Potsdamer Abgründe. Carla Maria Heinze

Читать онлайн.
Название Potsdamer Abgründe
Автор произведения Carla Maria Heinze
Жанр Языкознание
Серия Enne von Lilienthal
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783960416838



Скачать книгу

sie. Auch Erwachsene werden immer häufiger bei jeder Kleinigkeit aggressiv.

      Sie bedankte sich bei der Frau für das Wasser, wählte Maiks Nummer und erwischte nur seine Mailbox. »Wenn man dich mal braucht, bist du nicht da«, murmelte sie enttäuscht. Wählte erneut, eine andere Nummer diesmal, und vernahm erleichtert die Stimme von Hauptkommissarin Susanne Riemeister, Maiks Lebensgefährtin und Kollegin im Potsdamer Präsidium. Schnell erzählte sie, was vorgefallen war.

      Susanne stellte keine überflüssigen Fragen. Das mochte Enne so an ihr, dass sie sich stets auf das Wesentliche konzentrierte.

      »Bin schon unterwegs«, sagte Susanne, als Enne geendet hatte, und trennte die Verbindung.

      4

      Trotz ihres Protestes, dass sie mit ihrem eigenen Wagen fahren könne, hatte Susanne Enne in das Polizeifahrzeug bugsiert. Leo Kalumet, Kollege bei der Potsdamer Mordkommission, hatte Charly behutsam hochgehoben und sich zusammen mit ihm auf die Rückbank gesetzt. Jetzt brummte er unverständliche Laute, und der kleine Hund, das konnte Enne im Rückspiegel verfolgen, legte nach einigen Sekunden seinen Kopf in Kalumets Armbeuge und beruhigte sich.

      Susanne fuhr Enne bis vor die Notaufnahme des Ernst-von-Bergmann-Klinikums. Kaum hatte diese den Fuß auf den Boden gesetzt, gab Susanne auch schon wieder Gas. Sie wollte schnellstens weiter zur Tierklinik nach Potsdam-Wildpark.

      Dr. Richard Körner sei immer noch in der Notaufnahme, erfuhr Enne vom Pförtner. Sie lief den langen Gang hinunter, an wartenden Patienten vorbei, bis sie aus einem der Behandlungsräume Körners sonoren Bass vernahm.

      »Wie oft soll ich es Ihnen noch sagen? Mein Name ist Richard Körner. Ich bin Kriminalrat der Potsdamer Mordkommission. Und nein, ich habe mir meinen Namen leider nicht tätowieren lassen. Und um auch noch Ihre Wissenslücke zu schließen: Nicht alle Personen, die im Präsidium arbeiten, tragen Uniform. Sie haben ja auch kein Rotkreuzhäubchen auf. Und jetzt rufen Sie endlich im Präsidium an, oder ist das zu viel verlangt?«

      Eine hohe Frauenstimme antwortete etwas.

      »Verdammt«, hörte Enne Körner daraufhin ächzen. »Ich habe Schmerzen, die wünsche ich nicht mal Ihnen. Glauben Sie, ich bin zum Spaß hier? Beruferaten können wir später noch spielen.«

      Enne stieß die Tür auf. Vor ihr auf einer Krankenliege lag Körner. Ein Bein war verdreht, wegen seiner Größe hingen seine Füße in der Luft. Das volle dunkle Haar, durchsetzt mit silbergrauen Strähnen, stand nach allen Seiten ab. Sein Gesichtsausdruck, mit dem er eine kleine hagere Frau in weißem Kittel ansah, glich dem eines Puters beim Balzen. Sie stand mit durchgedrücktem Rücken und einem Klemmbrett in der Hand vor ihm und schaute auf ihn hinab.

      Als Körner den Kopf wandte und Enne im Türrahmen stehen sah, keuchte er: »Da bist du ja endlich!« Er versuchte, sich aufzurichten, was ihm nicht gelang. Stattdessen schrie er vor Schmerz auf. »Meine Brieftasche mit allen wichtigen Dokumenten ist weg. Muss ich bei der Hundeattacke verloren haben«, sagte er dann.

      Enne griff nach seiner Hand.

      »Diese Dame verlangt meinen Personalausweis und meine Versichertenkarte. Hier herrscht Bürokratie vom Feinsten, Enne, ohne Dokumente bist du ein Niemand«, stöhnte er.

      »Beruhige dich, Richard«, murmelte sie, langte in ihre Tasche, holte ihren Personalausweis heraus und reichte ihn der Schwester. »Bitte notieren Sie meinen Namen und meine Adresse, ich bürge für Herrn Dr. Körner. Wir reichen seine Unterlagen so schnell wie möglich nach.«

      Die Frau studierte den Ausweis, füllte ein paar Felder eines Formulars aus und gab ihn Enne mit einem Achselzucken zurück. »Der Patient ist nicht kooperativ. Ich muss mich an die Vorschriften halten wie jeder von uns. Jetzt hole ich den Doktor.« Damit legte sie die nicht vollständig ausgefüllten Unterlagen neben Körner und ging zur Tür.

