Название | Wenn du dieses Buch liest, ist alles zu spät |
---|---|
Автор произведения | Pseudonymous Bosch |
Жанр | Учебная литература |
Серия | Das geheime Buch-Reihe |
Издательство | Учебная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783401800349 |
Ein Archäologe hätte hier vermutlich die Geschichte der Mitternachtssonne erforschen können. Ägyptische Statuetten mit Schakalköpfen lagen herum, ebenso große griechische Vasen, die mit Schlachtenbildern geschmückt waren. Helme und Rüstungen aus dem Mittelalter befanden sich neben gotischen Gemälden und Kristallpokalen.
An einer Wand standen die Überbleibsel eines Laboratoriums aus dem sechzehnten Jahrhundert: alte Reagenzgläser und Karaffen, Waagen und Gewichte. Und an der gegenüberliegenden Wand standen die Überbleibsel einer Bibliothek aus dem achtzehnten Jahrhundert: alte Landkarten und Globen, Stapel von Büchern aller Größen und Formate.
Viele der Bücher waren an den Rändern angekohlt – so als hätte man sie aus dem Feuer gezogen. Und das hatte man ja wirklich: aus dem Feuer im Spa der Mitternachtssonne. Aus dem Feuer, das Kass und Max-Ernest höchstpersönlich gelegt hatten, als sie ihren Klassenkameraden Benjamin Blake befreiten.
»Wir sollten zusehen, dass wir hier wegkommen, solange es draußen noch dunkel ist«, sagte Kass.
»Ich weiß – leuchte mir nur einen Augenblick lang.«
Max-Ernest hielt ein großes, in Leder gebundenes Buch in der Hand. Auf smaragdgrünem Grund war in goldenen Lettern die Überschrift geprägt: Lexikon der Alchemie.
Kass richtete den Strahl der Taschenlampe auf das Buch und Max-Ernest blätterte darin, bis er den Eintrag fand, den er suchte.
»Sieh dir das an …«
Homunculus
Die meisten Menschen halten einen Homunculus einfach für einen kleinen Menschen oder einen Zwerg. Aber für einen Alchemisten hat das Wort eine besondere Bedeutung: Für ihn ist es ein Mensch, der von einem Menschen erschaffen worden ist.
Im Mittelalter und auch noch später waren viele Alchemisten davon überzeugt, dass man einen winzigen Menschen in einer Flasche erschaffen könne – wenn man nur im Besitz der richtigen Rezeptur sei. Einige berüchtigte Alchemisten behaupteten sogar, dass ihnen dies tatsächlich gelungen sei.
Aus den Überlieferungen ist nicht klar ersichtlich, welche Zutaten sich am besten eignen. Doch waren alle davon überzeugt, dass man die Flasche in Schlamm oder in Mist vergraben müsse, damit der Homunculus gedeiht …
Völlig vor den Kopf geschlagen starrten unsere beiden Freunde auf die Seite, die vor ihnen aufgeschlagen war.
Fraglos waren sie verblüfft, von einem Menschlein zu lesen, das in einer Flasche großgezogen wurde. Aber es waren nicht nur die erklärenden Worte, die sie entsetzten, es war auch das dazugehörige Bild.
Es war nur eine einfache Schwarz-Weiß-Zeichnung, so klein, dass sie auf eine Streichholzschachtel gepasst hätte. Aber groß genug, dass sie es sahen: die gleichen Glubschaugen, die gleichen Schlappohren, die gleiche große Nase, der gleiche viel zu kleine Körper.
Es gab keinen Zweifel: Der Homunculus sah genauso aus wie das Sockenmonster.
»Hast du den schon mal irgendwo gesehen?«, flüsterte Max-Ernest.
»Nein, ich schwör’s dir.«
»Wie ist das möglich …«
»Woher soll ich das wissen? Es ist mir selbst ein Rätsel.«
Und es stimmte – sie hatte noch nie zuvor von einem Homunculus gehört. Sie war genauso überrascht wie Max-Ernest.
Kass ließ ihre Träume in Gedanken noch einmal vorbeiziehen und erschauerte, als der unheimliche Ton von dem Friedhof ihr in den Sinn kam.
Plötzlich hörten sie Stimmen.
Kass knipste die Taschenlampe aus.
