Wenn du dieses Buch liest, ist alles zu spät. Pseudonymous Bosch

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Название Wenn du dieses Buch liest, ist alles zu spät
Автор произведения Pseudonymous Bosch
Жанр Учебная литература
Серия Das geheime Buch-Reihe
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783401800349



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      Auf See

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      Hart nach Lee!«

      Das Schiff steuerte nach links und legte sich bedenklich zur Seite.

      Kass und Max-Ernest klammerten sich aneinander fest und lachten, als die Gischt ihnen ins Gesicht spritzte.

      Um sie herum hievte und hisste die Mannschaft die Segel. Träge klatschten sie am Mast, bis sich der Wind in ihnen verfing und sie sich blähten. Die vielen Messingbeschläge des Schiffs blitzten in der Sonne.

      »Macht euch keine Sorgen, das Schiff ist seetüchtig!«, rief ihr Gastgeber und führte sie auf ein Deck, dessen Holzplanken so geschrubbt und gewienert waren, dass sie spiegelten wie Glas. »Das Schiff ist gut und gerne zweihundert Jahre alt, aber wir haben die modernste Technik an Bord!«

      »Wir machen uns keine Sorgen«, rief Kass zurück. Weshalb auch? Das Schiff war eine Augenweide.

      Und doch wurde sie das bohrende Gefühl nicht los, denn eines war unübersehbar: Dieser Mann sah Dr. L. so ähnlich, dass es schon unheimlich war. Er hatte die gleichen makellos silberweißen Haare, gefrorene Locken, auf immer erstarrt. Die gleiche perfekte Bräune und die gleichen strahlend weißen Zähne, die ihn wie eine Fotografie und nicht wie einen Mann aus Fleisch und Blut aussehen ließen. Und er sprach mit dem gleichen deutlich undeutlichen Akzent.

      Wie kam es, dass in Kassandras Erinnerung Pietro seinem Bruder so gar nicht ähnelte? Wenn sie an Pietro dachte, sah sie für gewöhnlich einen langen, weißbärtigen Mann vor sich, mit blitzenden Augen und einem Zaubermantel – manchmal auch mit Smoking und Zylinder. Hin und wieder auch einen alten Abenteurer mit Tropenhelm. Aber niemals diesen Mann, niemals dieses Bild.

      Sie schob den Gedanken beiseite. Das hier war nun endlich ihr Abenteuer. Das Abenteuer, nach dem sie sich schon so lange gesehnt hatte. Genieß es, sagte sie zu sich selbst.

      »Kassandra, Max-Ernest könnt ihr dieses Tau für mich straff spannen?«, fragte ihr Gastgeber. »Das ist eine Seilwinde. Ihr müsst sie so drehen …«

      Er machte sich kurz an der Winde zu schaffen, dann sagte er: »Ich muss etwas von unten holen. Bin gleich wieder zurück.« Und damit ging er.

      Sie waren froh, etwas tun zu dürfen. Kass stellte ihren Rucksack beiseite und sie und Max-Ernest packten kräftig an. Sie spannten das Tau zum hintersten Segel des Schiffs.

      Aber mit einem Mal erschlaffte das Seil.

      Und noch ehe sie wussten, wie ihnen geschah, hatte sich das Seil um sie gewickelt und sie wurden von den Füßen gerissen. Beide fielen sie auf die harten Holzplanken und schlitterten über die glatten Bretter.

      »Hey!«, rief Kass.

      »Aua!«, schrie Max-Ernest.

      Aber da fesselte sie bereits ein Matrose Rücken an Rücken.

      »Was machen Sie da?«, schrie Kass. »Pietro! Wo sind Sie?«

      »Hören Sie auf damit! Sie tun mir weh!«, protestierte Max-Ernest.

      »Wenn ihr nicht noch mehr Ärger haben wollt, dann hört besser auf, euch zu wehren«, drohte ihnen der Matrose. Sicherheitshalber fesselte er auch noch ihre Hände, dann ließ er die beiden auf Deck zurück.

      »Glaubst du, das ist eine Art Test – um zu sehen, was wir machen, falls wir gefangen genommen werden?«, fragte Kass und kämpfte gegen die Tränen an.

      »Vielleicht, es sei denn … Oh nein, sieh doch nur …« Max-Ernest zeigte mit der Nase nach oben.

      Aus ihrem neuen Blickwinkel sahen sie zum ersten Mal die Flagge, die am höchsten Mast im Wind flatterte.

