Potsdamer Abgründe. Carla Maria Heinze

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Название Potsdamer Abgründe
Автор произведения Carla Maria Heinze
Жанр Языкознание
Серия Enne von Lilienthal
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783960416838



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stand der Sicherheitsmensch da und sah immer noch zu ihm herüber. Das Handy ans Ohr gepresst sprach er mit jemandem. Schließlich setzte er sich in Bewegung. Kam näher.

      Er rutschte noch etwas tiefer, zog den Kopf ein. Verharrte. Nach einigen Minuten schob er sich langsam wieder hoch und spähte durch die Scheiben. Sah gerade noch, wie sich der Wachmann auf den schmalen Weg zum u-förmigen Hauptgebäude des Geheimen Staatsarchivs begab. Er wollte sich eben wieder bequem hinsetzen, da wandte der Bullige sich um und schien ihn direkt anzuschauen.

      »Komm nur, Bürschchen«, murmelte der Mann. Entsicherte die Pistole und schob sie griffbereit unter seinen Blazer auf dem Nebensitz. Die Glock gab ihm Sicherheit. Trotzdem spürte er, wie sich der Schweiß in seinem Nacken sammelte und dann den Rücken hinunterrann. Aber der Bullige ging weiter. Stand jetzt direkt vor der Eingangstür. Starrte immer noch zu ihm herüber. War höchstens dreißig Meter vom Auto entfernt. Auf einmal hörte er ihn kehlig auflachen, sah ihn das Smartphone zurück in seine Jackentasche stecken und schnellen Schrittes im Inneren des neobarocken Gebäudekomplexes verschwinden.

      Der Mann im Mercedes atmete kurz auf, dann überlegte er. Was hatte dieser Kerl in sein Smartphone getippt? Sein Autokennzeichen? Aber in der Dunkelheit hätte er dafür Adleraugen haben müssen. Vorsorglich hatte er sich den Wagen bei einer Autovermietung besorgt. Wobei »er« und »besorgt« nicht ganz stimmte. Sein »polnischer Verwandter«, wie er Karol, seinen Mann für alle Arbeiten am und im Haus nannte, hatte ihn legal gemietet. Sein Bentley Bentayga wäre für diese Aktion zu auffällig gewesen. Genervt schaute er auf die Uhr im Armaturenbrett. Noch zehn Minuten.

      Er öffnete die Wagentür und stieg aus. Über ihm ein wolkenloser Nachthimmel, die Temperatur mild für September. Alles war ruhig. Die Studenten der nahe gelegenen Freien Universität saßen um diese Zeit in den Kneipen und Clubs der Stadt, falls sie nicht zu Hause büffelten. Berlin, die Stadt, die niemals schlief. Tag und Nacht pralles Vergnügen für jeden Geschmack. Doch in dieser schon tagsüber vom Verkehr kaum frequentierten Straße ließ sich zu dieser Uhrzeit erst recht keine Menschenseele mehr blicken. Er holte eine dunkle Wollmütze aus seiner Hosentasche, zog sie sich über den Kopf und tastete nach der Taschenlampe. Der schwarze Pullover und die dunkle Hose aus feiner ägyptischer Baumwolle schmiegten sich an seine überschlanke Gestalt von eins neunzig.

      Er lief hinüber zur Eingangspforte des Geländes, die zu der Direktorenvilla führte. Wie vereinbart war sie nur angelehnt. Blickte sich noch einmal um und vergewisserte sich, dass auch wirklich niemand in der Nähe war. Dann schlich er bis zur Villa und weiter im Schatten des Hauses bis zur Rückseite des Gebäudes, blieb neben der etwas erhöhten Terrasse stehen und schaute zum Hauptgebäude. Dahinter lag der Magazintrakt, sein Ziel. Er spurtete los. Erreichte das Gebäude und verschmolz mit ihm, dicht an das Mauerwerk gedrückt. In dem bogenförmigen Verbindungsgang, der das Haupthaus mit diesem verband, war die Nachtbeleuchtung eingeschaltet.

      Ein Schrei ertönte, gellend, durchdringend. Er fuhr zusammen. Ein Kind? Wieder hörte er das Wimmern, dann ein Fauchen. Rollige Katzen! Erleichtert seufzte er auf. Über ihm starrten die vergitterten Fenster des Magazintrakts in die Nacht. Er schaute auf die Uhr. Zwei Uhr fünfzehn. Wie abgesprochen.

      Er löste sich vom Mauerwerk und schlich zu der unscheinbaren Stahltür, dem unteren Eingang. Fühlte sein Herz wild gegen die Rippen schlagen. So etwas hatte er noch nie gemacht. Es war illegal, nachts in ein gesichertes, fremdes Objekt einzudringen. Erwischte man ihn, wäre das ein gefundenes Fressen für die Medien. Er drückte gegen die Tür. Sie gab nicht nach. Das war gegen die Abmachung. Er hörte ein Geräusch, fuhr herum, sah, dass sich etwas bewegte. Der Mann von der Security? Aber es war nur der Schatten eines Baumes. Erneut drückte er gegen die Tür, wütend und mit aller Kraft. Obgleich alt, war sie stabil und gab noch immer keinen Millimeter nach. Abbrechen, dachte er. Schnellstens verschwinden. Dieser windige Experte hatte ihn reingelegt. Enttäuscht lehnte er sich gegen das Metall. Unvermittelt öffnete sie sich. Er sprang zur Seite.

