Potsdamer Abgründe. Carla Maria Heinze

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Название Potsdamer Abgründe
Автор произведения Carla Maria Heinze
Жанр Языкознание
Серия Enne von Lilienthal
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783960416838



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zuckte mit den Schultern. »Habe mich angeboten. Charly kann ja nicht stundenlang allein in der Wohnung bleiben.«

      Körner und Enne hatten sich zu einem Spaziergang im Neuen Garten verabredet. Der September machte mit sommerlichen Temperaturen nahtlos da weiter, wo der heiße August geendet hatte. Enne, mit hellen Jeans, einem zartgelben kurzärmeligen T-Shirt und weißen Sneakers, die dunklen, lockigen Haare hochgebunden, sah man ihre Jahre nicht an. Richard Körner wirkte mit den tiefen Lebenslinien im Gesicht hingegen trotz seiner vollen grau melierten Haare älter als seine vierundsechzig. Sein langärmeliges dunkelblaues Hemd verdeckte seinen Bauchansatz. Anschließend wollte er Enne in das kleine Restaurant »Alexandrowka« zu Pelmeni und Blini einladen. Vor Jahren hatten Körner und Enne während einer Tagung eine kurze, aber heftige Affäre gehabt. Er erhoffte sich mehr, aber Enne, zu der Zeit gerade geschieden, wollte keine Bindung eingehen. Erst vor Kurzem waren sie sich wieder nähergekommen, und er wollte keine Möglichkeit mehr versäumen, Zeit mit ihr zu verbringen.

      Seine Gedanken kreisten noch immer um den möglichen Weggang seines Ersten Hauptkommissars der Mordinspektion. Von Anfang an hatte er Maik gefördert, nicht nur, weil er Ennes Sohn war, sondern auch, weil er sofort bemerkt hatte, dass Maik von Lilienthal außergewöhnliche kriminalistische Fähigkeiten besaß. Er musste dessen Weggang einfach verhindern. Die Kriminalpolizei war unterbesetzt, er konnte es sich nicht leisten, einen so hervorragenden Ermittler ziehen zu lassen. Körner überlegte, ob er noch ein Ass im Ärmel hatte. Als er sich wieder aufs Hier und Jetzt konzentrierte, konnte er durch die Bäume schon das grüne Kupferdach des Marmorpalais erkennen.

      »Ich nehme dir den Hund ab«, bot er sich an.

      Dankbar gab ihm Enne die Leine. Ihr Arm, da war sie sich sicher, wurde nur noch von einem Muskelstrang zusammengehalten.

      Charly wandte den Kopf und hechelte Körner mit heraushängender Zunge fröhlich an.

      Kaum hatte der die Leine genommen, zog der Hund zum Heiligen See, an dessen Ufer das Marmorpalais lag. Von der anderen Seeseite blinkten die Dächer der Prominentenvillen zu ihnen herüber.

      Enne blieb stehen und wühlte in ihrer Umhängetasche. Ihr iPhone hatte sich gemeldet. Weshalb sich das Gerät immer in den Tiefen ihrer Tasche verkroch, würde ihr wohl ein ewiges Rätsel bleiben.

      Körner marschierte indessen weiter, hielt locker Charlys Leine, als ein junger Mann in Sportklamotten um die Ecke der künstlich gestalteten römischen Tempelruine bog. Neben ihm trabte ein großer Hund mit hellem Fell. Der Jogger drehte ab und lief über die vom Sommer verbrannte Wiese nach oben zum Hauptweg. Der Hund blieb stehen. Starrte Charly an, knurrte kehlig. Dann stellten sich seine Nackenhaare senkrecht auf.

      Als Enne endlich das Handy gefunden und es entsperrt hatte, hatte der Anrufer aufgegeben. Die Nummer war unterdrückt worden. »Dann eben nicht, liebe Tante, heiratest du eben den Onkel«, murmelte sie und schaute in dem Moment zu Körner, als der große Hund auf ihn und Charly zustürmte. »Vorsicht, Richard!«, schrie sie.

      Doch der fremde Hund stürzte sich bereits mit geöffnetem Maul auf Charly und verbiss sich. Der Kleine jaulte gellend auf, versuchte sich zu befreien, wegzurennen. Blut quoll aus einer Wunde über dem Auge. Erneut griff der andere ihn an. Hatte es auf die Halswirbelsäule abgesehen. Charly jaulte wieder, jetzt voller Todesangst. Enne sah, wie sich die Leine um Körners Beine wickelte, der fremde Hund geifernd an ihm hochsprang, hörte ihn »Aus!« brüllen und spurtete los.

