Название | Darcian |
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Автор произведения | Julia Lindenmair |
Жанр | |
Серия | |
Издательство | |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783946843887 |
Auch dieser Mann wird meiner Einschätzung gerecht. Er schwebt über der Materie aus Fleisch und Knochen, die ihn viele Jahre herumgetragen hat, und reißt die Augen weit auf, als er mich sieht.
»Du bist nicht echt. Nein, du bist nicht echt!« Seine Stimme zittert in der Luft.
»Im Augenblick bin ich für dich vielleicht nicht echt, doch unecht bin ich noch viel weniger.« Ich liebe diesen Satz, den ich ungefähr zehn Mal am Tag sagen darf.
Erst formt Charlie seine Finger zu einem Kreuz und streckt sie mir entgegen. Er merkt jedoch, dass es nichts bewirkt, stößt ein entsetzliches Winseln aus und brüllt mich an: »Weiche von mir, du Dämon!«
Ich fahre mir durch mein rabenschwarzes Haar und verdrehe die Augen. Nichts Neues dabei heute. Als ob ich gegen seinen Zustand etwas machen könnte – als ob ich daran schuld wäre.
»Hör auf mich anzuschreien«, äußere ich mich mit ruhig klingender Stimme. Niemand kann dem Tod entfliehen, die Erdenbewohner wissen das genauso gut wie wir Himmelsbewohner. Doch obwohl sie die ganze Tortur bestimmt schon hundert Mal durchgemacht haben, überrascht sie der Wechsel vom Leben auf den Tod immer wieder.
Allerdings will ich nicht kleinlich sein. Daher versuche ich Charlie Zeit zu geben, um mit seinem Leben auf der Erde abzuschließen und die Schwerelosigkeit in den Griff zu bekommen.
»Wer oder was bist du?«, schreit er mich erneut an, während er irritiert dreinblickend auf dem Kopf steht. Ich bin mir sicher, eigentlich will er sich das selbst fragen, denn sein immaterieller Körper scheint ihm mehr als suspekt zu sein. Seine Umrisse leuchten in einem kühlen Blau, während die schillernde Substanz unter der zittrigen Neonlampe durchsichtiger wirkt. Wie jede Seele wirkt auch er, als hätte man ihn von oben bis unten Azurblau angemalt, wobei seine Lippen, Fingerspitzen und Haare in noch kräftigeres Blau getunkt wurden. Sogar das Dunkelbraun seiner Augen wird jetzt von einem hervorstechenden Hellblau dominiert.
Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Wenn du soweit bist, ins Licht geführt zu werden, gib Bescheid«, bitte ich, ohne auf seine Frage einzugehen. Er wird noch früh genug erfahren, wer ich bin.
Mit einem Seufzen rauft er sich die wenigen Haare, die er in den Tod mitgenommen hat, und versucht armrudernd sein Gleichgewicht zu stabilisieren. Ich grinse, da ich frischen Seelen gerne dabei zusehe, wie sie sich zum Affen machen. Dieser Mann toppt zweifellos den heutigen Tagesrekord an schiefen Grimassen und lauten Kreischattacken.
»Du wirst mich nicht mitnehmen!« Sein gellender Aufschrei fährt mir durch meine schwarzen Flügel.
»Das stimmt, ich werde dich nicht mitnehmen. Du wirst freiwillig mitkommen«, berichtige ich die aufgebrachte Seele. »Und jetzt konzentriere dich bitte auf deine Standfestigkeit!« Wartend massiere ich meine Schläfen, während er an seiner weinenden Frau vorbeischaukelt und damit beginnt, seinen leblosen Körper zu inspizieren – das Werkzeug, das er jahrelang benutzt hat.
»Das kann doch unmöglich ich sein?« Er glotzt seinen Körper mit geweiteten Augen an.
Ich blinzle und ziehe die Brauen nach oben. »Da gebe ich dir recht. Du siehst ganz gut genährt aus für einen kranken Körper, der sich viele Wochen nur mit Flüssignahrung über Wasser gehalten hat. Aber von den fleischigen Wangen mal abgesehen, hast du dich für Anfang siebzig echt gut gehalten. Ich vermute, die Gene deines Vaters sind hier durchgeschlagen. Er wird sich übrigens freuen, dich zu sehen.«
Stirnrunzelnd blickt mich Charlie an. So, als ob er nicht weiß, was er darauf antworten soll. Und so handelt er auch – er antwortet nicht.
Seine Frau, die noch immer über ihren leblosen Gatten gebeugt ist, hält seine blasse Hand und weint die weiße Bettdecke voll. Sie wird ihn erst loslassen, wenn sie seinen Körper abholen, da bin ich sicher.
»Das muss ein Traum sein … ein Albtraum. Ich muss zurück in meinen Körper, dann wird alles gut.« Es ist nur ein Flüstern, doch ich verstehe Charlie laut und deutlich.