      »Wie bitte?« Enne stellte sich ihr in den Weg. »Herr Körner ist noch nicht untersucht worden?«, fragte sie ungläubig. »Der Notarzt hat doch in der Radiologie angerufen und ein sofortiges MRT veranlasst.«

      »Davon weiß ich nichts«, erwiderte die Schwester schnippisch, drängte sich an ihr vorbei und eilte aus dem Raum.

      Enne lief ihr hinterher und stieß beinahe mit einem Arzt zusammen, der gerade eintreten wollte.

      »Entschuldigen Sie, dass es länger gedauert hat«, erklärte der junge Mann. Hastig strich er sich eine weißblonde Haarsträhne aus der Stirn, ging zu Körner und musterte ihn aufmerksam. »Heute ist der Teufel los. Schwerer Unfall auf der A 9 bei Michendorf. Der Rettungshubschrauber hat mehrere Schwerverletzte gebracht. Es tut mir leid, wenn Sie warten mussten.«

      Enne, die sich im Hintergrund hielt, bemerkte, wie sich Körners Gesichtsfarbe allmählich wieder normalisierte, während er dem Arzt berichtete, was vorgefallen war.

      Der Mediziner nickte mitfühlend, dann untersuchte er ihn gewissenhaft. Sein Gesichtsausdruck wurde dabei immer ernster. Er ging zu einem Schrank, öffnete ihn und nahm eine Ampulle heraus. Griff nach einer Spritze, köpfte gekonnt die Ampulle und zog das Medikament auf.

      »Ich gebe Ihnen jetzt ein starkes Schmerzmittel, Herr Dr. Körner«, erklärte er. »Ein Krankenpfleger wird Sie gleich abholen und in die Radiologie bringen. Erst nach dem MRT können wir Ihre Verletzungen beurteilen.«

      Ehe Körner etwas erwidern konnte, versank die Injektionsnadel auch schon in seinem Arm.

      Als der Arzt fertig war, trat Enne zu Körner. »Ich fahre gleich noch mal zum Neuen Garten zurück. Bestimmt liegt deine Brieftasche noch dort.«

      Körner nickte mit schon geschlossenen Augen.

      Zusammen mit dem Arzt verließ Enne den Raum. »Was haben Sie ihm gegeben?«, fragte sie, als sie gemeinsam auf dem Gang standen.

      »Morphium. Das Einzige, was bei seinen Schmerzen hilft.«

      5

      Erst vor dem Klinikum fiel Enne ein, dass ihr alter roter Golf noch in der Weinmeisterstraße parkte. Sie nahm sich ein Taxi und ließ sich zum Eingangstor des Neuen Gartens fahren. Gab dem Fahrer wegen der kurzen Strecke ein großzügiges Trinkgeld und lief schnell den mit Pyramideneichen gesäumten Hauptweg entlang, bis sie den Abzweig erreichte, der zum See hinunterführte. Auf dem ausgetrockneten, sandigen Boden konnte sie noch die Reifenspuren des Krankenwagens erkennen.

      Langsam schritt sie das Areal ab, wo der Hund Körner angefallen hatte. Keine Spur von einer Brieftasche. Sie schaute sich um. Die Wasserfläche des Heiligen Sees schimmerte. Unter einem Busch blitzte etwas auf. Sie lief hin, bückte sich, bog die Zweige auseinander und zog mit spitzen Fingern ein verschmutztes Leinentaschentuch hervor. »RK« war in eine Ecke gestickt. Körners Initialen. Sie schaute sich um. Besucher waren keine mehr zu sehen. Der Park schloss bei Sonnenuntergang, erinnerte sie sich, und das war in Kürze.

      Dass Körner in seiner Brieftasche aber auch alle Papiere dabeihaben musste. Und so jemand nennt sich Kriminalrat, dachte Enne ärgerlich. Gerade er als Polizeibeamter sollte es doch besser wissen. Und jetzt lief sie hier unter Zeitdruck herum wie ein aufgescheuchtes Huhn, um ihm aus der Bredouille zu helfen.

      »Körnerchen«, knurrte sie, »das kostet dich was. Mindestens ein Essen in der ›Villa Kellermann‹.« Kurz schaute sie auf und zum imposanten Gebäude auf der anderen Seeseite hinüber. Günther Jauch hatte die Villa erst vor Kurzem aufwendig restaurieren und zum Restaurant umgestalten lassen. Die Zeitungen waren voll mit Artikeln darüber gewesen.

      Sie lief zum Ufer, wo die Wellen sanft über den hellen feinen Sand leckten, schaute unter jeden Busch. »Enne Lilienthal, du bist doch irre«, murmelte sie. Sie mochte gar nicht wissen, was jemand denken würde, der sie hier herumschleichen sah.

      Die letzten Sonnenstrahlen brachen sich silberhell am Wasser. Enne kniff die Augen zusammen und schaute genauer hin. Etwas schimmerte dort. Aber das Schimmern hatte sich sofort wieder verflüchtigt. Nur die Wellen schoben sich unaufhörlich leise schmatzend über den Ufersand. Ihre Füße schmerzten. Die Schuhe hatte sie erst gestern gekauft. Ein Schnäppchen. Kurz entschlossen