      »Holen Sie sofort Ihren Hund zurück!«, schrie sie dem Jogger hinterher. Doch der wandte nicht einmal den Kopf, zeigte ihr nur den Mittelfinger und rannte einfach weiter in Richtung Orangerie. Enne, das Handy noch in der Hand, bemühte sich, ihn zu fotografieren. Als sie sich wieder umdrehte, sah sie, wie Körner der Länge nach wie ein gefällter Baum auf die harte, ausgetrocknete Erde stürzte und der Hund auf ihn sprang. Sofort hechtete sie zu ihm. Ohne nachzudenken, riss sie den fremden Hund am Lederhalsband zurück. Er wand sich wie ein Otter und schnappte nach ihr. Instinktiv holte sie mit ihrer Tasche aus und versetzte ihm einen Schlag. Plötzlich ertönte aus der Ferne ein Pfiff. Der Weiß-Braune stellte die Ohren senkrecht, Speichel triefte aus seinem Maul, dann stob er mit langen Sätzen seinem Besitzer hinterher.

      Wimmernd wie ein kleines Kind kroch Charly zu Enne. Als sie sich niederbeugte und ihm sanft den Kopf streichelte, leckte er ihre Hände.

      »Kleines Hundemännchen«, flüsterte sie und kämpfte mit den Tränen. Vorsichtig tastete sie ihn ab. Der Kleine bebte am ganzen Körper. Das schwarze Fell war voller Blut und übel riechender Speichelreste des anderen. »Wir müssen sofort zum Tierarzt, Richard!«, rief sie.

      Körner stöhnte. Lag eigentümlich verdreht im Staub. Die helle Leinenhose war mit Flecken übersät, das Hemd zerrissen. Auf seiner Brust zeichneten sich tiefe Kratzer ab.

      Entsetzt stolperte Enne zu ihm. Reichte ihm die Hand. »Kannst du aufstehen?«, fragte sie voller Sorge.

      Er blickte sie an. Sein bräunlicher Sommerteint hatte sich in gräuliches Weiß verwandelt. »Habe ich schon probiert«, keuchte er. »Geht nicht.«

      Enne wählte den Notruf der Feuerwehr.

      3

      Der rot-weiße Krankenwagen näherte sich in rasantem Tempo vom Hauptweg des Neuen Gartens und fuhr direkt über die Wiese, bis er wenige Meter vor Enne, Körner und Charly hielt. Ein schmaler Mann sprang heraus und stellte sich ihnen als Unfallarzt vor. Ihm folgten im Laufschritt zwei junge Männer mit einer Trage. Der Arzt untersuchte Körner schnell und routiniert. Als er vorsichtig die Wirbelsäule berührte, brüllte Körner auf. Ohne auf dessen Protest zu achten, setzte er ihm genau an der Stelle eine Injektion, wies die Rettungssanitäter an, den Patienten sofort in die Unfallchirurgie zu bringen, und telefonierte mit der Radiologie.

      »Sie kommen sofort in die Röhre. Ein MRT erscheint mir in Ihrem Fall dringend erforderlich.«

      Körner nickte gequält. »Man muss früh mit dem Sterben beginnen, damit man lange was davon hat«, bemerkte er mit schiefem Grinsen.

      »Wird schon alles wieder heile«, meinte einer der Sanitäter, dann schoben er und sein Kollege die Trage mit dem schwergewichtigen Körner in den Wagen.

      Enne griff nach dessen Hand. »Richard Körner, so weit bist du noch lange nicht«, sagte sie streng. »Wir beide haben noch jede Menge vor. Kneifen gilt nicht.«

      Körner versuchte ein Lächeln, erinnerte damit aber eher an einen traurigen Clown.

      »Sind Sie die Ehefrau?«, wollte der Arzt wissen.

      »Nein, eine langjährige Freundin. Darf ich ihn begleiten?«

      »Das ist nicht nötig. Sie können ihm jetzt sowieso nicht helfen, und im Krankenhaus wird alles Erforderliche für ihn getan.« Er blickte zu Charly. »Fahren Sie lieber gleich zu einem Tierarzt und lassen Sie Ihren Hund untersuchen.« Damit kletterte er in den Wagen, der unter gellendem Sirenengeheul Richtung Ernst-von-Bergmann-Klinikum davonfuhr.

      Enne hielt das Hundeköpfchen und streichelte es vorsichtig. Noch immer zitternd, blickte Charly sie aus großen braunen Augen an und hechelte schnell.

      »Warten Sie!«, hörte sie jemanden rufen.

      Eine füllige Frau kam über die Wiese direkt auf sie zu. Holte, kaum bei ihr angelangt, eine Flasche und einen metallenen Napf aus ihrem Beutel, goss Wasser hinein und stellte ihn vor den Hund.

      »Er muss trinken«, erklärte sie.

      Und Charly trank wie ein Verdurstender.

      »Gabi Spiehs«, stellte sich die Frau vor. »Ich arbeite da drüben.« Sie wies auf die Gesindehäuser aus rotem Backstein am Hauptweg. »Ich kenne den Kerl mit dem Hund. Der kommt oft hierher und lässt seinen Vierbeiner trotz der Verbotsschilder frei rumlaufen. Beseitigt nie die Hinterlassenschaften seines Tieres. Ein Akita Inu ist das, eine japanische Rasse, kaum sozialisiert. Wenn der andere kleine Hunde angreift, findet das der Typ auch noch cool. Wir von der Parkverwaltung haben ihn bereits verwarnt, aber man kann ja nicht überall sein«, fügte sie entschuldigend hinzu.

      Wo sind nur die