Название | Wenn du dieses Buch liest, ist alles zu spät |
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Автор произведения | Pseudonymous Bosch |
Жанр | Учебная литература |
Серия | Das geheime Buch-Reihe |
Издательство | Учебная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783401800349 |
Wie der Gesang von Feen oder Sylphen.
Als ob tausend leise Stimmchen in unseren Ohren klängen.
Über uns flattert eine Krähe durch den Regen und verschwindet krächzend in der Dunkelheit.
Für Sekunden erhellt ein Blitzstrahl die Grabsteine zu unseren Füßen, aber sie sind schon so vom Alter verwittert, dass auf ihnen keine Spur eines Namens oder eines Datums mehr zu erkennen ist. Es sind keine Grabmäler mehr, es sind nur noch Steinbrocken.
Was sie bedecken, das ist ihr Geheimnis.
Hektisch huscht eine Maus zwischen den Steinen umher. Als wolle sie sich aus einem Labyrinth befreien. Aus einer tödlichen Falle.
Bald kommen noch mehr Mäuse hinzu. Sie kämpfen sich schwimmend durch den Schlamm. In ihrem verzweifelten Versuch zu entkommen klammern sie sich mit den Krallen aneinander fest.
Unwillkürlich fällt unser Blick auf die Stelle, von der sie zu fliehen suchen. Ein offenes Grab, auf dem ein zerborstener Grabstein liegt. Als der Blitz ein zweites Mal den Himmel erleuchtet, erkennt man die schartigen Kanten des Steins.
Der Wind trägt die fremdartige, unheimliche Melodie zu uns – bis ein Donnerschlag sie erstickt.
Während wir noch schauen, kippt der gebrochene Grabstein vornüber – und fällt mit einem klatschenden Geräusch in den Schlamm. Zurück bleibt ein klaffendes Loch. Klumpen von Lehm fliegen heraus. Ein Vulkan, der Schlamm speit.
Zuerst taucht eine Hand aus der Grube auf, dann die zweite – beide sind riesengroß. Halt suchend krallen sie sich in die nasse Erde.
Und dann: eine Nase.
Zumindest halten wir es für eine Nase, aber ebenso gut könnte es ein Blumenkohl sein …
»Kassandra …!«
Wir schauen nach unten. Eine einsame, hilflose Maus ruft uns etwas zu – ihr Ruf klingt, als käme er von weit, weit her.
»Steh auf, Kass – es ist schon spät!«
Die Stimme hat eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Stimme unserer Mutter …
Schaudernd hob Kass den Kopf von ihrem Kissen.
Sie war jetzt Mitglied in einer gefährlichen Vereinigung, rief sie sich in Erinnerung. Nämlich der Mieheg-Gesellschaft. Oder zumindest würde sie es bald sein. Also konnte sie sich doch nicht von so einem läppischen Traum Angst einjagen lassen.
Wie hatte doch gleich Pietro, der alte Magier, in seinem Brief geschrieben? Wenn sie und Max-Ernest erst einmal den Eid der Mieheg-Gesellschaft abgelegt hätten, dann müssten sie »der Gefahr und der Not ins Angesicht schauen«. Und sie müssten »allen Befehlen gehorchen, ohne Fragen zu stellen«.*
Wenn sie nicht einmal ihren eigenen Träumen ins Auge sehen konnte, wie sollte sie dann ihren wirklichen Feinden, Dr. L. und Madame Mauvais zum Beispiel, entgegentreten? Oder den Meistern der Mitternachtssonne?
Aber das merkwürdige Lied ging ihr einfach nicht aus dem Sinn, ja es verfolgte sie geradezu.
Immer wieder.
Jede Nacht hatte sie einen anderen Traum, aber immer kam dieses Lied darin vor.
Warum nur?
»Kassandra!«
Ihre Mutter rief sie von unten. Kass konnte zwar nicht jedes Wort verstehen, aber sie wusste genau, was ihre Mutter sagte:
Steh auf, es ist schon spät! Ich muss zur Arbeit ( … oder zum Yoga … oder zu einer Besprechung). Auf dem Herd stehen Haferflocken ( … oder Müsli auf der Anrichte … oder eine Waffel im Toaster). Denk dran, dass du heute eine Mathe- Probe hast ( … oder ein Buch vorstellen musst … oder Oboen-Unterricht hast). Ich hab dich lieb!
