Название | Die Flucht in den Hass |
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Автор произведения | Eva Reichmann |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783863935634 |
Aus einer solchen irrigen Denkgewohnheit des Verallgemeinerns, die von der Propaganda noch zweckvoll unterstützt wird, wächst ein dauerndes Nichtverstehen der jüdischen Handlungsweise; aus diesem Nichtverstehen erwächst ein Unbehagen, und aus dem Unbehagen gegenüber einem Geheimnisvoll-Unverständlichen folgt schließlich die Bereitwilligkeit, auch eine noch so unwahrscheinliche „Erklärung“ als wahr zu unterstellen. Wir werden diesem Unbehagen als Vorbereitung zur Übernahme aller möglichen Irrlehren noch häufig begegnen.
Die zunehmende Unauffälligkeit der Juden hat im allgemeinen die Bereitwilligkeit der Nichtjuden, sie als ihresgleichen anzusehen, entscheidend gefördert. An dieser Feststellung wird nichts geändert, wenn darauf hingewiesen werden muß, daß gerade die offenbare Ähnlichkeit des jüdischen Nachbarn, die in ruhigen Zeiten die genannten Widersprüche nicht ins Bewußtsein treten läßt, unter bestimmten Voraussetzungen zu einem Problem werden konnte. Diese Voraussetzung freilich muß gewissermaßen von außen in das jüdisch-nichtjüdische Verhältnis hineingetragen werden, denn nur so kann die fortgeschrittene nachbarliche Normalität künstlich zu einer scheinbaren Anomalie werden. Wenn das aber wirksam geschieht, wenn eine aus anderen Quellen sich nährende systematische Judenhetze sich aufnahmewilliger, labiler Gemüter bemächtigt, dann kann die bis dahin obwaltende menschliche Nähe zum jüdischen Nachbarn dem neu erweckten Mißtrauen gegen ihn noch eine besondere Note hinzufügen.
In einer Studie erklärt Freud die Entstehung eines Gefühls des „Unheimlichen“66 so: Es gebe gewisse übernatürliche Dinge wie Allmacht von Gedanken, eine geheime Macht, Böses zu tun, Wiederkehr von Toten und so weiter, woran früher einmal wir selbst oder unsere primitiven Ahnen geglaubt haben. Später haben wir denn diesen Glauben aufgrund überlegener Einsichten als Aberglauben abgetan. Aber ganz sicher haben wir uns imgrunde bei unserer neuen Überzeugung nie gefühlt; und sobald etwas geschieht, was unsern alten Glauben zu bestätigen scheint, empfinden wir das als „unheimlich“. Um eine ähnliche Erscheinung handelt es sich auch in unserem Falle; und genau an dieser Stelle dürften die Ergebnisse einer anderen Untersuchung67 ihre adäquate Einordnung finden. In diesem Buch wird reichhaltiges Material beigebracht über den im Mittelalter weit verbreiteten Glauben, daß der Jude der eingefleischte Teufel sei. Im Zuge der Aufklärung und dem alltäglichen Augenschein der Gegenwart ist diese Meinung weithin verschwunden, aber ähnlich, wenn auch nicht im gleichen Grade68 wie beim psychischen Mechanismus der Verdrängung, haben solche überwundene Stadien die Tendenz, wieder zum Vorschein zu kommen. Werden sie nun, wie es durch intensive judenfeindliche Propaganda geschehen ist, künstlich wieder zum Leben erweckt, so entsteht das Gefühl des Unheimlichen, ganz wie wenn eine Zigeunerin ein Kind durch den „bösen Blick“ „krankmacht“ oder etwa eine vermeintliche Begegnung mit einem Toten stattfindet. Der „überwundene“, ins Unterbewußtsein verdrängte Aberglauben scheint sich zu bestätigen; und gerade weil wir doch so genau wußten, daß es ein Aberglauben ist, weil der jüdische Nachbar Cohn genauso spricht, sich kleidet und sich benimmt wie wir, gerade deshalb besitzt diese plötzliche Bestätigung alle Züge des Unheimlichen. Wir können nicht umhin, vor der List, vor der Verstellungskunst des Teufels zu erschauern, wenn wir erfahren, daß der harmlose Nachbar Cohn eben doch ein unheimliches Wesen ist. Für diesen Effekt spielt es keine Rolle, ob sich eine Teufelsnatur in Raffgier oder in der Teilnahme an politischen Umsturzplänen, Welteroberungswünschen und ähnlichen zerstörerischen Machenschaften offenbart. Allerdings wird der gesamte Ablauf einer solchen Reaktion nur in Ausnahmefällen