Ich grinse in mich hinein. Sie sind alle gleich.
»Jetzt beruhig dich mal, komm runter.« Gemächlich führe ich meine Hände auf und ab, als würde ich ihn anbeten. Das praktisch veranlagte Geschlecht reagiert oft gestresster als das weibliche Gegenstück. Meiner Erfahrung nach muss man mit ihnen behutsamer umgehen. Bedächtig und thematisch, langsam und sachlich. So haben sie es mir in unzähligen Schulungen beigebracht.
»Aber du … du hast Flügel – schwarze Flügel! Und ich … ich bin durchsichtig und fliege …«
»Du schwebst«, korrigiere ich ihn.
»Ich … schwebe … und da liegt mein Körper! Wie kann-«
»Atme«, unterbreche ich ihn, »Das musst du trotzdem, okay? Atme tief ein und wieder aus. Die Luft muss aus dem Bauch, damit du dich stabilisieren kannst. Und dann versuche, deine Füße auf den Boden zu stellen. Das ist leichter, als es sich anhört. Los, probiere es mal.« Gehorsam befolgt er meine Anweisungen und steht nach ein paar wackeligen Ansätzen endlich nach meinen Vorstellungen vor mir.
»So ist es besser, oder?«
Er schwankt herum, als würde er auf einem Drahtseil balancieren, nickt jedoch.
»Wer bist du also?«, seine Lippen beben bei dieser Frage.
Ich räuspere mich. »Mein Name ist Darcian und ich bin ein Todesengel«, fasse ich mich kurz.
Die Augen des Mannes werden so riesig, als würden sie ihm gleich aus den Höhlen purzeln wollen.
»Keine Angst, du musst mich nicht fürchten. Ich bin kein typischer Todesengel, so wie es euch Menschen überliefert wird. Von mir gibt es ja die wildesten Geschichten.« Ich lache gestelzt auf.
»Also bist du nicht hier, um mich zu töten?«
»Ich bin nicht hier, um dich zu töten, denn das bist du ja schon.« Ich lache über meinen eigenen Wortwitz, doch stoße dabei nur auf einen kritischen Blick.
»Also gut, dann erkläre ich es heute zum hundertsten Mal.« Prustend nehme ich eine gerade Haltung ein, um noch größer zu wirken, als ich es ohnehin schon bin. »Der Himmel schickt mich, um dich ins Jenseits zu bringen, denn ich bin ein Portalwächter. Sozusagen das Band zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Ich bin der, den ihr Tunnel nennt – was auch immer das bedeuten soll.«
Ich bin mit meiner Erklärung fertig, jedoch wirkt Charlie nun noch verstörter als zuvor. »Ähm, stell dir einfach vor, ich bin für die nächste Zeit dein Gefährte. Derjenige, der dir schnellstmöglich erklärt, was du vom Jenseits wissen musst, bevor du die Grenze vollständig überschreiten wirst. Obwohl du wissen solltest, dass es im Jenseits so etwas wie Zeit nicht gibt. Daher gebe ich dir jetzt die Zeit, die Zeit so schnell es geht zu vergessen.« Während ich erneut laut auflache, verdreht Charlie die Augen. So weit ist er also schon. Wie die meisten frischen Seelen scheint er einen Witz nicht von einer ernsten Unterhaltung unterscheiden zu können.
»Danach werden sich unsere Wege trennen«, fahre ich schnaubend fort. »Bis dahin musst du mir vertrauen. Und zwar nur mir. Hast du das verstanden?«
Er nickt zögerlich. Ich bin mir nicht sicher, ob er kapiert hat, was ich gesagt habe, denn sein Blick verharrt lediglich auf meinen schwarzen Flügeln. Menschen sind ja so primitiv. Was denken sie sich? Dass ein blonder, vollbusiger Engel mit glitzernd weißen Flügelchen vor ihnen sitzt, auf einer Harfe spielt und sie tagelang tröstet und bemuttert? Quatsch. Das ist doch hier kein Wunschkonzert.
Ein solcher Unfug ist etwas für Liebesengel wie Lucien, die den ganzen Tag nichts anderes zu tun haben, als Pfeile in die Hintern von Erdenbewohnern zu schießen. Uns Todesengel muss man ernst nehmen, sonst wird uns schnell auf der Nase herumgetanzt – was absolut ärgerlich ist, wenn man bedenkt, wie viele frische Seelen ich am Tag ins Jenseits führe. Meine Gestalt mag zwar in jeglicher Hinsicht angsteinflößend sein, trotzdem scheint genau das ein Problem zu sein. Es fällt frischen Seelen nicht immer leicht, mir auf Anhieb zu vertrauen. Daher versuche ich es anfangs immer mit kühler