Wenn du dieses Buch liest, ist alles zu spät. Pseudonymous Bosch

Читать онлайн.
Название Wenn du dieses Buch liest, ist alles zu spät
Автор произведения Pseudonymous Bosch
Жанр Учебная литература
Серия Das geheime Buch-Reihe
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783401800349



Скачать книгу

der Seeanemone sind Mund und Hinterteil dasselbe. Sie isst mit ihrem Hintern.«

      »Igitt!«, kreischte Amber. »Igitt! Igitt! Igitt!«

      »Ganz wie du meinst«, sagte Mr Needleman. »Jojo-schi, hör bitte auf damit, sie zu piksen. Kass, das hätte ich nicht von dir gedacht! Du siehst zu, wie dein neuer Klassenkamerad ein Meerestier quält.«

      »Tut mir leid«, sagte Kass, obwohl sie sich insgeheim fragte, weshalb ihr Lehrer annahm, dass sie sich für jemand anderen entschuldigen sollte. »Aber er hat dem Tier nichts getan – ich habe es genau gesehen.«

      »Schon gut. Dennoch möchte ich, dass ihr alle miteinander etwas vorsichtiger seid. Schaut euch mal die an …« Er zeigte auf die kleinen, stacheligen Bälle, die um die Felsen herumlagen und aussahen wie kleine Stachelschweine. »Das sind Seeigel. Bitte tretet nicht darauf. Das ist sehr schmerzhaft. Für euch und die Seeigel.« Mr Needleman gluckste. »Aber falls ihr doch aus Versehen einen zerquetscht habt, sagt mir Bescheid – man kann aus ihnen sehr gut Sushi machen.«

      Die Kinder stöhnten alle auf.

      Mr Needleman hatte einen feuerroten Bart und ein aufbrausendes Wesen, das dazu passte.

      Er war erst in diesem Herbst aus Neuseeland gekommen und Kass war sehr gespannt darauf gewesen, ihn kennenzulernen, denn Naturkundelehre war ihr Lieblingsfach und Neuseeland ihr Lieblingsland. (Sie war zwar noch nie dort gewesen, aber sie hatte in den Reiseführern ihrer Mutter darüber gelesen: Regenwälder, Gletscher, Vulkane – alles in einem einzigen Land!) Doch anstatt sie zu seiner Lieblingsschülerin zu machen, wie Kass es gehofft und auch ein bisschen erwartet hatte, hatte es Mr Needleman von allem Anfang an auf sie abgesehen und sie bei jeder Gelegenheit unfreundlich behandelt.

      Kass wusste selbst nicht genau, weshalb, sie wusste nur, dass ihrer beider Weltanschauung völlig unterschiedlich war. Mr Needleman bezeichnete sich selbst als einen »überzeugten Skeptiker« und als »Aufklärer«. Soweit Kass es verstand, hieß das, dass er viele abfällige Bemerkungen über die globale Erwärmung, oder wie er es nannte, den »globalen Schwindel« machte.

      »Schaut euch doch diese sogenannten Wetterexperten an!«, sagte er jedes Mal, wenn die Rede auf dieses Thema kam. »Diese Hohlköpfe können nicht einmal sagen, wie das Wetter in der nächsten Woche wird – wie also wollen sie vorhersagen, wie es in fünfzig Jahren sein wird?«

      Wie du dir leicht denken kannst, brachte Kass das auf die Palme, den sie hielt sich für eine Expertin, was Wetterkatastrophen anging.

      Aber war das wirklich der Grund, weshalb er sie jedes Mal sofort aufrief, sobald sie im Unterricht einen Augenblick lang unaufmerksam war? War das wirklich der Grund, warum er immerzu behauptete, er sei enttäuscht von ihrer Arbeit?

      Max-Ernest vermutete, dass Mr Needleman nur deshalb so viel von Kass verlangte, weil er sie sehr schätzte; aber sie selbst hatte ganz und gar nicht diesen Eindruck.

      Der Tag war kalt und nieselig und die Wellen gingen hoch.

      Mittlerweile war schon die halbe Klasse von den Uferfelsen abgerutscht oder in Pfützen hineingestolpert, andere waren ins Meer geschubst worden.

      Kass und Max-Ernest hatten es geschafft, trocken zu bleiben – Kass, weil sie gut von einem Felsen zum anderen springen konnte, und Max-Ernest, weil er sich bemühte, so weit vom Wasser wegzubleiben, wie es nur ging. (Wie Kass in einem besonders unpassenden Augenblick während ihrer Mission im Spa der Mitternachtssonne herausgefunden hatte, konnte Max-Ernest nämlich gar nicht schwimmen.)

      Aber die beiden waren aus einem ganz anderen Grund nervös.

      Sie waren nun schon seit einer halben Stunde am Gezeitentümpel hin und her gelaufen und hatten noch immer keinen Grund gefunden, um sich von der Gruppe abzusetzen.

