Rebeccas Schüler. Tira Beige

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Название Rebeccas Schüler
Автор произведения Tira Beige
Жанр Языкознание
Серия Rebeccas Schüler
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783752924428



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      Ob­wohl es Re­bec­ca nicht durf­te, sag­te sie aus dem Bauch her­aus: »Geh nach Hau­se, egal wel­che Stun­den du heu­te noch hast.«

      »Dan­ke«, ant­wor­te­te er lei­se, be­vor er mit Trä­nen im Ge­sicht das Klas­sen­zim­mer ver­ließ. Vor dem Raus­ge­hen lä­chel­te er sie noch ein­mal sanft an.

      Re­bec­ca frag­te sich, wie sie die chao­ti­schen Ge­füh­le in ih­rem In­ne­ren ver­a­r­bei­ten soll­te – zu­mal nach dem Ge­spräch mit Lou heu­te. Mit Paul konn­te sie nicht spre­chen, da er je­dem ernst­haf­ten Di­a­log aus dem Weg ging – so­gar, wenn es ihre Be­zie­hung be­traf. Ly­dia mit ih­ren Sor­gen be­hel­li­gen? Das woll­te sie nicht. Schließ­lich hat­te ihre Freun­din ge­nug mit ih­rer Ehe zu tun. Re­bec­ca muss­te ein bes­se­rer Weg ein­fal­len, mit ih­ren Pro­ble­men, die sie be­ruf­lich und pri­vat be­las­te­ten, um­zu­ge­hen.

      Zu Hau­se an­ge­kom­men, sin­nie­rend in ih­rem Ar­beits­zim­mer sit­zend, hol­te sie ein ver­gilb­tes Pa­pier aus dem Roll­con­tai­ner ih­res Schreib­tischs her­aus und schrieb:

      Diens­tag, den 8. März

      Lie­ber Paul,

      fragst du dich nicht, wel­chen Sinn un­se­re Be­zie­hung noch hat? Bist du wirk­lich so naiv zu glau­ben, dass wir eine Zu­kunft ha­ben? Ich habe dich ge­liebt. Aber das ist schon lan­ge her. Die Lie­be er­kal­te­te, als du im­mer schweig­sa­mer wur­dest. Als du dich nur noch um das Haus ge­küm­mert und mich ver­nach­läs­sigt hast. Ich war und bin dir nicht mehr wich­tig. Un­se­re Be­zie­hung ist eine Fa­r­ce. Ein Zu­sam­men­le­ben zwei­er Men­schen, die sich nichts mehr zu sa­gen ha­ben.

      Wir strei­ten uns we­nig und ich schla­fe mit dir, ob­wohl es mir von Mal zu Mal we­ni­ger Lust be­rei­tet. Ja, ich wün­sche mir eine Fa­mi­lie, ein Haus, Lie­be. Aber ob ich je­mals das in dir sehe, was ich mir er­träu­me, weiß ich nicht. Ich bin mir nicht mehr si­cher, ob es rich­tig ist, das fort­zu­füh­ren, was wir be­gon­nen ha­ben.

      Ich weiß nicht, ob ich noch mit dir zu­sam­men sein möch­te, wo ich dich doch im Geis­te be­reits be­trü­ge: wie­der und wie­der, und zwar mit ei­nem mei­ner Schü­ler. Er heißt Elou­an, ist zwan­zig Jah­re alt und geht in die elf­te Klas­se. Ich spü­re Lust, wenn ich an ihn den­ke. Ich füh­le, dass sich da mehr ent­wi­ckeln könn­te. Die Be­zie­hung ist ver­bo­ten, ich darf mich ihm nicht nä­hern und doch ist da et­was zwi­schen uns, das ich nicht er­klä­ren kann.

      Ich wün­sche mir Si­cher­heit. Die kannst du mir ge­ben. Was könn­te mir ein so jun­ger Mann schon bie­ten? Ich wün­sche mir vor al­lem Lie­be, Paul. Ver­stehst du? Aber Lie­be ist ein Wort, das dir fremd in den Oh­ren klingt. Du bist dir wich­tig, dann kommt lan­ge nichts und ir­gend­wann kom­me ich.

      Ich wünsch­te, ich könn­te of­fen und ehr­lich mei­ne Mei­nung äu­ßern; wünsch­te, ich könn­te dir ins Ge­sicht sa­gen, wie sehr ich mich von dir ver­nach­läs­sigt füh­le, wie un­auf­merk­sam und kalt du bist. Bit­te, Paul, wenn du mich nicht ver­lie­ren willst, dann zei­ge mir, dass ich dir et­was wert bin!

      Dei­ne Re­bec­ca

      PS: Tom hat eine Af­fä­re mit sei­ner Se­kre­tä­rin De­ni­se. Wo­her ich das weiß? Weib­li­che In­tu­i­ti­on.

      Die Wor­te spru­del­ten in Win­desei­le aus Re­bec­ca her­aus. Aber so, wie sie den Brief zu Ende ge­schrie­ben hat­te, be­reu­te sie ihn schon.

      Gleich­zei­tig er­leich­ter­te es sie, Paul ihre Ge­füh­le ge­stan­den zu ha­ben, so ver­wir­rend, un­zu­sam­men­hän­gend, wi­der­sprüch­lich sie wa­ren. Und den­noch: Nie wür­de sie den Mut auf­brin­gen, den Brief in die­ser Form zu über­rei­chen.

