Killerwitwen. Charlie Meyer

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Название Killerwitwen
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847684800



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groß und stark und nichts als Pudding in den Knochen. Und jetzt lass mich erst mal meine Jacke ausziehen und bring das Fahrrad in den Keller. Es muss ja nicht unbedingt im Garten stehen bleiben!“

      „Wo ... ich meine, wo genau...“

      „Auf dem Parkplatz vom Supermarkt, wie ich es mir schon dachte!“

      „Und wenn es der Falsche war?“

      „Was glaubst du wohl, mein Sohn, wie viel Kühlwagen pro Tag mit den Resten eines Meerschweinchens in den Reifenrillen durch Koppstedt fahren?“

      Und David war würgend aus dem Zimmer gerannt.

      Niemand kam damals und forderte Rechenschaft.

      „Keine Zeugen, keine Anklage“, murmelte Emmi und spitzte nachdenklich die Lippen. Ob den Lastwagenfahrer auch nur die leiseste Ahnung beschlichen hatte, wem er die beiden platten Vorderreifen verdankte? Eher wohl nicht. Ein Meerschweinchen unter einem so dicken Reifen huckelte wahrscheinlich nicht einmal, und im Anzeiger stand am nächsten Tag nur, Zeugen hätten zwei dunkelhäutige Männer in der Nähe des Tatortes gesehen, was die Suche der Polizei auf das Asylantenwohnheim im Nachbarort Kleinheim beschränkte.

      Der Gefreite David Nichterlein robbte währenddessen bereits wieder durch die Lüneburger Heide.

      Neben dem Hängeschrank in der kleinen Küchenecke hing ein grünlackiertes Holzbrettchen mit einer Rolle abreißbarer Einkaufszettel. Meiner lieben Mami stand in rotem Lack über der Rolle und darunter Deine Julia. Emmi seufzte. Wie lange war das nun schon her, dass Julia das letzte Mal Mami zu ihr gesagt hatte. Als sie älter wurde und die Kinder in der Schule anfingen sie zu hänseln, wechselte sie zu Mutti über, im Erwachsenenalter zu Mutter, und seit ihrem dreißigsten Lebensjahr sparte sie sich die Anrede ganz. Ihre eigenen Kinder sagten Julia zu ihr oder blöde Kuh. Je nach Laune.

      Wenn dich niemand sieht, Emmi ...

      „O nein!“ Sie zerrte so heftig am Papierstreifen, dass der Nagel aus der Wand riss. Das grünlackierte Brettchen schepperte zu Boden, und drei Meter Einkaufszettel ringelten sich luftschlangenartig um ihre Beine.

      „Schockschwerenot, das reicht jetzt!“ Wütend trat sie nach dem Brettchen, Holz kratzte über Linoleum, und die Rolle wickelte sich vollends ab. Sie bückte sich schnaufend und zerknüllte die sich windende Schlange zu einem handlichen papierenen Ball, der zusammen mit dem Meiner-Mami-Brettchen in den Abfalleimer wanderte. Diese Zeiten waren endgültig vorbei, und das nostalgische Kleben an staubigen Erinnerungsstücken löste nur melancholische Seufzer und schlaflose Nächte aus. Julia war neun gewesen, als sie das Brettchen lackiert hatte. Eine spillerige bezopfte Göre mit Zöpfen, die drei dicke Stücke Buttercremetorte verdrücken konnte, ohne auch nur ein Gramm zuzunehmen. Wer hätte gedacht, dass sich der Floh zu dieser großen, kräftigen Frau mit dickem Bauch und gebärfreudigem Becken auswachsen würde, die eine Horde Kinder aufzog, zehn Kühe melkte und die eigene Butter stampfte.

      Emmi riss ein Blatt vom Briefblock und schrieb mit Schwung:

      Champignon-Baguettes, tiefgefroren

      Butter

      Äpfel (nicht die harten grünen)

      Toastbrot

      Orangensaft vom Aldi

      Nägel

      Sie stutzte. Nägel? Wozu um alles in der Welt brauchte sie Nägel?

      Das weißt du doch, flüsterte das kleine Teufelchen in ihrem Kopf. Für den Möbelwagen da draußen. Du bist doch noch keine tatterige Oma, die sich nicht zu wehren weiß, oder?

      „Halt den Rand“, sagte sie laut und strich Nägel energisch durch.

      Schokolade

      Nein, auch keine Schokolade, davon wurde man zu griffig.

