Название | Die Flucht in den Hass |
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Автор произведения | Eva Reichmann |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783863935634 |
Die Verstädterung der Juden war einer der wesentlichen Gründe, die ihrer wirtschaftlichen und wohnortsmäßigen Normalisierung entgegenwirkten. Innerhalb der Städte bestand kein zwingender Anlaß, der sie in ihrer traditionellen Bevorzugung der händlerischen Berufe hätte irremachen können. Zunehmend gewann der Handel an Bedeutung und eröffnete beträchtliche Aufstiegschancen. Dank ihrer Erfahrungen und des Fehlens aller vor- und antikapitalistischen Vorurteile machten die Juden davon ausgiebigen Gebrauch. Die Aufstiegslinien vom Trödel – und Hausierhandel sowie vom kleinen Konsumkredit waren klar vorgezeichnet. Sie führten zum Ladengeschäft, zum Kauf- und Warenhaus, zum Großhandel, zur Bank, zur Börse und zu den vielen Vermittlungstätigkeiten jeder Stufe, wie sie etwa der Warenvertreter, der Grundstücksmakler, der Versicherungsagent repräsentieren. Es gibt innerhalb der Handelssphäre wohl keinen Beruf, den die Juden nicht ergriffen hätten.
Anders war es in der Industrie, die ebenfalls einen Teil der wirtschaftlich auf steigenden Juden auf nahm. Hier fand die jüdische Infiltration im wesentlichen in dreifacher Form statt, aber nur eine dieser Formen war einer Normalisierung günstig.
Zunächst entwickelten die Juden die von ihnen schon vor der Industrialisierung betriebenen Handwerke53. Dies führte zu einer starken Bevorzugung der Bekleidungsindustrie im weitesten Sinne, zu der die Juden vom Schneiderhandwerk her, das sie in großem Umfange betrieben, Zugang fanden.* Ruppin54, der in der Definition sogenannter „jüdischer Industrien“ sehr genau ist, weil es ihm nicht wie uns hier auf eine überproportionale jüdische Beteiligung, sondern darauf ankommt, daß „die ganze Industrie vom Besitzer bis zum Arbeiter ausschließlich oder vorzugsweise mit Juden besetzt ist“, – Ruppin läßt als „jüdische Industrien“ nur drei gelten, von denen zwei territoriale Unterabteilungen der Bekleidungsindustrie darstellen: die Textilindustrie in Polen und die Herstellung fertiger Kleidung und Wäsche in Paris, London und den Vereinigten Staaten55. Für unsere Zwecke ist die Feststellung statthaft, daß die Textil- und Bekleidungsindustrien mit allen ihren Abarten bis zur Lederverarbeitung, Kürschnerei, Mützenmacherei, Knopfmacherei in sämtlichen sich vorwiegend aus aschkenasischen Juden rekrutierenden Judenheiten einen außerordentlichen Prozentsatz der in der Industrie tätigen Juden aufnehmen. Als dritte „jüdische Industrie“ erwähnt Ruppin die Diamantenschleiferei in Amsterdam und Antwerpen, für welche die Juden durch ihre frühere Tätigkeit im Glaserhandwerk sowie durch ihren im Mittelalter betriebenen Handel mit Edelsteinen prädestiniert gewesen seien. Eine gewisse Neigung und Eignung für diesen Industriezweig mag daneben auch in der traditionellen Betätigung von Juden im Bearbeiten edler Metalle begründet liegen56. Der jüdische Anteil an den genannten Industrien bezieht sich auf Unternehmer, Angestellte und Arbeiter, mit der Maßgabe, daß in Mittel- und Westeuropa der prozentuale Anteil der Unternehmer und Angestellten, in Osteuropa jener der Arbeiter überwog57. In den Industrien, die sich aus solchen Handwerken entwickelt haben, in denen Juden nicht vertreten waren, wie Eisengießereien und Maschinenfabriken, sind Juden nur selten zu finden58. Deshalb bleibt auch im Aufstieg die ursprüngliche Schichtung weitgehend erhalten.
