Wenn du dieses Buch liest, ist alles zu spät. Pseudonymous Bosch

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Название Wenn du dieses Buch liest, ist alles zu spät
Автор произведения Pseudonymous Bosch
Жанр Учебная литература
Серия Das geheime Buch-Reihe
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783401800349



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einem handgeschriebenen Schild stand: »Lebende Köder.«

      Kass und Max-Ernest rümpften die Nase. Überall stank es nach vergammeltem Fisch.

      So leise wie möglich schlichen sie um den Schuppen herum. Aber als sie auf die andere Seite kamen, stellten sie fest, dass alles zugenagelt war; keine Menschenseele war zu sehen.

      Bis sie jemanden mit einem vertrauten neuseeländischen Akzent sprechen hörten.

      »Kassandra? Max-Ernest? Ich weiß, dass ihr beiden hier seid!«

      Den beiden Unglücksraben blieb gerade noch so viel Zeit, sich unter einem Haufen Fischernetzen zu verstecken, ehe die Beine von Mr Needleman in Sicht kamen.

      Fliegen schwirrten ihnen um die Nase und nicht identifizierbares Krabbelzeug schien sich brennend für ihre Beine zu interessieren. Es war einfach widerlich.

      »Kommt raus, niemand wird euch den Kopf abreißen«, rief Mr Needleman. »Andernfalls – ich warne euch – werdet ihr nachsitzen!«

      Woher wusste Mr Needleman, wo er sie suchen sollte?, wunderte sich Kass. Wenn Jojo-schi gepetzt hatte, würde er dafür büßen!

      Mr Needleman nahm einen Fischspeer, der an der Wand lehnte, und hielt ihn in die Höhe. Mit seinem dichten roten Bart sah er beinahe wie ein Wikinger aus. Oder wie ein Furcht einflößender Meeresgott.

      Wollte er sie nachsitzen lassen oder wollte er sie an Ort und Stelle aufspießen?

      Kass merkte, wie ihr jemand auf die Schulter tippte. Sie warf Max-Ernest einen ärgerlichen Blick zu. Warum riskierte er es, sich in einem solchen Moment zu bewegen?

      Wieder tippte er ihr auf die Schulter. Zweimal lang, dann dreimal kurz.

      Das waren Morsezeichen.

      Kass wusste: Dreimal kurzes Klopfen bedeutete ein S. (Jeder weiß, dass SOS dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz ist.) Aber für welchen Buchstaben stand zweimal lang?

      Dann fiel ihr ein, dass Max-Ernest und sie sich einmal die Zeichen für Morsezeichen beigebracht hatten. Das Wort fing mit zwei langen Zeichen hintereinander an.

      Zweimal lang war also M.

      MS.

      Mitternachtssonne! Das musste es sein!, dachte Kass und merkte, wie sie ein leichtes Schwindelgefühl überkam. Max-Ernest wollte ihr sagen, dass Mr Needleman zur Mitternachtssonne gehörte.

      Nun, da Kass ihren Lehrer (zumindest seine Beine) in diesem Licht betrachtete, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sein plötzliches Auftauchen an ihrer Schule. Wie er immer ausgerechnet sie aufs Korn genommen hatte.

      Hatte er deshalb diese Exkursion veranstaltet? Hatte er ihnen deshalb mir nichts, dir nichts freie Zeit gegeben, um selbst nachforschen zu können?

      Und jetzt wollte er sie ohne Zeugen umbringen.

      Nun gut, wenn er das wirklich vorhatte, dann hatte er Pech – vorerst jedenfalls.

      Mr Needleman blickte sich noch einmal nach allen Richtungen um, dann ging er weg.

      Ein niedriges, vor sich hin rostendes Metalltor versperrte ihnen den Weg zum Pier 3. Eine Kette hing locker am Tor, klirrend baumelte sie im Wind.

      »Vielleicht sollten wir hier warten«, schlug Max-Ernest nervös vor.

      »Damit uns Mr Needleman sieht?«

      Kass zog das Tor auf, hinter dem eine morsche Holztreppe zum Vorschein kam, die aussah, als würde sie einstürzen, sobald jemand einen Fuß darauf setzte.

      Was Kass, ohne zu zögern, tat.