      »Wurde aber auch Zeit«, flüsterte er gereizt. Er schob sie auf, zwängte sich hindurch und hörte ein Knistern. Gleich darauf fühlte er ein Brennen im Nacken, und seine Beine sackten weg, als enthielten sie plötzlich keine Knochen mehr. Glühender Schmerz durchfuhr ihn, zog ihn hinab in eine dunkle Hölle und ließ ihn nicht mehr los.

      2

      Am Abend zuvor.

      »Maik will sich wahrscheinlich wegbewerben. Der Steffens von der Bundespolizei soll ihm ein großzügiges Angebot gemacht haben«, brummte Dr. Richard Körner, seines Zeichens Kriminalrat der Potsdamer Mordkommission. Aus den Augenwinkeln blickte er zu Enne von Lilienthal, die neben ihm ging. Charly, der kleine schwarze Mischling, den ihr Sohn Maik bei einem spektakulären Fall mehr tot als lebendig gefunden und danach behalten hatte, legte sich so in die Leine, dass sie beinahe in Laufschritt verfiel.

      »Du Ungeheuer. Bei Fuß«, befahl Enne keuchend, was Charly nicht zu beeindrucken schien. Mit aller Gewalt zog sie ihn zurück auf den Weg. »Das wäre für das Potsdamer MK1 ein Verlust«, erwiderte sie etwas außer Atem, »aber es überrascht mich nicht. Steffens ist ein alter Fuchs, klar, dass der überallhin seine Fühler ausstreckt. Und jetzt, da feststeht, dass der zentrale Standort der Bundespolizei nach Potsdam verlegt wird, und demnächst das neue Verwaltungsgebäude in der Heinrich-Mann-Allee fertig ist, versucht er, die besten Leute aus allen Bundesländern für seine Behörde zu gewinnen. Bundespolizei ist eine andere Liga, Richard, das wissen wir beide. Für meinen Sohn wäre das natürlich ein Karrieresprung.«

      »Ich weiß, ich weiß, Ennekin«, seufzte Körner. »Aber Maik ist mein bester Mann. Wo kommen wir denn hin, wenn die Kollegen sich gegenseitig die Leute wegschnappen?«

      »Vielleicht hängt es immer noch mit meinem Verhalten bei dem letzten Fall zusammen, dass Maik den Wechsel ernsthaft erwägt.«

      »Dein Sohn ist genauso wie du«, murrte Körner.

      »Wie meinst du das?«, erwiderte Enne pikiert und blieb stehen, auch, da Charly intensiv an einer dickstämmigen Linde schnupperte und sich nicht entschließen konnte, ob er an ihr oder am nächsten Baum seine Duftmarke setzen sollte. Als Enne ihn weiterziehen wollte, boykottierte er ihre Bemühungen.

      »Stur seid ihr, alle beide«, sagte Körner lapidar. »Warum setzt ihr euch nicht mal zusammen und klärt, was euch immer wieder aneinander stört? Ich habe Maik klar und deutlich gesagt, dass ich auf deine Mitarbeit, wenn ich sie denn bei einem Fall für nötig halte, nicht verzichten möchte. Bei der Personalknappheit brauche ich deine Fachkompetenz, auch wenn du im Ruhestand bist. Fallanalytiker gibt es nun mal nicht wie Sand am Meer.«

      »Danke, Richard«, erwiderte Enne. Seine Worte taten ihr gut, schmeichelten ihrem Ego, wie sie insgeheim zugeben musste. Aber genau das war der Grund, aus welchem Maik seinen Job wechseln wollte. »Deine Solidarität mir gegenüber ist der Punkt, der ihn am meisten stört. Das verzeiht er weder dir noch mir«, seufzte sie. »Natürlich hat Maik recht damit, dass ich nicht mehr im aktiven Dienst bin und mich aus allen Ermittlungen heraushalten sollte. Aber andererseits«, sie schaute Körner herausfordernd an, »warum eigentlich? Nur weil ein veraltetes Beamtengesetz vorschreibt, dass mit fünfundsechzig Jahren Schluss ist?« Sie schnaubte empört. »Ich kann meine Erfahrungen, mein Wissen und meine Fähigkeiten nicht einfach so abschalten. Das alles steckt doch zu sehr in mir drin. Es macht mir immer noch Spaß, zu ermitteln und zu analysieren, das weißt du und kannst es nachvollziehen. Und wenn du mich bei einem kniffligen Fall als Beraterin hinzuziehst, was sollte daran so ungewöhnlich sein? Schau mal in die Politik, die Wirtschaft oder auch den Wissenschaftsbetrieb, überall sind Experten gefragt, die die sechzig längst überschritten haben. Hinterm Ofen sitzen und stricken ist wirklich nicht so mein Ding«, fügte sie ironisch hinzu.

      »Du weißt genau, wo das Problem liegt«, konterte Körner. »Bei euch beiden besteht erhöhter Klärungsbedarf, weil du seine Mutter und nicht irgendeine Expertin bist.«

      »Ich habe schon versucht, mit ihm zu sprechen, mein Lieber. Aber wenn ich auch nur davon anfange, verschließt er sich wie eine Auster. Macht einfach dicht«, murmelte sie.

      Körner blickte zu Charly, der sich immer noch nicht entschieden hatte, ob er lieber zehn Zentimeter weiter rechts oder doch weiter