      Ich wünschte, ich könnte sagen, es sei die Flagge der Mieheg-Gesellschaft gewesen. Oder die Flagge der Royal Navy oder meinetwegen auch der Handelsmarine. Oder wenigstens die Flagge mit dem Totenschädel und den gekreuzten Knochen. Ja, ein Piratenschiff wäre ihnen sicherlich lieber gewesen als das, was sie jetzt mit eigenen Augen vor sich sahen.

      Aber leider war es keine dieser Flaggen.

      Denn die Flagge zeigte eine weiße Sonne auf einem dunklen Hintergrund.

      Es war das Symbol der Mitternachtssonne.

      Auch wenn sie Rücken an Rücken zusammengebunden waren und keiner den anderen sehen konnte, so stand Kass und Max-Ernest doch derselbe verzweifelte Ausdruck ins Gesicht geschrieben.

      Sie waren gefangen. Wieder einmal.

      Und niemand, nicht einmal die Mieheg-Gesellschaft, wusste etwas davon.

      »Was ist denn das?«

      Eine Minute später beugten sich zwei klapperdürre Mädchen – Zwillingsschwestern – über Kass und Max-Ernest und beäugten die neuen Gefangenen auf dem Schiff mit lässiger Neugier. Abgesehen von ihrem unterschiedlich gefärbten Haar (die eine war blond mit lila Strähnchen, die andere braun mit lila Strähnchen) und ihren verschiedenfarbigen Bikinis (der eine war pink mit lila Tupfen, der andere lila mit pinkfarbenen Tupfen) glichen sie einander wie ein Ei dem anderen.

      Nach ihren Gesichtern zu urteilen, waren sie ungefähr sechzehn oder siebzehn Jahre alt, aber ich traue mir nicht zu, ihr wahres Alter zu bestimmen. Jedenfalls gehörten sie zur Mitternachtssonne. Das war Kass und Max-Ernest sofort klar, sobald sie gesehen hatten, dass die Mädchen Handschuhe trugen.

      »Was meinst du mit das?«, fragte Lilamitpink.

      »Das da«, antwortete Pinkmitlila und deutete mit den Zehenspitzen auf Kass und Max-Ernest. Sie bewegte sich merkwürdig ruckartig – als wäre sie eine Marionette, die man an Fäden zieht.

      »Ach das«, antwortete Lilamitpink.

      »Ja, Koboldohren und Struwwelpeterfrisur«, sagte Pinkmitlila.

      Da erst wurde Kass und Max-Ernest klar, dass sie von ihnen sprachen.

      »Ich bin Kass und das ist Max-Ernest«, sagte Kass und bemühte sich, unerschrocken zu klingen. »Hier ist etwas fürchterlich schiefgelaufen. Könntet ihr bitte –«

      »Der Kobold ist eine Kass, der Struwwelpeter ein Max-Ernest«, sagte Lilamitpink und kümmerte sich gar nicht um Kass.

      »Oh, und was ist dann das?«

      »Hab ich dir doch gesagt – es ist eine Kass.«

      »Nein, das da – das Ding hier«, sagte Pinkmitlila. Sie zeigte mit dem Fußzehen auf das Sockenmonster, das an Kassandras Rucksack baumelte – ein paar Meter zu weit weg, sodass Kass es nicht an sich nehmen konnte.

      »Ach, das. Das ist süß. Das muss ich unbedingt haben!«

      »Ich muss es noch unbedingter haben!«

      »Aber du weißt doch gar nicht, was es ist …«

      »Du doch auch nicht!«

      »Na und?«

      »Selber na und.«

      »Hey, das ist mein Sockenmonster und ihr könnt es beide haben – wenn ihr uns losbindet«, sagte Kass verzweifelt. »Ich kann euch sogar noch eines machen.«

      Die Mädchen glotzten Kass an, als wäre sie gerade durch die Luft geschwebt oder als hätte sie sich in einen Frosch verwandelt.

      »Kommt gar nicht infrage! Ich glaube, das da wollte uns gerade sagen, was wir zu tun haben!«, sagte Lilamitpink.

      »Kommt gar nicht infrage! Ich werde das Ding nehmen, nur damit das da weiß, wer hier das Sagen hat.«

      »Kommt gar nicht infrage! Ich nehme es …«

      Die zwei Mädchen grabschten nach dem Sockenmonster und rempelten sich gegenseitig an. Klapperdürr, wie sie waren, fielen beide hin, direkt auf Kass und Max-Ernest. Ihre sonnengebräunte Haut war überraschend feucht und kalt