      Vorsichtig folgte ihr Max-Ernest nach.

      Der lange, schmale Pier war menschenleer – nur ein paar kleine, muschelüberwucherte Boote lagen da.

      Nichts als die Schreie der Möwen waren zu hören und das Klatschen der Wellen, wenn sie gegen die Boote schlugen, ansonsten war es totenstill.

      Max-Ernest überlief es kalt. »Hier ist es wie in einer Geisterstadt. Nur dass keine Häuser, sondern Boote darin sind. Ich glaube wirklich, wir sollten wieder gehen …«

      »Könntest du einen Moment lang die Klappe halten?«, raunte Kass. »Schau mal dort …«

      Aber das Schiff blitzte, als wäre es nagelneu, sein schwarzer Rumpf glänzte und spiegelte sich auf dem Wasser. Während sie noch das Schiff betrachteten, brach die Sonne durch die Wolken, sie ließ die Segel erstrahlen und das ganze Schiff funkelte wie Gold.

      Es kam immer näher und die Segel wurden gerefft, damit es seine Fahrt verlangsamte. Da sahen sie einen Mann vorne am Bug stehen. (Für alle, die sich mit Richtungsangaben genauso schwertun wie ich: Der Bug ist vorne am Schiff, im Gegensatz zum Heck, das hinten ist.) Die beiden konnten das Gesicht des Mannes nicht erkennen, aber er sah aus wie ein Segler aus dem Bilderbuch. Er hatte einen weißen Hut aufgesetzt und trug eine Marinejacke und … schaute er nicht gerade direkt zu ihnen herüber?

      Ja, mehr noch: Er winkte ihnen zu.

      Kass blickte auf ihre Uhr. Es war Punkt zwölf Uhr mittags.

      Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. War das möglich? Sollte dieses fantastische Schiff etwa ihretwegen gekommen sein? Sollten sie an Bord die Mieheg-Gesellschaft treffen? Wie großartig!

      »Was glaubt ihr beiden, wo ihr euch rumtreiben könnt?!«

      Sie drehten sich um und sahen, wie Mr Needleman mit langen Schritten auf sie zukam; in der Hand hielt er die Harpune.

      Kass nahm Max-Ernest bei der Hand und zusammen liefen sie den Pier entlang.

      Hinter ihnen Mr Needleman, der nun ebenfalls schneller rannte.

      Auf dem Schiff hatte man bereits den Landungssteg für sie herabgelassen (ein breiter Steg mit Handläufen, nicht so eine schmale Planke, wie man sie in Filmen sieht, obwohl ich zugeben muss, das wäre aufregender gewesen) und Kass und Max-Ernest rannten, ohne zu zögern, hinauf.

      Bis sie den Mann erkannten, der oben auf dem Deck stand.

      Dann erstarrten sie so plötzlich, als hätte der Mann übermenschliche Kräfte, mit denen er seine Opfer blitzschnell in Eisskulpturen auf einem gigantischen Büfett aus Meeresfrüchten verwandeln könnte.

      Das Gesicht war das Allerletzte, das zu sehen sie hier erwartet hatten.

      Das Allerletzte, das sie sehen wollten.

      Kass und Max-Ernest blickten über die Schulter. Zurück zu Mr Needleman zu laufen, erschien ihnen plötzlich sehr verlockend. Aber der war nicht mehr da.

      Und was noch schlimmer war: Der Landungssteg wurde hochgezogen und die Mannschaft legte bereits wieder ab. Zurück ans Ufer zu springen, war ausgeschlossen.

      Sie drehten sich um und blickten dieser neuen Ausgabe ihres alten Feindes ins Gesicht. Der Seemann war Dr. L.

      Als er ihre bestürzten Mienen sah, fing er an zu lachen.

      »Warum schaut ihr so entsetzt? Wisst ihr nicht mehr, dass Luciano, dass Dr. L. und ich Zwillingsbrüder sind? Ich bin Pietro. Willkommen an Bord!«

      Mit einem Auge lachend, mit dem anderen vor Erleichterung weinend, schüttelten Kass und Max-Ernest dem Mann die Hand und kletterten dann ganz aufs Schiff.

      Sie waren in Sicherheit!