? Es wird im vierten Teil dieses Buches noch des Näheren darzulegen sein, daß im 20. Jahrhundert in Deutschland nur noch von Restbeständen einer „objektiven Judenfrage“ gesprochen werden konnte. Gewisse berufliche, wohnortsmäßige und politische Unausgeglichenheiten bestanden zwar noch fort, aber sie hätten in sich niemals den Anlaß für einen scharfen Massen-Antisemitismus gegeben. Selbst der Spannungsgehalt, der dem politischen Hervortreten einiger radikaler Juden in revolutionären Episoden und ihrem Auftreten in der hohen Beamtenschaft innewohnte, das durch ihre Vollemanzipation ermöglicht worden war, hätte nicht ausgereicht. Um so mehr Gewicht haben zu dieser Zeit die beiden anderen Faktoren, die wir zum Entstehen einer antisemitischen Volksbewegung als notwendig erkannt haben: die „unechten“, aus der deutschen Nachkriegs- und Weltwirtschaftskrise geborenen subjektiven Unlustgefühle und das bewußte Ausnutzen des Antisemitismus zum Erreichen anderweitiger politischer Zwecke: zum Sturz der Weimarer Republik und zur Übernahme der politischen Macht.

      Wir kommen damit zu dem Ergebnis, daß im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts die von der Judenfrage ausgehenden objektiven gesellschaftlichen Spannungen sich ständig vermindert haben; daß aber zur gleichen Zeit kollektive Unlustgefühle, die aus anderen Quellen herrührten, sowohl chronisch – durch die Komplikationen des industriellen Wirtschaftssystems – als auch akut – infolge von Konjunkturkrisen – zunahmen. Politischen Führern, die die Brauchbarkeit antisemitischer Methoden zum Erreichen anderweitiger politischer Zwecke erkannten, gelang es mit bemerkenswertem Erfolg, die subjektiven Unlustgefühle breiter Bevölkerungskreise in das sich zwar ständig verflachende, aber doch noch immer vorhandene Strombett des jüdisch-nichtjüdischen Gruppengegensatzes hineinzuleiten.