Die Flucht in den Hass. Eva Reichmann

Читать онлайн.
Название Die Flucht in den Hass
Автор произведения Eva Reichmann
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783863935634



Скачать книгу

wirtschaftliche Funktion der Stadt nach dem Zerfall des Feudalismus sie nicht davor bewahren können, zum Angriffsobjekt aller Sozialmoralisten zu werden. Sosehr man gezwungen sein mag, alle ihre Vorteile und Segnungen problematisch zu sehen, und sosehr sich der verantwortliche Sozialpolitiker zu bemühen hat, ihren unleugbaren gesundheitlichen, moralischen und bevölkerungspolitischen Gefahren zu begegnen, so bedeutet es doch eine gefährliche Abkehr von der Wirklichkeit, wenn die städtische Lebensform zugunsten der ländlichen allgemeiner Verurteilung verfällt. Genau diese Fehlauffassung aber charakterisiert fast durchweg die öffentliche Meinung über die relativen Vorzüge von Stadt und Land. In einem gesunden Volk, wie es die Engländer sind, führt diese Auffassung zu gesunden Reaktionen wie dem Countryhouse der besitzenden und der Gartenkultur der mittleren und kleinbürgerlichen Schichten. Im außergewöhnlich rasch industrialisierten Deutschland aber, das sich mit den Folgen der Industrialisierung nie ganz abfinden konnte, ist die Sehnsucht nach der verlorenen Naturnähe zu einem der bestimmenden Züge eines so weitverbreiteten, urdeutschen Lebensgefühls wie der Romantik geworden. Man muß nicht gleich von den „schmutzigen Menschenfluten der Weltstädte“, von dem „glühenden, unfruchtbaren Asphalt einer bestialisierten Unmenschheit52“ lesen und begegnet doch der Verurteilung der Stadt und der Sehnsucht nach dem Lande in populären sozialpolitischen Schriften, in Literatur und öffentlicher Meinung immer wieder. Auch eine so charakteristisch deutsche Erscheinung wie die Jugendbewegung vor und nach dem ersten Weltkrieg war von diesen Gefühlen getragen. Aber schließlich war es eine allen industrialisierten Ländern gemeinsame Erscheinung, daß man das Landleben mit allen Attributen paradiesischer Reinheit ausstattete und in der Stadt zwar lebte, aber in ihr das Prinzip des Bösen schlechthin sah. Und wiederum finden wir die Juden ausschließlich in jenem Lebensbezirk, dem der negative Wertakzent anhaftet.

      Die Verstädterung der Juden war einer der wesentlichen Gründe, die ihrer wirtschaftlichen und wohnortsmäßigen Normalisierung entgegenwirkten. Innerhalb der Städte bestand kein zwingender Anlaß, der sie in ihrer traditionellen Bevorzugung der händlerischen Berufe hätte irremachen können. Zunehmend gewann der Handel an Bedeutung und eröffnete beträchtliche Aufstiegschancen. Dank ihrer Erfahrungen und des Fehlens aller vor- und antikapitalistischen Vorurteile machten die Juden davon ausgiebigen Gebrauch. Die Aufstiegslinien vom Trödel – und Hausierhandel sowie vom kleinen Konsumkredit waren klar vorgezeichnet. Sie führten zum Ladengeschäft, zum Kauf- und Warenhaus, zum Großhandel, zur Bank, zur Börse und zu den vielen Vermittlungstätigkeiten jeder Stufe, wie sie etwa der Warenvertreter, der Grundstücksmakler, der Versicherungsagent repräsentieren. Es gibt innerhalb der Handelssphäre wohl keinen Beruf, den die Juden nicht ergriffen hätten.

      Anders war es in der Industrie, die ebenfalls einen Teil der wirtschaftlich auf steigenden Juden auf nahm. Hier fand die jüdische Infiltration im wesentlichen in dreifacher Form statt, aber nur eine dieser Formen war einer Normalisierung günstig.

