Название | Die Flucht in den Hass |
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Автор произведения | Eva Reichmann |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783863935634 |
Nachdem die rechtlichen Beschränkungen der wirtschaftlichen Betätigung der Juden gemildert oder aufgehoben worden waren, wäre es theoretisch möglich gewesen, daß schon die erste befreite Generation sich wirtschaftlich „normalisiert“ und sich im ungefähren Prozentsatz ihres Bevölkerungsanteils auf sämtliche nun offenstehende Erwerbszweige verteilt hätte. Bei den Emanzipatoren war eine solche Erwartung zweifellos auch vorhanden. Sie war eines der Hauptargumente jenes Teiles ihrer Befürworter, die in der gesetzlichen Gleichberechtigung die notwendige Vorstufe der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Normalisierung sahen, während die Gegner der Emanzipation die gesetzliche Gleichberechtigung mit Rücksicht auf die gesellschaftlich-wirtschaftliche Anomalie den Juden ganz vorenthalten wollten, und die Vertreter einer mittleren Linie sie erst als Lohn der vorher zu vollziehenden Normalisierung zu verleihen geneigt waren. Die Erwartung einer schnellen Normalisierung hat sich nicht erfüllt. Sie konnte sich nicht erfüllen, weil in der wirtschaftlichen Ausgangsposition der Juden gewisse Entwicklungstendenzen bereits angelegt waren, die dazu führten, daß sie ihren besonderen Gruppencharakter selbst unter veränderten Verhältnissen beibehielten.
Einer der Hauptgründe dafür, daß die Normalisierung nicht erreicht wurde, war die Tatsache, daß die Juden vorwiegend in Städten wohnten. Ob dabei, wie Max Weber47 annimmt, eine subjektive Abneigung der Juden gegen die Landwirtschaft mitgesprochen hat, die dem Wunsche entsprang, den Besitz beweglich und sich selbst auf diese Weise für das Kommen des Messias bereitzuhalten, oder ob der weitgehende Ausschluß vom ländlichen Grundbesitz ursprünglich den Ausschlag gegeben hat, kann dahingestellt bleiben. Sicher ist, daß die Ausübung händlerischer Berufe selbst in ländlicher Umgebung den Juden einen so hohen Grad von Beweglichkeit gab, daß sie in ganz besonderem Maße von den anwachsenden städtischen Zentren angezogen wurden, auch wenn sie sich nicht von vornherein in ihnen angesiedelt hatten. Ein Übergewicht der Stadt über das Land innerhalb der Wohnverteilung der Juden war so von vornherein gegeben und hat im Laufe der Entwicklung noch stärker zugenommen als bei den Nichtjuden. Einige weitere Faktoren wirkten in der gleichen Richtung: Die Juden bedürfen zu ihrem religiösen Leben sowohl zum Gottesdienst, als auch zum Leben nach gesetzlicher Vorschrift der Gemeinde. Sie waren aber nicht nur positiv aufeinander angewiesen. Ein enges Zusammenleben mit Bauern, in deren dörflicher Lebensgemeinschaft die Kirche und die mit ihr eng verbundenen Sitten noch eine hervorragende Rolle spielten, wäre schwierig, wenn nicht unmöglich gewesen. Die Stadt dagegen ist ein Platz, an dem die verhängnisvolle „Fremdheit“ des Juden, diese Grundursache so vieler seiner Leiden, eine Art Kompensation, ja fast eine Art Vorzug bedeutet. So wenigstens sieht sie Louis Wirth48 in seiner Studie über die Stadt als Lebensform: „Die Stadt duldet nicht nur individuelle Verschiedenheiten, sondern sie belohnt sie sogar. Sie führt Menschen von allen Enden der Erde zusammen, gerade weil sie verschieden und deshalb einander nützlich sind, – und nicht weil sie gleicher Art und gleichen Sinnes sind.“ Aber selbst wenn man die Meinung, daß die Stadt geradezu eine Prämie auf die Andersartigkeit aussetze, nicht zu teilen vermag, wird es doch ohne weiteres einleuchten, daß die von der Andersartigkeit ausgehenden Nachteile, wenn überhaupt, so nur in der Stadt eine gewisse Milderung erfahren können. Ganz im Gegensatz zu der Kontrolle, die die tägliche nachbarliche Berührung einer ländlichen Gemeinschaft über jeden ihrer Einwohner ausübt, ist der gegenseitige Kontakt in der Stadt nur flüchtig und oberflächlich. Er erfaßt jeweils nur geringe Teilbetätigungen der in Kontakt tretenden Individuen. Diese Anonymität der Stadt muß auf den Fremden, den „horizontalen“ wie den „vertikalen“ Einwanderer, eine starke Anziehungskraft ausüben, weil sie die Bürde der Fremdheit erleichtert. Es ist darum nicht zu verwundern, daß Einwanderer ganz allgemein, selbst wenn sie einer ursprünglich ländlichen Bevölkerung entstammen, im Einwanderungsland