Wenn du dieses Buch liest, ist alles zu spät. Pseudonymous Bosch

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Название Wenn du dieses Buch liest, ist alles zu spät
Автор произведения Pseudonymous Bosch
Жанр Учебная литература
Серия Das geheime Buch-Reihe
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783401800349



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ein. »Vielleicht war es so etwas wie eine Entführung. Er hat uns verschleppt und wir haben unseren Schwur auf die Gesellschaft unter Hypnose abgelegt. Und jetzt arbeiten wir unter geheimem Befehl, ohne es zu wissen …«

      Kass musste lachen. Max-Ernest war wirklich jederzeit bereit, noch die unwahrscheinlichsten Möglichkeiten in Betracht zu ziehen.

      »War das komisch?«, fragte er überrascht.

      Kass nickte.

      »Was sagt man dazu?«, wunderte sich Max-Ernest und grinste.

      (Zu Kassandras Leidwesen hatten Max-Ernests Ambitionen in puncto Zauberei sein ebenso abwegiges Bestreben, Komiker zu werden, nicht im Mindesten geschmälert.)

      »Ist der Zettel von deiner Mutter?«, fragte Max-Ernest, um das Thema zu wechseln. Er betrachtete das Blatt Papier, das zur Hälfte aus dem Brotzeitbeutel herausschaute.

      Ärgerlich zog Kassandra ihn hervor. Und das stand auf dem Zettel:

      Kass, hier die Einkaufsliste für morgen: Schwarte – vom Metzger, der kein Sch sprechen kann Bier (3) – aber nur das vom Bootshafen 12 Pürierte Mehlkartoffeln Paprika. Butter. Mutter

      Als Kass den Zettel las, wunderte sie sich doch sehr. Und zwar aus mehreren Gründen:

      Erstens war ihre Mutter erst am Vortag einkaufen gewesen.

      Zweitens hatten sie nie Bier im Haus, geschweige denn gleich drei Flaschen.

      Drittens kaufte ihre Mutter Mehlkartoffeln immer roh und nicht püriert. Das machte sie zu Hause selbst. Kass war sich gar nicht mal sicher, ob man überhaupt fertig pürierte Kartoffeln kaufen konnte.

      Viertens unterschrieb ihre Mutter ihre Zettel nie mit »Mutter«. Meistens kritzelte sie nur ein »M«. Wenn sie in besonders liebevoller oder neckischer Stimmung war, verstieg sie sich mitunter auch zu einem »Mommy«. Manchmal, wenn sie Kass beweisen wollte, dass sie sie wie eine Erwachsene behandelte, schrieb sie nur kurz »Mel«.

      Aber nie Mutter, nicht dass Kass wüsste.

      Ein Gefühl der Erregung kitzelte Kass plötzlich in den Fußzehen, blubberte durch ihren Bauch und platzte dann aus ihrem Mund heraus:

      »Hey, sieh dir das an …«, flüsterte sie Max-Ernest zu. »Das kommt von ihnen, da bin ich mir sicher. Es ist eine geheime Botschaft. Kaum zu glauben, aber sie müssen es in meinen Brotzeitbeutel gesteckt haben! Dabei lag er nur eine Stunde in meinem Schrank! Meinst du, Owen ist hier irgendwo?«

      Sie sah sich um. Der Einzige, den sie nicht kannte, war ein asiatisch aussehender Junge, der am Nebentisch saß; er schloss gerade seine Gitarre an einen kleinen, tragbaren Verstärker an.

      Stirnrunzelnd betrachtete Max-Ernest den Einkaufszettel.

      »Glaubst du etwa nicht, dass es sich um eine geheime Botschaft handelt?«, fragte Kass. »Es muss eine sein. Der Zettel ist ganz bestimmt nicht von meiner Mom.«

      »Nein, da hast du recht. Sieht aus, als ob es irgendein Code wäre. Er ist nur etwas verzwickt …«

      Heimlich zog Max-Ernest ein Ding aus der Tasche, das aussah wie ein Gameboy. Pietro hatte es ihm geschickt, und dieses kleine, handliche Gerät war in Wirklichkeit ein ULTRA-Decoder II, der eigens zu dem Zweck erfunden worden war, Geheimbotschaften zu entschlüsseln. In seinem Speicher hatte er mehr als tausend Sprachen und sogar noch mehr Geheimcodes.

      Unter dem Tisch richtete Max-Ernest den Decoder auf die Einkaufsliste und scannte sie.