»Bist du dir ganz sicher, dass wir diesen Homunculus dazu brauchen? Gibt es keine andere Möglichkeit?«
Dr. L.
Seine Stimme klang so nahe, als befände er sich hier bei ihnen im Raum.
Kass und Max-Ernest kauerten sich hinter eine große Truhe und wagten es kaum, Luft zu holen.
»Natürlich bin ich mir sicher! Wann hätte ich mich je geirrt?«, erwiderte Madame Mauvais schrill.
»Wo sind die beiden?«, flüsterte Max-Ernest Kass ins Ohr.
Kass hielt ihm den Mund zu. Er nickte und schob ihre Hand beiseite: Hab schon kapiert.
»Du warst überzeugt, dass dieses Ding uns helfen würde, ihn zu finden – dieses Klangprisma. Und, hat es das?«
»Niemand sonst weiß, wo das Grab ist!«, sagte Madame Mauvais, ohne auf seine Frage einzugehen. »Der Homunculus ist der Schlüssel zum Geheimnis.«
Sie konnten unmöglich in diesem Raum sein, dachte Kass. Sie hatte keine Schritte gehört, keine Tür, die sich öffnete. Und doch …
»Was ist mit den beiden Kindern?«
Max-Ernest deutete in der Dunkelheit auf die Truhe vor ihnen: Dr. L.s Stimme schien direkt aus ihr herauszukommen.
»Was soll schon mit ihnen sein?«, fauchte Madame Mauvais. Auch ihre Stimme kam aus der Truhe. »Offenbar haben sie nicht die geringste Ahnung …«
Zitternd knipste Kass ihre Taschenlampe wieder an. Wenn man sie entdeckte, dann wäre alles aus. Aber sie musste Gewissheit haben.
Nein. Sie waren allein. Sie und Max-Ernest atmeten erleichtert auf.
Die Truhe war wuchtig und dunkel und groß genug, dass – nun ja – alle möglichen Sachen darin Platz fanden.
»Komm schon«, flüsterte Max-Ernest, »mach sie auf.«
»Nein, du …«, sagte Kass ungewohnt zurückhaltend.
Max-Ernest schüttelte energisch den Kopf.
Kass zuckte die Schultern – und ließ die Schnappverschlüsse aufspringen.
Ich bin mir nicht sicher, was die beiden in der Truhe vorzufinden glaubten – Dr. L. und Madame Mauvais vielleicht, die wie Vampire in einem Sarg lagen?
Was sie tatsächlich sahen, war: Nichts. Niemand.
Nur einen Ball, der auf einem Tuch lag. Zumindest hielten sie das, was sie sahen, für einen Ball. Du hättest natürlich sofort gewusst, was es ist.
(Weil wir gerade bei dem Thema sind, würdest du mich, bitte schön, dazu beglückwünschen, dass ich über das Klangprisma – von Dr. L. und Madame Mauvais gar nicht zu reden – schreibe, ohne mit der Wimper zu zucken? Ich denke, das war sehr mutig von mir, vielen Dank.)
Die Stimmen waren immer noch zu hören, jetzt sogar noch lauter.
»Wenigstens werden sie uns keine Scherereien mehr machen … nicht wahr, liebster Doktor?«
Ein grausames Lachen war die Antwort. »Ja, dafür werden wir schon sorgen.«
Kass blickte hinter die Truhe, aber da war nicht mal eine Maus zu sehen, geschweige denn ein böser Doktor oder eine unheimliche, alterslose Frau.
»Glaubst du, dass es hier so etwas wie ein Lüftungssystem gibt, durch das man ihre Stimmen hört?«, fragte sie Max-Ernest.
»Höchst unwahrscheinlich. Das ist ein Schiff und kein Bürogebäude. Und ich sehe auch nirgendwo einen Lüftungsschacht. Es sei denn …«
»Es muss der Ball sein«, sagte Kass und beugte sich vor, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen.
»Du meinst, es ist ein Abhörgerät? Eine Art Babyfon? Oder ein Walkie-Talkie? Aber das ist doch Unsinn – das Ding hat vermutlich nicht einmal eine Batterie. Es sieht aus wie eine Handvoll zusammengeknüllte Strohhalme …«
Kass nahm den Ball in die Hand und leuchtete ihn mit ihrer Taschenlampe an; er sah merkwürdig aus