vorzugsweise in Städten zusammenströmen49. Viele Zusammenhänge des städtischen Lebens kommen außerdem dem Einwanderer im allgemeinen und dem Juden im besonderen entgegen. Während das Dorf einen Fremden oder allenfalls eine engbegrenzte Zahl Fremder nur aufnimmt unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß diese Fremden sich zu vollwertigen Dorfbewohnern entwickeln und im Laufe der Zeit alle wesentlichen Eigenarten aufgeben, ist es in der Stadt durchaus möglich, Eigenarten zu bewahren, ohne daß die spärlichen Kontakte mit den übrigen Stadtbewohnern dadurch beeinträchtigt würden. Ja es ist sogar möglich, sich auf Grund seiner Eigenarten in besonderen Stadtbezirken zusammenzufinden. Die Ansprüche der Stadt an den Einordnungswillen ihrer Bewohner sind geringer; dafür ist auch der Grad, in dem eine Stadt ihre Bürger anerkennt und als zugehörig betrachtet, bedeutend niedriger als der, in dem man zu einer Dorfgemeinschaft gehört, wenn man einmal dort aufgenommen worden ist. Aber dieser lose Zusammenhang ist es gerade, der den Neuankömmlingen die Niederlassung erleichtert. Sie sind ohnehin durch ihre Einwanderung und die Emanzipation in einem Lösungsprozeß aus hergebrachten Bindungen begriffen; die verminderte Kontrolle in der Stadt kommt dieser Entwicklung durchaus entgegen. Das Fehlen einer neuen Gemeinschaftsordnung, welche die Stadt im Gegensatz zum Dorfe nicht geben kann, fällt dabei nicht ins Gewicht. Vollends aber erscheint die Möglichkeit, mit seinesgleichen zusammen wohnen zu können, die Hilfe Frühergekommener zu erfahren und zugleich auch mit der weiteren Umwelt in wirtschaftlichen Kontakt zu kommen, als eine geradezu ideale Lösung. Daß in dem gleichzeitigen Bestreben, allzu strenger Kontrolle zu entgehen und doch die Vorzüge der alten Gemeinschaft zu genießen, kein Widerspruch steckt, wird jedem Kenner derartiger Übergangsstadien klar sein50. Bedenkt man schließlich noch, daß die städtische Existenz das enge Zusammenwohnen von Individuen, die durch gefühlsmäßige Bande nicht zusammengehalten werden, einen Geist des Wettbewerbs, der Vergrößerung und der auf Nutzen gerichteten Zusammenarbeit begünstigt, also gerade jene Charakteristika erfordert und entwickelt, die der Jude von Haus aus mitbringt, so muß man den Zug der Juden in die Stadt eigentlich als im psychologischen Sinne wiederum „überbestimmt“ ansehen.
Wer aber einmal in der Stadt lebt, geht nicht wieder aufs Land „zurück“. Eine Rückwanderung würde nämlich der Weg von der Stadt aufs Land in dem Sinne bedeuten, als im Zeitalter des Industrialismus, in das die Zeit der jüdischen Freizügigkeit fällt, eine spontane Massenwanderung nur vom Lande nach der Stadt vorkommt. Die städtische Bevölkerung reproduziert sich nicht und ist auf ständigen Nachzug aus den ländlichen Wohngebieten angewiesen, der ihr nur zu willig zuteil wird. Die Landflucht stellt in fast allen industrialisierten Ländern ein ernstes Problem dar; Stadtflucht aber, wo je sie auftritt, endet als typische Erscheinung im äußersten Falle bereits in den sich mehr und mehr ausweitenden Vorstädten. Es würde gewaltsamer sozialpolitischer Eingriffe bedürfen, um diese natürliche Bewegungsrichtung umzukehren.
Mangels jeglicher Gegenwirkung blieben die Juden Städter und wurden in zunehmendem Maße Großstädter, weil fast alle erwähnten Momente für die Großstädte in noch höherem Maße gelten als für die Klein- und Mittelstädte51. Zwar nahm mit jeder Generation ihre Fremdheit, ja sogar ihre Andersartigkeit ab und damit ihr Bedürfnis, unterzutauchen. Sie strebten kaum noch nach eigenen Wohnbezirken, sondern im Gegenteil nach einer unterschiedslosen Verteilung über die ganze Stadt.* Das in den ersten Stadien auftretende Bedürfnis nach Freiheit von jeglicher Kontrolle seitens der Gemeinschaft machte einem verstärkten inneren Gleichgewicht Platz. Doch wirkten die Tendenzen der Frühzeit noch lange nach und wurden zeitweise durch den Antisemitismus noch verstärkt. Auch die verbreiterte Berufsbasis umfaßte ausschließlich städtische Berufe. Der traditionelle Erwerbssinn, dem die immer wiederkehrende „Herausforderung“ den „Antrieb“ nicht vorenthielt, suchte die besseren Chancen an den größeren Wirtschafts- Zentren, und schließlich haben auch gewisse, aus Stadtleben und Bildungsniveau herrührende kulturell-ästhetische Bedürfnisse der Juden dazu beigetragen, ihnen die Großstädte immer anziehender