      »Merkwürdig, der Decoder entziffert gar nichts«, flüsterte er. »Wenn es wirklich ein Geheimcode ist, dann steckt jedenfalls kein System dahinter.«

      Kass seufzte. Und wenn den Zettel nun doch ihre Mutter geschrieben hatte?

      »Das habe ich als Preis gewonnen, als ich bei den Hundert Besten der Skelton-Schwestern aufgenommen wurde«, hörten sie eine vertraute, honigsüße Stimme.

      Die Stimme gehörte Amber, die mit ihrer Freundin Veronika (das zweithübscheste Mädchen der Schule, aber nicht einmal das viert- oder fünftnetteste) vorbeiging. Soweit Kass wusste, war noch keine von beiden dreizehn. Aber irgendwie schienen sie während des Sommers um Jahre älter geworden zu sein. Es lag wohl an ihrer eng anliegenden Kleidung und an dem Glitzer-Make-up. (Kass konnte es kaum fassen, dass Mrs Johnson zuließ, dass die Mädchen so herumliefen, ganz zu schweigen von ihren Müttern.)

      Amber hielt ein funkelndes pinkfarbenes Handy in die Höhe, das mit einem großen roten Herz geschmückt war. »Jedes Mal, wenn die Skelton-Schwestern einen neuen Song herausbringen, habe ich ihn gleich als Klingelton!«, prahlte sie so laut, dass man es auf dem ganzen Schulhof hörte. »Wenn ich dann in ihr Konzert gehe, kenne ich schon alle ihre Lieder. Falls ich noch reinkomme – denn es ist schon so gut wie ausverkauft.«

      (Romi und Montana Skelton waren Teenager und Zwillingsschwestern; sie hatten es im Fernsehen zu einigem Ruhm gebracht und herrschten mittlerweile über ein weitverzweigtes Firmenimperium – twinimageheartsTM inc. –, wo alles Mögliche hergestellt wurde, angefangen von rosafarbenen Flauschrucksäcken bis zu stinkendem Lipgloss. Kass hatte eine ausgeprägte Abneigung gegen die Skeltons – nicht zuletzt deshalb, weil Amber eine ausgeprägte Vorliebe für sie hatte.)

      Kass lachte laut auf. Der Zeitpunkt hätte nicht besser sein können – das Kreischen unterbrach Amber genau in dem Augenblick, wo sie ansetzte, sie alle mit einem dieser entsetzlichen Skelton-Songs zu quälen.

      Kass schaute zu dem jungen Gitarristen hinüber. Er zupfte auf seiner Gitarre herum und blickte dabei gedankenverloren in die Ferne, als säße er irgendwo allein in einer Garage und nicht zusammen mit Hunderten anderer Schüler auf dem Schulhof. Er war ziemlich groß gewachsen für sein Alter, und seine Haare waren wie ein dichter schwarzer Mopp, der ihm über die Augen hing. Er trug hellgrüne Tennisschuhe und ein T-Shirt mit dem Aufdruck

       ALIENS OHRENSCHMERZ

       Wir rocken so laut, man hört’s bis zum Mars

      »Ich wette, das ist der Neue … aus Japan«, sagte Kass zu Max-Ernest. »Du erinnerst dich doch an die Durchsage von Mrs Johnson?«

      Kassandras Lachen war Amber nicht entgangen.

      »Hey, Kass … geht’s dir gut?«, fragte sie und blieb am Tisch stehen, nicht ohne den Gitarristen zuvor von oben bis unten zu mustern.

      »Hm, ja, glaub schon …«

      »Wie schön«, flötete Amber zuckersüß. »Ich hab schon befürchtet, du hättest wegen der Gitarre einen Ohrenschaden abbekommen …«

      Die Richtung, die das Gespräch nahm, behagte Kass ganz und gar nicht.

      »Ich nehme an, deine Ohren sind sehr empfindlich, weil sie – na ja, du weißt schon.«

      »Nein, wir wissen gar nichts!«, brauste Max-Ernest auf. »Ihre Ohren sind völlig normal, Amber. Sie hört nicht mehr und nicht weniger als du.«

      Wie jeder wusste, waren die Ohren Kassandras wunder Punkt. Nicht nur, dass sie groß und spitz waren wie die Ohren eines Kobolds, sie wurden auch sehr schnell knallrot, wenn Kass ärgerlich oder verlegen oder sonst wie aufgebracht war.

      Oder wenn andere über sie sprachen.

      Im Moment nahmen sie gerade eine dunkelrote Farbe an, die ins Violette spielte.

      »Oh, hi, Max-Ernest!«, sagte Amber, als hätte sie ihn gerade eben erst gesehen. »Ich