      Der zweite Weg in die Industrie leitete sich vom Handel und Geldgeschäft ab und bediente sich des dort erworbenen Kapitals zum Zwekke der Gründung oder des Erwerbs von Unternehmungen. Hier gab es keine Beschränkung auf bestimmte Industriezweige59, so daß kaum einer existiert, in dem Juden nicht vertreten sind. Entsprechend der besonderen Art der Einflußnahme bekleideten die so in die Industrie gelangten Juden vorwiegend leitende Stellungen. Es handelt sich hier um den schon weiter oben erwähnten Weg, der eine Normalisierung begünstigte.

      Schließlich gibt es noch einen dritten Weg in die Industrie, den Juden in größerer Zahl beschritten haben. Er folgt weder der normalen Fortentwicklung des Handwerks, noch der Suche des Kapitals nach rentabler Anlage in schon bestehenden Werken. Es handelt sich da vielmehr darum, ganz neue Industrien zu erschließen, in denen eine nichtjüdische Konkurrenz nicht im Wege steht60. In der Suche der Spätkommenden nach Erwerbszweigen, die nicht schon von den früher Dagewesenen besetzt sind, offenbart sich ganz besonders stark die dem Gruppencharakter innewohnende Tendenz, sich ohne eine bewußte Abschließung aus sich selbst heraus zu erhalten. Sombart schildert den Prozeß folgendermaßen61: „Hier sind sie die Begründer der Tabakindustrie (in Mecklenburg, Österreich); dort der Schnapsbrennerei (in Polen, in Böhmen). Hier finden wir sie als Lederfabrikanten (in Frankreich, in Österreich); dort als Seidenfabrikanten (in Preußen, in Italien, in Österreich). Hier machen sie Strümpfe (Hamburg), dort Spiegelglas (Fürth); hier Stärke (Frankreich), dort Baumwollzeug (Mähren).“ Wohl hörte die jüdische Exklusivität in einem Industriezweig meistens auf, wenn die Erschließung erfolgreich vonstatten gegangen war, so daß die Gruppenstruktur nur vorübergehenden Charakter besaß. Aber in einigen Zweigen blieb ihre überwiegende Beteiligung doch bestehen. So illustriert etwa die Filmindustrie, besonders in Amerika, die noch äußerst rege Pioniertätigkeit der Juden in der Industrie auf prägnante Art.

      Zum Schluß bleibt noch eine typisch jüdische Aufstiegstendenz zu betrachten: der Aufstieg in die freien Berufe. Die Gründe, aus denen die freien Berufe ganz besonders in Westeuropa, aber in geringerem Grade auch im europäischen Osten sich einer besonderen Bevorzugung seitens sozial aufsteigender Juden erfreuten, brauchen nicht lange gesucht zu werden. Die traditionelle geistige Kultur der Juden fand in dieser Berufswahl ihren europäisierten Ausdruck. Die Universität spielte die Rolle einer säkularisierten Jeschiwa (Talmud-Hochschule). Die Beamten- und die Hochschullaufbahn aber blieb den Juden lange Zeit verschlossen. So wurde der freie Beruf zum gegebenen Betätigungsfeld des jüdischen Akademikers. Er wählte auch innerhalb der freien Berufe wieder besondere Sparten, vorwiegend die Berufe des Arztes und des Rechtsanwalts, in denen er nur von der eigenen Leistung und dem Vertrauen eines nicht organisierten Publikums abhängig war. In den technischen akademischen Berufen dagegen, in denen eine spätere Betätigung mehr von den Möglichkeiten einer Anstellung in der Großindustrie abhängig blieb, waren Juden spärlicher vertreten. Hier mag allerdings auch die jüdische Neigung eine Rolle gespielt haben, die stärker auf Personen als auf Maschinen gerichtet ist62.

      Wir haben so für die ökonomische Struktur der jüdischen Bevölkerung zweierlei festgestellt: einmal die Tendenz, auch bei grundsätzlicher wirtschaftlicher Freiheit einen wirtschaftlichen Gruppencharakter beizubehalten, und zum andern eine Tendenz, sich in Sphären zu konzentrieren, die bei der öffentlichen Meinung verhältnismäßig wenig beliebt sind. Beide Entwicklungsrichtungen