Zurzeit schloss ihre Mutter fast jeden Satz mit den Worten Ich hab dich lieb!. Es war wie ein Satzzeichen oder wie ein nervöses Zucken.
»Ich hab dich lieb!«
Na bitte.
Die Tür fiel ins Schloss, ihre Mutter war aus dem Haus gegangen.
Kass hatte keine Lust aufzustehen, also lag sie nur da und starrte an die Wand gegenüber.
Die Wand des Schreckens, wie ihre Mutter sie nannte.
Hunderte Ausschnitte aus Zeitungen und Zeitschriften klebten an der Wand und alle berichteten über schreckliche Unglücke oder drohende Katastrophen …
Erdbeben. Vulkanausbrüche. Tsunamis. Tornados.
Es hingen auch Bilder von Seevögeln an der Wand, deren Gefieder ölverklebt war, und von Eisbären, die dem Verhungern nahe auf schmelzenden Eisbergen standen. Von Atompilzen und Giftpilzen, von Killerbienen und tödlichen Schimmelsporen.
Auf Postern und Schautafeln konnte man lesen: WIE MAN FROSTBEULEN BEHANDELT … Der Heimlich-Handgriff … DREI ANZEICHEN FÜR EINE VERBRENNUNG DRITTEN GRADES … Das Erste-Hilfe-ABC
Und mittendrin: ein Artikel über einen Bären, der Camper in den Bergen in Angst und Schrecken versetzt hatte. BÄR ODER BIGFOOT?, lautete die Überschrift.
Die meisten Menschen – wie Kassandras Mutter zum Beispiel – würden eine solche Wand ziemlich beunruhigend finden. Auf Kass hingegen wirkte sie überaus beruhigend.
Normalerweise jedenfalls.
Als Überlebenskünstlerin wollte Kass auf das Schlimmste vorbereitet sein. Sie glaubte, sie würde alles überstehen, wenn sie nur wusste, was auf sie zukam.
Ein Hurrikan? Verbarrikadiere die Fenster. Eine Dürre? Sammle Wasservorräte. Feuer? Keine Panik. Atme möglichst keinen Rauch ein, suche einen sicheren Fluchtweg.
Aber das alles waren ja natürliche Katastrophen, und Kass fragte sich unwillkürlich, was sie täte, wenn sich jemals eine übernatürliche Katastrophe ereignen würde.
Das war das eigentlich Beunruhigende an ihren Träumen. Sie waren seltsam und irrational. Sie ergeben keinen Sinn, wie ihr Freund Max- Ernest zu sagen pflegte. (Max-Ernest redete zwar ununterbrochen, aber alles, was er sagte, war immer sehr logisch.) Ein Erdbeben war vielleicht nicht mit letzter Sicherheit vorauszusagen, aber wenigstens gehorchte es den Naturgesetzen.
In den meisten ihrer Träume kamen ein monsterhaftes Geschöpf und ein schauriger, alter Friedhof vor. Wie soll man sich auf so etwas vorbereiten?
Nicht dass Kass ernsthaft geglaubt hätte, ihre Träume würden wahr; nein, abergläubisch war sie nicht. Es war einfach nur so, dass die Träume ihr so unglaublich echt vorkamen.
»Auf diesem Friedhof muss etwas sein, was du dir wünschst«, hatte Max-Ernest sofort vermutet, als sie ihm davon erzählte. »Ein Traum ist die Erfüllung eines Wunsches. Behauptet jedenfalls Sigmund Freud. Wie findest du das?«*
»Aber warum sollte ich mir ein Monster wünschen?«, hatte Kass zurückgefragt. Max-Ernests Eltern waren Psychologen – deshalb nahm sie an, dass er sich auskannte.
»Na ja, ich weiß nicht, ob man tatsächlich behaupten kann, du hättest dir das gewünscht. Ich glaube, Träume sind wie Dinge, von denen man sich nicht eingesteht, dass man sie gern hätte. Weil man sich dann schuldig fühlt oder weil’s peinlich ist oder sonst was. Man nennt es das Unbewusste«, hatte Max-Ernest erklärt. »Ist alles ist ein bisschen verwirrend.«
Kass