Killerwitwen. Charlie Meyer

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Название Killerwitwen
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847684800



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und lass die Finger von der Marianne.“

      Sie stapfte schwerfällig den Hauptweg hinunter und atmete tief durch. Unten in der Stadt schlugen die Kirchturmuhren halb neun, und erst wenige Frühaufsteher beugten stumm die Rücken über verwandtschaftlichen Gräbern oder kreuzten, ächzend unter dem Gewicht überschwappender Gießkannen, die Wege. Noch gaben Hunderte zwitschernder, tschilpender und tirilierender Vögel auf dem Friedhof den Ton an, und zehn Meter vor Emmi hoppelten zwei aufgeschreckte Wildkaninchen mit angelegten Löffeln und weiß blitzender Blume über den Weg, die Reste bunter Grabsträuße noch zwischen den großen Raffzähnen. Aus dem Ribbenkopp’schen Buchenwald hinter den Gräbern stieg der Morgennebel auf, und erste zaghafte Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg zur Erde. Die Luft war lau.

      Ein schöner Morgen, dachte Emmi tief durchatmend und blieb dann plötzlich stehen. Schon wieder der Alzheimer. Da erzählte sie Hermann allen möglichen Brimborium, aber das Wichtigste, dass die rote Lola auszog und heiratete und dass angeblich Sauerbachs und Sauerbachs Verwandtschaft die Mittelhäuser aufkaufen wollten, vergaß sie schlichtweg.

      Wieso?

      „O Mann!“, schimpfte sie ärgerlich und stampfte mit dem Fuß auf. „Am Montag muss mir der Kühne irgendwas gegen die Vergesslichkeit verschreiben!“ Sollte sie kehrtmachen und den Hügel wieder hochstiefeln? Nein, Hermann konnte gut und gern bis zum nächsten Mal warten, zumal, wenn er derart dummes Zeug schwätzte.

      Sie gähnte lauthals, als sie das Friedhofstor durchschritt und sich mit dem klemmenden Fahrradschloss abmühte. Eine schlaflose Nacht mehr, mit all den krausen Erinnerungen und dem Wissen um eine ungewisse Zukunft. Was würden die neuen Nachbarn sein? Krakeelendes Pack? Naserümpfende Etepetetes? Oder Abziehbilder ihrer Verwandten, den Sauerbachs? Schmidtchen Schleicher, hatte Hermann den Erwin immer genannt und von Perdita als von Schmidtchen Schleichers Pusselchen gesprochen.

      Böse Vorahnungen plagten sie, als sich Emmi gähnend in den Sattel schwang und die schmale Nussbaumallee hinunterrollen ließ. Die waldbestandenen Hügel jenseits der Leine schienen zum Greifen nahe. Kein Schönwetterdunst hing über dem Tal, und nur aus den Wäldern dampfte es noch hier und da. Irgendwann in der Nacht war sie nach einem gewaltigen Donnerschlag hochgeschreckt, und am Morgen hatte der Anzeiger düster orakelt: Gewitter in der Vollmondzeit, verkünden Regen lang und breit. Es sah tatsächlich nach Regen aus.

      Kurz nach neun bog Emmi in die Weidenstraße ein und ließ ihre Blicke geistesabwesend über die Häuser der Buchenhain-Siedlung schweifen. Das Gartencenter öffnete gerade seine Tore, und die ersten Autos rangierten vor den wenigen freien Parkplätzen. Der Meier saß im Rollstuhl vor seinem Haus und winkte ihr matt zu, das griesgrämige Gesicht in schiefe Falten gelegt. Sein dritter Schlaganfall machte ihm zu schaffen. Eine Haustür weiter, im Eckhaus zur Sackgasse Im Birkenpfuhl, werkelte Annemarie Sipkov im Vorgarten herum. Als sie Emmi sah, richtete sie sich mit schmerzverzogenem Gesicht auf, eine Hand im Rücken, und rief etwas Unverständliches.

      Emmi winkte dem Meier und der Sipkov halbherzig zurück und schnitt gedankenverloren und schwungvoll die Kurve. Eine Schrecksekunde später stand sie auf der Bremse. Sipkovs hohe Buchenhecke hatte ihr die Sicht versperrt, und sie kam gerade noch mit schlitterndem Hinterrad vor dem Kühlergrill eines großen blauen Möbeltransporters zum Stehen. Die beiden Fahrer, die sich in kurzen Hosen im Führerhaus Rücken an Rücken auf den Sitzen lümmelten, die nackten Beine zum Fenster rausbaumeln ließen und spitzfingrig dampfenden Kaffee aus Pappbechern schlürften, grinsten unverschämt, als sie mit zitternden Knien abstieg.

      „Na, Gnädigste, immer schön langsam“, rief der Mann hinter dem Lenkrad aus dem Fenster. „Wir sind ja nicht mehr die Jüngste, und bei Ihrem Alten zu Hause, da dauert‘s bestimmt auch noch ‘ne kleine Weile, bis er einen hochkriegt!“

      Einen Moment lang verdrehten die Beiden hinter der Windschutzscheibe die Köpfe, um sich verdutzt anzusehen, dann rissen sie gleichzeitig die Zähne auseinander, brachen in ein schallendes Gelächter aus, klatschten sich auf die nackten Oberschenkel und suchten sich mit verrenkten Oberkörpern gegenseitig in die Rippen zu boxen. Der Kaffee schwappte schwarz und heiß über, und in das Gelächter mischten sich kleine Schmerzensschreie.

