Darcian. Julia Lindenmair

Читать онлайн.
Название Darcian
Автор произведения Julia Lindenmair
Жанр
Серия
Издательство
Год выпуска 0
isbn 9783946843887



Скачать книгу

sind wir jetzt noch nicht.

      »Ich werde nun dein Leben mit dir durchgehen, bevor wir uns an die Arbeit machen.« Ich ziehe einen kleinen, schmalen Ordner in der Farbe meiner Flügel aus meiner Gürteltasche.

      »Was ist das?« Charlie klingt angespannt.

      Ein verräterisches Grinsen schleicht sich auf meine Lippen. »Das, mein Freund, ist deine Akte.«

      Er schluckt und zieht die Augenbrauen nach oben. Für einen Moment hat es ihm die Sprache verschlagen, das gibt mir die Zeit, ihm alles vorzulesen, was seine Akte über ihn preis gibt – sein gesamtes Leben als Charlie Fields: seine Stärken, seine Schwächen, seine guten Taten und seine weniger guten. Seine Vorlieben und Hobbys. Seine Entscheidungen, seine Lügen und die Geheimnisse, die er bis jetzt mit sich herumgetragen hat. Einfach alles.

      Als ich fertig bin, sehen wir uns an. Er ist, wie alle Seelen, sprachlos und glaubt in einem schlechten Albtraum gefangen zu sein. Ich schenke ihm ein breites Lächeln.

      »Du kannst dich jetzt von deiner Frau verabschieden. Hören wird sie dich zwar nicht, aber du fühlst dich danach besser.« Ich werfe einen Blick in die Akte. »Kinder hast du nicht, wie ich lese, dann geht’s schneller. Ich gebe dir eine Minute, in der ich weder eine Träne sehen noch einen Seufzer hören will, sonst gebe ich Diabolus Bescheid, damit er dich übernimmt.«

      Abrupt schlage ich die Akte wieder zu, was einen lauten Knall verursacht, der Charlie zusammenzucken lässt.

      »Diabolus? Ist das der Teufel?«

      »Teufel, Satan, Beelzebub, wie auch immer ihr Erdenbewohner ihn nennt. Das Grauen unter jedem Kinderbett, die endlose Schwärze im finsteren Kellerabteil, der Schatten in unzähligen Nischen und die Heimsuchung in jedem Albtraum. Das ist Diabolus, wie er leibt und lebt.«

      Charlie seufzt erleichtert auf. »Gott sei Dank. Ich dachte schon, du wärst der Teufel.«

      Ich rolle mit den Augen. »Ja, das denken die meisten. Aber verglichen mit Diabolus bin ich ein süßer Welpe«, gebe ich etwas herablassend zu.

      Charlies schreckverzerrte Falten auf der Stirn ebnen sich langsam.

      »Knuddeln gibt’s trotzdem nicht!«, füge ich noch rasch hinzu. »Nicht, dass wir jetzt sentimental werden. Oder noch schlimmer, Freunde. So was kann ich nämlich gar nicht ab.«

      »Ähm, nein. Freunde werden wir bestimmt nicht«, lacht Charlie unnatürlich laut auf.

      Mit einem Flügelsatz rücke ich näher an ihn heran, hebe eine Augenbraue und sage in ernstem Ton: »Warum nicht? Willst du etwa nicht mit mir befreundet sein?«

      »Nein … ähm … ich meine … sicher …« Charlie stottert wie ein Maschinengewehr.

      »Ich mach nur Spaß«, stoße ich gellend lachend hervor und klopfe dem sichtlich verwirrten Charlie mit überschwänglichen Schlägen auf seinen breiten Rücken. »Du bist ein wirklich sympathisches Kerlchen«, gebe ich zu, bevor ich meine Stimme von amüsiert wieder zur gewohnt tiefen und rauen senke. »Aber jetzt beeil dich, ich habe schließlich nicht die ganze Nacht Zeit. Auf mich wartet noch eine weitere Seele, die in Kürze abgeholt werden muss.«

      Schnell drehe ich mich um und gehe einige Schritte von Charlie weg, weil ich weiß, wie wichtig den Menschen die Intimität mit ihren Liebsten ist. Obwohl die Seelen wissen, dass die andere Seite sie nicht hören kann, schütten sie ihnen ein letztes Mal ihr Herz aus. Wie unsinnig. Ich halte nichts von solch rührseligem Quatsch.

      Wir Todesengel kennen keine Liebe. Gefühle machen bloß schwach und blind. Unsere Art der Zuneigung sind belanglose Flirts und, wie Menschen es nennen, bedeutungslose schnelle Nummern. Daher weiß ich nicht, was diese Gefühlsschwafelei überhaupt soll. Aber ich nehme es hin und warte bis er fertig ist, was definitiv länger als eine Minute dauert.

      »Bist du endlich soweit?« Ich lasse meinen Fuß ungeduldig auf und ab wippen. Ich habe genug von diesen weißen Wänden.