      Trockenpflaumen

      Mineralwasser

      Gouda (1/4)

      Mülltüten

      Nägel

      „Also, das ist doch!“, murmelte sie empört. „Ich hab’ Hunderte von Nägeln im Keller. Wozu sollte ich welche kaufen?“ Und versank für Minuten in eine tiefe innere Einkehr und nagte gedankenverloren am Bleistift. Wie diese Kerle aber auch gebrüllt hatten vor Lachen, und wie peinlich es gewesen war, als die rote Lola kam und alle drei sie so einfach auf der Straße stehen ließen. Bei dem Alten zu Hause dauert‘s bestimmt auch nochne kleine Weile, bis er einen ... Es musste doch am Alter liegen, dass sie die Beleidigungen so stumm hinnahm. Oder am Alzheimer. Blieb ihr diese aphasische Stummheit nun bis an ihr Lebensende erhalten? Und wo bitte schön war denn der Mumm in ihren eigenen Knochen? Kümmerling, würde Hermann hetzten, du bist schon genauso ein Kümmerling wie dein feiger Herr Sohn! Wehr dich gefälligst.

      Baldrian-Dragees, schrieb sie mit angenagtem Bleistift auf den Einkaufszettel. Darunter: Schlaf- und Nerventee. Klopapier, aber nicht wieder den billigen Krepp aus dem Osten, mit dem man sich die Haut vom Po scheuerte. Was noch? Marmelade? Zitronen? Mohrrüben? Ja, Zitronen vielleicht. Aber nur, wenn sie nicht so grün waren wie die letzten. Zucker? Salz? Einen Hammer? Nein, ein Hammer lag im Kellerregal neben der Keksdose mit den Nägeln. Aber das Salz könnte sie mitbringen. Jetzt gab es ja nicht nur welches mit Jod, sondern auch mit ... mit ... ? War das nicht dasselbe Zeugs, das man neuerdings gegen Fußpilz in öffentliche Freibäder schüttete? Dieses ... dieses ...

      „Alzheimer“, rief sie wütend und begann, um den Esszimmertisch zu wandern. Sollte sie oder sollte sie nicht? Wenn du es nicht tust, flüsterte das Teufelchen eindringlich, dann gehörst du auch schon zu den alten Schnepfen, die sich kampflos rupfen lassen.

      „Na schön“, nuschelte sie unterlippeknabbernd, „aber sag hinterher bloß nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.“

      Etwas wurde ihr nur zu deutlich bewusst, als sie bedächtig die Kellertreppe hinunterstieg, den Blick fest auf die Kühltruhe gerichtet, an deren rechter oberer Ecke vor fünfzehn Jahren dieses graue Zeugs aus Hermanns Kopf geklebt hatte. Das Alter forderte Tribut. Bei der Sache mit dem Meerschweinchen waren weder Entschluss noch Ausführung der Bestrafung ein Thema gewesen, und jetzt zitterten ihr schon die Knie, wenn sie bloß in den Keller sollte, um das Werkzeug zu holen.

      Sie schüttete eine Asselfamilie aus der Einkaufstasche, klaubte im hinteren Keller Hammer, Kneifzange und die blecherne Nagelkeksdose aus dem Regal, und stieg mit Butterknien die Treppe wieder hinauf. Die meisten Nägel waren verrostete Reliquien aus Hermanns halbherziger Handwerkerperiode Anfang der Sechziger. Meist kleine ungeeignete Bildernägelchen. Aber es gab auch ein paar größere, und einer davon schien ihr durchaus geeignet. Er war lang, dünn und spitz, besaß aber einen breiten Kopf. Ob es derselbe war, den sie damals benutzt hatte?

      Durch das Esszimmerfenster sah sie Kreszentia Kuhn gebückt den Weg hinter den Gärten entlangschlurfen, in der linken Hand die gelbe Sprühdose Ameisentod, rechts die rote Dose mit dem durchgestrichenen pinkelnden Hund auf dem Etikett. Beides nutzte wenig, aber die Zimtzicke Kuhn zeichnete von jeher eine außergewöhnliche Hartnäckigkeit aus, und sie schien wild entschlossen, in verstärktem Maße nach der Flucht ihres Karls, keinerlei persönliche Niederlagen mehr dulden zu wollen. Emmi ächzte vor Aufregung. Was, wenn vor ihrem Haus ebenfalls jemand herumschlich und sie bei ihrem Treiben überraschte. Was, wenn Sauerbachs sie aus ihrem Wohnzimmerfenster beobachteten, oder der gelähmte Meier in seinem Rollstuhl irgendwo zwischen den Büschen seines Gartens lauerte. Was, wenn die Taube hinter der Gardine hockte? Was, wenn die beiden großen stämmigen Möbelpacker sie auf frischer Tat erwischten und gewalttätig wurden?

      Emmi ließ sich schnaufend auf einen Stuhl fallen und versuchte, das Gedankenwirrwarr zu enttoddern. Ihre Finger schlossen sich um den langen kalten Nagel. „Hab Vertrauen, Emmeline“, murmelte sie dumpf. „Steh auf und tu es einfach.“

      Sie gehorchte, schlich auf Zehenspitzen in den Flur, als gelte es einen Eindringling rücklings zu überfallen, und horchte an der Wand. Stimmengewirr und Geschirrklappern. Die rote Lola bewirtete noch ihre Gäste. Die Einkaufstasche am Arm