Der zweite Weg in die Industrie leitete sich vom Handel und Geldgeschäft ab und bediente sich des dort erworbenen Kapitals zum Zwekke der Gründung oder des Erwerbs von Unternehmungen. Hier gab es keine Beschränkung auf bestimmte Industriezweige59, so daß kaum einer existiert, in dem Juden nicht vertreten sind. Entsprechend der besonderen Art der Einflußnahme bekleideten die so in die Industrie gelangten Juden vorwiegend leitende Stellungen. Es handelt sich hier um den schon weiter oben erwähnten Weg, der eine Normalisierung begünstigte.
Schließlich gibt es noch einen dritten Weg in die Industrie, den Juden in größerer Zahl beschritten haben. Er folgt weder der normalen Fortentwicklung des Handwerks, noch der Suche des Kapitals nach rentabler Anlage in schon bestehenden Werken. Es handelt sich da vielmehr darum, ganz neue Industrien zu erschließen, in denen eine nichtjüdische Konkurrenz nicht im Wege steht60. In der Suche der Spätkommenden nach Erwerbszweigen, die nicht schon von den früher Dagewesenen besetzt sind, offenbart sich ganz besonders stark die dem Gruppencharakter innewohnende Tendenz, sich ohne eine bewußte Abschließung aus sich selbst heraus zu erhalten. Sombart schildert den Prozeß folgendermaßen61: „Hier sind sie die Begründer der Tabakindustrie (in Mecklenburg, Österreich); dort der Schnapsbrennerei (in Polen, in Böhmen). Hier finden wir sie als Lederfabrikanten (in Frankreich, in Österreich); dort als Seidenfabrikanten (in Preußen, in Italien, in Österreich). Hier machen sie Strümpfe (Hamburg), dort Spiegelglas (Fürth); hier Stärke (Frankreich), dort Baumwollzeug (Mähren).“ Wohl hörte die jüdische Exklusivität in einem Industriezweig meistens auf, wenn die Erschließung erfolgreich vonstatten gegangen war, so daß die Gruppenstruktur nur vorübergehenden Charakter besaß. Aber in einigen Zweigen blieb ihre überwiegende Beteiligung doch bestehen. So illustriert etwa die Filmindustrie, besonders in Amerika, die noch äußerst rege Pioniertätigkeit der Juden in der Industrie auf prägnante Art.
Zum Schluß bleibt noch eine typisch jüdische Aufstiegstendenz zu betrachten: der Aufstieg in die freien Berufe. Die Gründe, aus denen die freien Berufe ganz besonders in Westeuropa, aber in geringerem Grade auch im europäischen Osten sich einer besonderen Bevorzugung seitens sozial aufsteigender Juden erfreuten, brauchen nicht lange gesucht zu werden. Die traditionelle geistige Kultur der Juden fand in dieser Berufswahl ihren europäisierten Ausdruck. Die Universität spielte die Rolle einer säkularisierten Jeschiwa (Talmud-Hochschule). Die Beamten- und die Hochschullaufbahn aber blieb den Juden lange Zeit verschlossen. So wurde der freie Beruf zum gegebenen Betätigungsfeld des jüdischen Akademikers. Er wählte auch innerhalb der freien Berufe wieder besondere Sparten, vorwiegend die Berufe des Arztes und des Rechtsanwalts, in denen er nur von der eigenen Leistung und dem Vertrauen eines nicht organisierten Publikums abhängig war. In den technischen akademischen Berufen dagegen, in denen eine spätere Betätigung mehr von den Möglichkeiten einer Anstellung in der Großindustrie abhängig blieb, waren Juden spärlicher vertreten. Hier mag allerdings auch die jüdische Neigung eine Rolle gespielt haben, die stärker auf Personen als auf Maschinen gerichtet ist62.
Wir haben so für die ökonomische Struktur der jüdischen Bevölkerung zweierlei festgestellt: einmal die Tendenz, auch bei grundsätzlicher wirtschaftlicher Freiheit einen wirtschaftlichen Gruppencharakter beizubehalten, und zum andern eine Tendenz, sich in Sphären zu konzentrieren, die bei der öffentlichen Meinung verhältnismäßig wenig beliebt sind. Beide Entwicklungsrichtungen