eintreten. Nur wo das seelische Gleichgewicht schwer gestört ist, wird sich tatsächlich der harmlose Nachbar in einen leibhaftigen Teufel verwandeln. Wir halten daran fest, daß die Gewohnheit des täglichen Augenscheins sich viel häufiger dahin auswirkt, daß die antisemitischen Märchen nicht geglaubt werden. Immerhin ist die menschliche Psyche zu kompliziert, als daß nicht zwischen radikaler Abwehr gegen die Teufelslegende und ihrer Annahme zahlreiche Übergangsstadien möglich wären. Sie werden besonders dann eintreten, wenn in Massenversammlungen und sogenannten Schulungskursen das seelische Gleichgewicht unmittelbar angegriffen worden ist. In solchen Fällen kann ein plötzliches Irrewerden an dem bisher für wahr gehaltenen Bild des Juden leicht dazu führen, daß einige Etappen des Weges, den Freud beschreibt, zurückgelegt werden, sei es nun, daß sie nur bis zu einem leichten Mißverständnis oder zu einem konkreten Aberglauben reichen.*
6. Psychische Wirkungen der Krise
Nachdem wir zu zeigen versucht haben, aus welchen Gründen die jüdische Gruppe sich in besonderer Gefahr befindet, latente gesellschaftliche Unlustgefühle und Feindseligkeit auf sich zu lenken, wollen wir nun die Entstehung menschlicher Aggressivität in ihrer sozialpsychologischen Bedeutung darzustellen versuchen. Dazu bedarf es einer methodologischen Vorbemerkung:
Soweit wir bisher objektive und subjektive Gründe für Gruppenspannungen erörtert haben, handelte es sich in dem einen Fall um rein gesellschaftliche, in dem anderen um rein psychologische Tatbestände. Wir werden es im folgenden mit einem Phänomen zu tun haben, in dem gesellschaftliche Voraussetzungen bestimmte psychologische Wirkungen erzeugen, einem Phänomen also, das beiden Gebieten zugleich angehört oder auf der Grenze zwischen ihnen liegt. Die Frage, wie weit Soziologie und Psychologie einander zu befruchten vermögen, ist noch weitgehend ungeklärt. Es besteht zwar ein verbreiteter Wunsch nach Zusammenarbeit in beiden Disziplinen, aber es liegen bisher nur wenige geglückte Versuche vor, den methodischen Weg zu einer solchen gegenseitigen Ergänzung zu bahnen. Selbst ein so verdienstvolles Symposion wie das dem Problem gewidmete Sonderheft des American Journal of Sociology69 legt eher Zeugnis ab für die Ungeklärtheit der Frage, ja für das Widerstreben, seine Forschungsmethoden durch Prinzipien durchkreuzen zu lassen, die der eigenen Disziplin fremd sind, als für das rückhaltlose Streben nach einer Unterstützung von „außen“ her. Insbesondere sind Psychologen nur selten geneigt, ihr ausschließlich auf die Diagnose des Einzelfalles gerichtetes Interesse durch soziale Verallgemeinerungen zu beschweren. Eine bemerkenswerte Ausnahme macht Karen Horney70, die in ihren Arbeiten jenen Faktoren nachgeht, die beim Entstehen von Neurosen auf alle Mitglieder eines Kulturkreises in gleicher Weise wirken. Auch Franz Alexander71 unternimmt einen brauchbaren Vorstoß ins psycho-soziologische Grenzgebiet, wenn er ausführt, daß ungeachtet aller individuellen Sonderheiten eine bestimmte gesellschaftliche Situation, wie etwa die gemeinsame Situation aller Arbeitgeber, aller Arbeitnehmer oder aller Bauern bestimmte gemeinsame Züge in allen Angehörigen der entsprechenden Schicht entstehen läßt. In ähnlicher Weise unterscheidet Erich Fromm72 zwischen „individuellem“ und „sozialem Charakter“. „Der soziale Charakter“, erklärt er, „umfaßt nur eine Auswahl von Zügen, nämlich diejenigen, die den meisten Mitgliedern einer Gruppe gemeinsam sind und die sich aufgrund der gemeinsamen Erlebnisse und der gemeinsamen Lebensweise dieser Gruppe entwickelt haben.“
Wir übernehmen den Begriff dieses „Gesellschaftscharakters“ unter ausdrücklicher Ablehnung der Erweiterung, die Fromm ihm später zuteilwerden läßt. Dort nämlich sagt Fromm: „Deckt sich der Individualcharakter einigermaßen mit dem Gesellschaftscharakter, so wird der Betreffende durch die in seiner Persönlichkeit überwiegenden Triebe dazu veranlaßt, das zu tun, was unter den besonderen