Название | Die Flucht in den Hass |
---|---|
Автор произведения | Eva Reichmann |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783863935634 |
Während der verschiedenen Phasen der Geschichte der Emanzipation in Deutschland waren objektive und subjektive oder „echte“ und „unechte“ Gründe des Antisemitismus in jeweils verschiedenem Grade und Mischungsverhältnis vorhanden. Nicht einmal in der Frühzeit der Emanzipation, also in einer Zeit, in der die beginnende Gleichberechtigung einer weitgehend fremden jüdischen Gruppe durchaus ein gesellschaftliches Problem darstellte, hat dieser objektive Tatbestand ausgereicht, um zu einer antisemitischen Bewegung zu führen. Immer bedurfte es noch anderer, besonders wirtschaftlicher Gründe und zumeist auch einer zielbewußten Lenkung der aus diesen anderen Problemen herrührenden subjektiven Faktoren in den latenten Gruppengegensatz, um eine antisemitische Stimmung in breiteren Kreisen zu erzeugen. In den meisten Fällen ist die antisemitische Propaganda die Voraussetzung für eine Umwandlung subjektiver in vermeintlich objektive Spannungselemente. Aber kaum je erschöpft sich ihre Funktion in dem Kampf gegen die Juden. Nahezu jeder antisemitische Publizist und Propagandist verfolgt außer antisemitischen noch andere politische Ziele, die er glaubt, in Verbindung mit den antisemitischen wirksamer vertreten zu können. Daraus geht hervor, daß selbst für den erklärten Antisemiten die Bedeutung der Judenfrage allein nicht ausreicht, um den einzigen Inhalt seines politischen Kampfes zu bilden. Wir werden einige charakteristische Episoden des deutschen Antisemitismus kurz und schematisch daraufhin analysieren, welche Rolle in jeder die „echte“ Judenfrage spielt und in welchem Maße sich darin „unechte“, dem jüdischnichtjüdischen Gruppengegensatz fremde Elemente zeigen.
Der Antisemitismus der Gegen-Emanzipation 1815-1819 kämpft gegen die Juden als Staat im Staat.* Der Philosoph Jakob Fries74 erklärt, die Juden seien 1. eine eigene Nation, 2. eine politische Verbindung, 3. eine Religionspartei, 4. eine Makler- und Trödlerkaste. J. G. Fichte, von dem der Vorwurf ausgeht, daß die Juden einen Staat im Staate bilden, erhebt ihn zwar gegen mehrere andere Gemeinschaften, besonders das Militär, in gleicher Weise und rechtfertigt gleich- zeitig die Existenz solcher „Staaten im Staate“ vom naturrechtlichen Standpunkt aus75; aber es besteht doch kein Zweifel, daß der Bestand einer Gemeinschaft, die Züge eigener Staatlichkeit aufwies und sich daher in den Rahmen der größeren staatlichen Existenz nicht ohne weiteres einfügte, allgemein als eine Störung empfunden wurde. Eine weitere objektive gesellschaftliche Störung ging davon aus, daß die Masse der Juden damals noch im Kleinhändler- und Trödlerberuf beschäftigt war und als Träger einer fremden, teilweise minderwertigen Wirtschaftsmoral erschien.76 Beide Momente standen zu der vor den Befreiungskriegen gegebenen Gleichberechtigung scheinbar im Gegensatz und bildeten so die Grundlage der objektiven Judenfrage jener Zeit. Auch der enger gewordene Kontakt mit den meist noch sehr strikten Anhängern einer fremden Religionsgemeinschaft bedeutete zu jener Zeit noch eine erhebliche Schwierigkeit.*
Als Ausgangspunkt subjektiver Spannungen kam hinzu die allgemeine Enttäuschung nach den Kriegen, die zwar den Sieg, aber nicht die ersehnte Freiheit und Einheit gebracht hatten. Dazu trat in den Jahren 1816 und 1817 eine ausgesprochene Notzeit mit einer entsprechenden Preissteigerung und später eine allgemeine Wirtschaftsdepression, die Sombart77 als den „ersten großen Krach im 19. Jahrhundert“ bezeichnet.
Daß der Antisemitismus auch zu anderweitigen politischen Zwekken benutzt wird, ist in dieser Frühzeit der Emanzipation noch nicht so deutlich sichtbar. Antisemitische Wortführer gehören allen Richtungen an: Fichte ist liberaler Revolutionär, Paulus gleichfalls Liberaler, Fries ist Romantiker, allen gemeinsam ist lediglich der nationale Gedanke, der damals sowohl die Vertreter der Volkssouveränität als auch die Anhänger der romantischen Idee vom „Volkstum“ erfüllte. Mit diesem Gedanken ließ sich verständlicherweise der Antisemitismus einfach und vorteilhaft verbinden. Man bekämpfte im Zuge der Judenemanzipation zugleich ein Stück Franzosenherrschaft, weil die mindestens zeitliche Abhängigkeit jener von dieser, aber auch die Verwandtschaft des emanzipatorischen Gedankens mit den Ideen der Französischen Revolution außer Zweifel stand.