      Sie be­schloss, das Do­ku­ment in das obe­re Schub­fach ih­res Roll­con­tai­ners, der sich un­ter dem Schreib­tisch be­fand, ein­zu­schlie­ßen. Re­bec­ca kram­te nach ei­nem al­ten Brief­um­schlag und steck­te das Pa­pier­stück dort hin­ein. Da­nach schob sie das Schub­fach des Roll­con­tai­ners zu und schloss ihn ab. Ge­füh­le, ein­ge­schlos­sen in einen Roll­con­tai­ner.

      Wo­hin mit dem Schlüs­sel? Auf dem Fens­ter­brett stand eine klei­ne Email­le­do­se, auf der zwei in­ein­an­der ver­schlun­ge­ne Her­zen ab­ge­bil­det wa­ren. Paul hat­te sie ihr zum ers­ten Jah­res­tag ge­schenkt. Es er­schien Re­bec­ca pas­send, den Schlüs­sel dort hin­ein­zu­wer­fen. Sie wuss­te, dass er nie auf die Idee kom­men wür­de, in die­se kit­schi­ge Dose zu schau­en.

      Re­bec­ca sehn­te das Wie­der­se­hen mit Lou am Don­ners­tag ent­ge­gen. Die ers­ten drei Stun­den hat­te sie mit dem Kunst­un­ter­richt in den un­te­ren Klas­sen­stu­fen ver­bracht.

      Nun saß sie am Lehrer­tisch des Deut­sch­raums und sah zu, wie ein Ju­gend­li­cher nach dem an­de­ren in den Kurs­raum ge­schlurft kam. Nur Lou war nicht dar­un­ter. Re­bec­cas Blick ging Rich­tung Tür, in der Hoff­nung, dass Elou­an doch noch auf­tauch­te – er er­schien aber nicht mehr.

      In ei­ner ru­hi­gen Mi­nu­te im Un­ter­richt such­te Re­bec­ca das Ge­spräch mit Ali­cia: »Weißt du, was mit Lou ist?«, frag­te sie, am Tisch der Schü­le­rin ste­hend.

      »Er war ges­tern auch nicht in der Schu­le. Wir ha­ben nach­mit­tags te­le­fo­niert, da ich ihm die Haus­auf­ga­ben vor­bei­brin­ge. Da mein­te er bloß, dass er sich nicht wohl fühlt.«

      Re­bec­ca ver­mu­te­te, dass sei­ne Mit­schü­le­rin nicht ahn­te, wor­an er wirk­lich litt. Si­cher­lich stan­den sein Feh­len und sein Ver­hal­ten am Diens­tag in ei­nem Zu­sam­men­hang. Trau­te er sich nicht mehr, sei­nen Mit­schü­lern ge­gen­über­zu­tre­ten? Schäm­te er sich noch im­mer? Re­bec­ca hät­te am liebs­ten selbst bei ihm an­ge­ru­fen, al­ler­dings woll­te sie sich un­gern in Din­ge ein­mi­schen, die sie nichts an­gin­gen.

      Glü­ck­li­cher­wei­se traf sie Hei­di in der nächs­ten Pau­se im Leh­rer­zim­mer. Als Re­bec­ca ihr von Lous Feh­len be­rich­te­te, schau­te die Tu­to­rin ver­wirrt drein. Sie wuss­te nicht, dass ihr Kurs­schü­ler seit ges­tern fehl­te. »Okay, ich rufe mal bei ihm an.« Kur­zer­hand nahm sie ihr Smart­pho­ne aus der Ta­sche und wähl­te eine dar­in ein­ge­spei­cher­te Num­mer.

      Nach we­ni­gen Se­kun­den hör­te Re­bec­ca Lous ver­trau­te Stim­me am an­de­ren Ende der Lei­tung. »Elou­an? Hier ist Frau En­ger. Frau Pe­ters steht ne­ben mir. Sie sagt, du fehlst schon seit ges­tern. Geht es dir gut?« Eine kur­ze Pau­se ent­stand. Lou ant­wor­te­te et­was, das Re­bec­ca aber nicht ver­stand. Hei­di nick­te wäh­rend des Ge­sprächs ei­ni­ge Male, dann sag­te sie: »Ist gut. Ku­rier’ dich aus und wir se­hen uns dann nächs­ten Mon­tag wie­der, ja?«

      Er­neut ver­strich eine kur­ze Pau­se. Dann leg­te die di­cke, äl­te­re Frau auf und wand­te sich wie­der Re­bec­ca zu. »Elou­an ist er­käl­tet. Mach dir kei­ne Sor­gen, er ist Mon­tag wie­der da.« Sei­ne Lüge zog bei Hei­di, denn sie dreh­te sich un­be­ein­druckt weg.

      Wäh­rend Re­bec­ca noch über­leg­te, ob sie ihr die Wahr­heit sa­gen soll­te, ob­wohl sie Lou ver­spro­chen hat­te, es nicht zu tun, wur­de die Tu­to­rin von ei­nem ins Zim­mer tre­ten­den Kol­le­gen an­ge­spro­chen und ihre Auf­merk­sam­keit auf ein neu­es The­ma ge­lenkt.

      An die­sem Tag war et­was an­ders. Re­bec­ca woll­te in der Schu­le blei­ben. Sie woll­te er­fah­ren, was mit Lou los war. Sie woll­te end­lich be­grei­fen, was ihn be­schäf­tig­te. Sie woll­te sei­ne Krank­heit durch­drin­gen.