      Kass hatte eigentlich vorgehabt zu sagen, sie müsse mal auf die Toilette gehen, und nachdem sie weg war, sollte Max-Ernest das Gleiche sagen. Aber Mr Needleman hatte darauf bestanden, dass die Referendarin alle Schüler begleitete, die aufs Klo mussten; dieser Plan war also hinfällig. Kass hatte überlegt zu sagen, sie wäre seekrank und ob sie zum Bus zurückgehen könne, aber Max-Ernest, der sich bestens mit allen Arten von Krankheiten auskannte, erklärte ihr, seekrank könne man nur auf einem Schiff werden. Es sei eine Krankheit, die von der Bewegung komme – und keine Krankheit, die man sich am Ufer zuziehen könne.

      Kass wurde allmählich immer verzweifelter und so fiel sie Mr Needleman mitten in seinen Ausführungen über rote Algenteppiche ins Wort und fragte ihn, ob die Klasse nicht etwas Zeit bekommen könnte, um selbst Nachforschungen anzustellen. »Sie sagen immer, wir sollten unseren eigenen Kopf anstrengen – wie sollen wir das machen, wenn wir nur Ihnen hinterherlaufen?«

      Es gibt nicht viele Erwachsene, die sich auf diesen Einwand eingelassen hätten, aber Mr Needleman war Kass gegenüber plötzlich wie ausgewechselt. »Weißt du, was, du hast völlig recht«, sagte er. Einfach so.

      Kass war so überrascht, dass sie beinahe weiter mit ihm diskutiert hätte. Mr Needleman teilte den Schülern mit, sie könnten ein paar Minuten lang tun, was sie wollten, solange alle in Sichtweite blieben und niemand mit Stöcken nach den Wassertieren schlage.

      Kass schaute auf die Uhr. Noch zehn Minuten bis Mittag.

      Noch zehn Minuten, bis sie Pietro Bergamo treffen sollten, den fast schon verloren geglaubten Magier.

      Zehn Minuten, bis ihr neues Leben als Mitglieder der Mieheg-Gesellschaft offiziell beginnen sollte.

      Auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht befand sich eine Werft – mit drei Docks – und mehrere große Felszungen trennten sie vom Gezeitentümpel.

      »Geh langsam und tu einfach so, als würdest du dir die Gegend anschauen«, flüsterte Kass Max-Ernest zu.

      Als sie sich den Felsen näherten, zog sich die Flut gerade zurück und zwischen den Felsen und dem gurgelnden Wasser kam ein schmaler Streifen Küste zum Vorschein.

      »Komm schon!«, sagte Kass ungeduldig.

      Max-Ernest zögerte. »Aber ich –«

      »Willst du lieber schwimmen?«

      Als das Wasser wieder heranschwappte, standen sie auf einem schmalen Sandstreifen. Rings um sie her ragten zerklüftete Felsbrocken auf, aber sie waren in Sicherheit und auf dem Trockenen, jedenfalls für den Augenblick.

      Leider hatten sie ein ganz anderes Problem: Jojo-schi war ihnen gefolgt.

      »Hey, Mann, wo geht ihr hin?«, rief er ihnen nach, während er durch die Brandung watete.

      Max-Ernest und Kass sahen sich ratlos an: Was nun?

      Kass schaute schnell auf die Uhr: Ganze sechs Minuten blieben ihnen noch.

      »Hey, Jojo-schi, ich weiß, wir kennen uns erst seit Kurzem, aber … kannst du uns einen Riesengefallen tun?«

      Jojo-schi war einverstanden, Schmiere zu stehen, aber nur unter einer Bedingung: dass sie ihm sagten, wohin sie gehen wollten.

      »Okay«, willigte Kass schnell ein. »Aber können wir dir das später erzählen?«

      Ohne eine Antwort abzuwarten, stieß Kass Max-Ernest vorwärts.

      Jojo-schi sah ihnen nach, verärgert und verblüfft zugleich.

      »Aber vergesst die Drei-Punkte-Regel nicht«, rief er ihnen nach.

      »Was ist das?«, fragte Max-Ernest.

      »Achte stets darauf, dass zwei Hände und ein Fuß oder zwei Füße und eine Hand den Felsen unter dir berühren«, sagte Kass und schenkte Jojo-schi ein Lächeln. Dabei hatte sie gedacht, sie wäre die Einzige, die das wüsste!

      Dann kletterte sie die Felsen hoch.

      Max-Ernest wartete, aber nur so lange, bis die nächste Welle kam und ihn bis zu den Knöcheln vollspritzte.

      Auf der anderen Seite der Felsen angekommen, rannten sie am Strand entlang, bis ihnen ein baufälliger Schuppen den Weg versperrte. Es war ein alter Geräteschuppen, den