      „Mann, das kam einfach so raus, sag ich dir.“ Der Fahrer, ein breitschultriger Bursche mit schon hohem Haaransatz und pockennarbigem Gesicht, rang keuchend nach Atem.

      „Mensch, ich glaub, ich pinkel mich ein. Bei dem Alten zu Hause ... Du Schorsch, das ist der Witz des Jahres, den musst du heute Abend unbedingt dem Chef erzählen.“ Der Beifahrer, einen halben Kopf kleiner, mit eingefallenen Wangen und schmalen Lippen, krümmte sich japsend und blickte bewundernd.

      „Ach nein“, keuchte Schorsch und verfärbte sich bescheiden. „Nein, ich weiß nicht. Meinst du denn wirklich? Ich dachte, der Schulze wär so ein Vornehmer, der unsereins links liegen lässt.“

      „Da ... da liegst du aber voll daneben. So einer ist das nicht. Wenn’s hart auf hart kommt, steht der wie eine Eins hinter seinen Leuten, und für einen guten Witz ist er allemal zu haben. Mensch, nee, sowas aber auch ... Glaub mir ruhig, der lacht sich reinweg schimmelig.“

      „Na, wenn du’s sagst. Ist aber auch wirklich ein guter Witz, oder?“

      „Ehrlich, sowas hätte ich dir gar nicht zugetraut. Warte mal“, der Beifahrer beugte den Oberkörper und streckte den Kopf aus dem Fenster. „Nichts für ungut, junge Frau, aber ein klasse Witz war das doch, was? Bei deinem Alten dauert‘s auch noch ’ne Weile ...“

      „’Ne kleine Weile“, unterbrach Schorsch eifrig. „Ich habe kleine Weile gesagt!“

      Der Beifahrer lachte gutmütig. „Eine kleine Weile, richtig. Das klingt auch viel besser. Weißte, was meine Oma sagen würde, wenn sie noch lebte? Das bringt die Kacke erst richtig zum Dampfen! Ich sage dir, die hatte Sprüche drauf, dass meine Mutter einen Kopf kriegte wie eine Tomate vorm Platzen!“

      Emmi stand starr. Das Blut schoss ihr in die Wangen, sie öffnete den Mund – und schloss ihn wieder. Es gab nichts, was sie in diesem Augenblick hätte sagen können, die maßlose Empörung hatte alle Worte in ihrem Kopf getilgt. Hilflos starrte sie nach oben, durch die Windschutzscheibe direkt in die aufgerissenen Münder der beiden Männer, und ihre Hände krampften sich mit weißen Knöcheln um die Lenkstange des Fahrrades. Abscheulich war das erste Wort, das ihr schließlich wieder einfiel.

      „Das ist ... ist ab-scheu-lich!“, wiederholte sie mechanisch. „Wirklich ab-scheu-lich!“

      Im Möbelwagen schwappte erneut die Heiterkeit über. Man klappte die Oberkörper nach vorn, ließ sich Köpfe zusammenknallend zurückfallen und trommelte mit den aus den Fenstern baumelnden Beinen in wilden Wirbeln Beulen in den blauen Lack der Türen.

      Es war schließlich die rote Lola, die quer durch ihren Vorgarten hetzte und die empörende Szene beendete. Sie packte den Beifahrer mit festem Griff an der zappelnden nackten Wade, und einen Moment lang dachte Emmi tatsächlich verblüfft, sie täte es, um den Mann zu strafen und ihr zu helfen. Doch die rote Lola selbst belehrte sie gleich darauf eines Besseren.

      „Aber meine Herren! Meine Herren, nicht doch – sie müssen doch nicht so ungemütlich in ihrem Häuschen da oben Kaffee trinken und an einem Keks knabbern. So große, kräftige Männer wie Sie brauchen ein ordentliches Frühstück. Kommen Sie man rein, ich brat’ Ihnen ein paar Eier mit Schinken und dazu gibt’s ein schönes kaltes Bier!“

      Und die beiden großen kräftigen Kerls zogen brav ihre Waden ein, hopsten aus den aufgerissenen Türen und ließen sich, noch immer kichernd und ohne Gegenwehr, von der roten Lola unterhaken und ins Haus geleiten, Emmi und ihrer Empörung einfach die zuckenden Rücken zuwendend. Das letzte, was sie hörte, war ein dezentes Aufquieken, als zwicke irgend jemand irgend jemanden irgendwohin.

      „Also, das ist doch ...“

      Was für ein schamloses Weib. Da schickte sie sich an, einen Professor Doktor Doktor zu heiraten, einen Studierten mit bestimmt mehr als nur einem Bücherregal im Haus, und quiekte trotzdem geschmeichelt auf, sobald sie der erstbeste Möbelpacker zwickte - der Himmel mochte wissen wohin. Ließ sich zwicken,