      Er schnieft und starrt dabei auf den dunkelblau gemusterten Bodenbelag, über dem er schwebt. »Fertig schon, aber bereit noch lange nicht.«

      »Das sind die wenigsten. Nimm jetzt meine Hand.«

      »Und dann?«

      Meine Mundwinkel formen sich zu einem Grinsen. »Wirst du schon sehen.«

      Zögernd schwebt er auf mich zu – das hat er zugegebenermaßen schneller beherrscht, als ich es ihm zugetraut habe.

      Meine Hand ist das erste, das er nach seinem Tod spürt. Sie wird auch das Letzte sein, denn die Seelen im Jenseits können sich untereinander nicht berühren.

      Obwohl ich weiß, dass ich das Portal alleine durch meine Gedanken öffnen kann, bewege ich meine Arme in kreisenden Bewegungen vor mir her. Nach meiner Erfahrung finden es frische Seelen eindrucksvoller, wenn ich aus so etwas Unbedeutendem eine Art Kunststück mache. Auch Charlie staunt nicht schlecht, als sich das Portal vor seiner Nase öffnet. Kreisrund und hell strahlend, wie die Sonne selbst. Jetzt beginnt der spannendste Teil meines Jobs.

      »Wir werden gleich ins Jenseits übergehen. Was dich dort erwartet, kann ich jetzt noch nicht sagen, da jede Seele einer bestimmten Zone zugeteilt wird. Als Grundlage für diese Zone dient natürlich dein Leben. Wie du es gelebt hast und was dich davon geprägt hat.«

      Charlie schluckt schwer. »Könnte ich auch in der Hölle landen? Oder im Fegefeuer?«

      Ich muss laut lachen. Die Vorstellungen der Menschen über den Tod hinaus sind so absurd lächerlich. »Nein. In die Unterwelt zu Diabolus werden lediglich Seelen geschickt, die sich ihrer Zone im Jenseits nicht als würdig erweisen. Befolgst du die Regeln und lernst deinen Tod anzunehmen, wird dir nichts passieren.«

      Ein Seufzer der Erleichterung glimmt mir entgegen.

      »Auf geht’s«, sage ich im Befehlston.

      Obwohl es nur den Bruchteil einer Sekunde dauert, zwischen den beiden Welten hin- und her zu wandern, fühlt sich die aufkommende Zeitlosigkeit immer wie eine endlos lange Schleife an. Man schwebt durch eine substanzlose Schwärze, gefüllt mit dem Nichts der beständigen Unendlichkeit, direkt hinein in den anziehenden Glanz einer gellenden Lichtkugel.

      Als wir die andere Seite erreichen, führt Charlie sofort seine rechte Hand an seine Stirn. An das grelle Licht müssen sich die frischen Seelen immer erst gewöhnen.

      Ich sehe mich um. Auch für mich ist es jedes Mal aufregend herauszufinden, welche Zone des Jenseits der Rat einer Seele zugewiesen hat. Da es Tausende von Möglichkeiten gibt, ist es nicht immer leicht, gleich auf den ersten Blick die jeweilige Zone zu erkennen. Diesmal fällt es mir jedoch nicht schwer.

      Ein Meer aus plastischen Menschen gleitet uns entgegen, umringt von knallweißen Häusern, die bis hinauf in den violetten Himmel ragen, unter dem Bäume und Blumen in sattem Grün erstrahlen. Einige Seelen hüpfen schrill lachend auf den Dächern herum, wiederum andere schweben in liegender Position leicht wie Wolken dahin. Jede Substanz strahlt einen individuellen Farbton aus: von Knalltürkis, über leuchtendes Fuchsrot, bis hin zu dem Grellorange einer Morgendämmerung. Ich beobachte immer wieder, wie beeindruckend das für Neuankömmlinge ist. Das Farbenspektrum reicht weit über das der Erde hinaus, was oft dazu führt, dass viele frische Seelen anfangs vor Staunen komplett vergessen, warum sie eigentlich hier sind.

      Charlie reibt sich die Augen und rümpft die Nase. Ich weiß, dass ihn die Umgebung blendet und er vorerst nur verschwommen sieht, aber das wird sich schnell ändern.

      »Hier riecht es …«

      »… nach einer Mischung aus Myrrhe und Weihrauch, vermischt mit Lavendel und einem Hauch von Zimt. Du wirst dich daran gewöhnen.«

      Charlie zwinkert und langsam scheint er die Umgebung wahrzunehmen. Er wirft den Kopf in den Nacken und bestaunt die unzähligen Farben über sich wie ein kleines Kind. »Aber … das ist ja eine Großstadt.«

      Ich nicke zustimmend. »Die Stadt der Vergebung. Ein bildhaft schöner Ort, um zu verzeihen und loszulassen. Da hat sich Mox ja was ganz Spezielles für dich