In den antisemitischen Streitschriften der Zeit finden sich Elemente jeder dieser drei verschiedenen Quellen. Es wurde versucht, sie in Ideologien verschiedener Färbungen zu vereinigen. Ausschlaggebend dabei sind überall jene Vorwürfe, die sich auf damals in der Tat bestehende Mißstände beziehen. Daß man die Behebung dieser Mißstände durch eine Entwicklung, die durch die Emanzipation eingeleitet wurde, nicht abwarten will, enthüllt zwar die Voreingenommenheit der antisemitischen Autoren; aber die Schärfe der Angriffe, die vielfach über das Ziel hinausschießen, ist in dem gleichen Maße Ausdruck mangelnder eigener Sachlichkeit, wie sie dazu dient, der subjektiven Aggressivität der Leser zu einer Entladung zu verhelfen. Trotzdem darf man sagen, daß in dem Antisemitismus des beginnenden 19. Jahrhunderts objektive Spannungen zwischen der jüdischen Gruppe und der Mehrheit eine maßgebliche Rolle spielen. Das kommt auch in den sporadischen antijüdischen Gewalttätigkeiten der sogenannten Hep-Hep-Hetze des Jahres 1819 zum Ausdruck. Ihr Auftreten in Franken, also in einer Gegend, in der der jüdische Landhandel eine große Rolle spielte, läßt darauf schließen, daß da neben allen möglichen „unechten“ auch manche „echte“ Ursachen der Gruppenspannung sich auswirkten.
Eine entscheidende Veränderung vollzieht sich, wenn man sechzig Jahre überspringt und die antisemitische Bewegung des Hofpredigers Stoecker in gleicher Weise untersucht. Was in den Jahren nach der Reichsgründung an „objektiver Judenfrage“ noch vorliegt, ist nicht mehr die Spannung zwischen einem „Staat im Staate“ und der größeren Gemeinschaft, sondern die ungleichmäßige Berufsverteilung der jüdischen Gruppe, von der weiter oben die Rede war. Aus der Vorherrschaft der Juden in Handel und Finanz, sowie aus der verwaltungsmäßigen Durchlöcherung der Vollemanzipation, vor allem aber aus ihrem Ausschluß aus der Beamtenschaft folgten ihre einseitige politische Zugehörigkeit zum Liberalismus und das Einströmen eines Teiles ihrer Intelligenz in die Presse. Diese Schichtung schafft zwar Spannungen objektiver Art; aber ihre Stärke ist mit denen der Frühzeit in keiner Weise zu vergleichen. Dagegen fehlt es nicht an Spannungen subjektiver Herkunft. Sie entwickeln sich aus den raschen Fortschritten der industriellen Wirtschaft, die den Mittelstand, insbesondere das Handwerk, schwer treffen. Diese latente Krise erreicht einen Höhepunkt, als im Jahre 1873 ein großer Bankkrach der „Gründer“-Konjunktur, die durch die französische Kriegsentschädigung hervorgerufen worden war, ein Ende macht. Es folgen Jahre schwerer wirtschaftlicher Depression.
Der Antisemitismus des Hofpredigers Stoecker spiegelt deutlich die objektiven Spannungsmomente und die in seinen Anhängern selbst liegenden subjektiven Unlustgefühle wider. Der Schwerpunkt seiner Propaganda gegen das Judentum liegt völlig auf den Vorwürfen, daß sie Finanz und Presse beherrschten. Seine Anhängerschaft, die er zunächst ohne ausreichenden Erfolg unter der Arbeiterschaft sucht, findet er zum weitaus größten Teil in den Reihen der Kleinbürger, so daß er sich schließlich schweren Herzens entschließen muß, den ursprünglichen Namen seiner Partei von „Christlich-Soziale Arbeiterpartei“ in „Christlich-Soziale Partei“ abzuändern. Als Argument für die Namensänderung wurde von ihren Befürwortern vorgebracht: „Die Zahl der Arbeiter in der Partei betrage höchstens 150–200 Köpfe.“78 Es sind also nicht die Arbeiter, die zwar auch unter dem Kapitalismus leiden, aber in seiner Entwicklung anderseits auch ihre Chance sehen, die ihm zulaufen; sondern das ausweglose Kleinbürgertum flüchtet vor der sachlichen Interpretation der wirtschaftlichen Entwicklung, die ihm ungünstig ist, in eine Scheininterpretation, die ihm Erfolg verspricht, indem sie ihm erlaubt, statt des abstrakten Kapitals den konkreten Juden anzugreifen.
Aber gerade in der Stoecker-Episode des deutschen Antisemitismus kommt auch mit besonderer Klarheit zum Ausdruck, daß der Antisemitismus häufig nur als Mittel zum Zweck benutzt wird. Stoecker war mit seiner neuen Partei zunächst ausschließlich zum Kampf gegen die Sozialdemokratie angetreten. Erst als er diesen Gegner infolge der Sozialistengesetze (1878) als unschädlich gemacht ansah und in seinen eigenen Versammlungen auf seiten seiner Zuhörer antisemitische Strömungen hervortraten, kam ihm der Gedanke, das Judentum als Gegner in seinen Kampf einzubeziehen.79 Der Antisemitismus