Die vergessenen Kinder. Herbert Weyand

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Название Die vergessenen Kinder
Автор произведения Herbert Weyand
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847624301



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Wir haben eine Nachricht aufgefangen.“ Der junge Mann stand befangen in der Bürotür.

      „Was gibt es denn?“ Fabian Schröder sah unwillig hoch.

      „Herr Schröder, wir sollen Sie bei festgelegten Wortkombinationen benachrichtigen.“ Er hielt ein Blatt Papier in die Höhe und trat vor den Schreibtisch.

      „Gib her“, sagte Schröder und nahm das Papier. Mit der anderen Hand winkte er den Überbringer hinaus. Er studierte die Nachricht und griff den Telefonhörer. „Martha. Verbinde mich bitte mit dem Innenminister.“ Kurze Zeit später stand die Direktleitung und das Freizeichen ertönte, bis nach kurzer Zeit abgenommen wurde.

      „Herr Innenminister. Hier Schröder. Bundeskriminalamt. Ich möchte Sie nicht lange aufhalten.“ Er redete einige Minuten und schloss mit den Worten: „Danke. Dann werde ich die kriminalpolizeilichen Ermittlungen der Sonderkommission leiten.“ Er horchte seinem Gegenüber und antwortete: „Die örtliche Kriminalpolizei stark einbinden? Gut. Das kann ich veranlassen. Sie faxen die Anweisung. Vielen Dank.“

      Befriedigt lehnte er sich zurück. Schröder hatte erreicht, was er wollte.

      „Hallo Stefan. Mutter hat Code Orange ausgelöst.“ Christel von Bernstein sprach abgehetzt, als wäre sie gelaufen.

      „Ich dachte, es wäre alles vorbei.“ Er wusste, wie jeder in der Familie, was der Alarm bedeutete. Das unterirdische Gefängnis war entdeckt worden. „Wir halten uns da heraus, Christel.“

      „Wie sollen wir das machen?“

      „Wie immer. Reagieren, anstatt agieren. Darin haben wir beide doch jahrzehntelange Übung.“ Der alte Herr schüttelte angewidert den Kopf. Wollte die Vergangenheit sie nie in Ruhe lassen?

      „Auch meine Meinung. Ich wollte mich nur noch einmal versichern.“

      „Ich liebe dich.“

      „Ich liebe dich.“

       *

      Die Telefonate lösten Aktivitäten aus, die die Konzentration vieler Personen auf jenen kleinen Ort richteten, in dem die Fliegerbombe entschärft und wo, in diesem Zusammenhang, der kleine Schutzkeller gefunden wurde.

       *

      Mathilda von Bernstein saß in ihrem Rollstuhl und sah blicklos aus dem Fenster. Niemand sah ihr an, wie sie triumphierte. Das alte, etwas runde, Gesicht zeigte keine Gemütsbewegung. Der Zeitpunkt, auf den sie fast siebzig Jahre hingearbeitet hatte, war nahe. Ausgelöst durch einen Zufall. Die Welt kannte also doch noch Gerechtigkeit. Die Isolation, in die ihre Familie sie geschickt hatte, verpuffte wirkungslos. Die Welt würde von der Ungerechtigkeit gegen sie und ihrer Rache erfahren. Sie wusste, der Zeitpunkt kam für die Familie ungünstig. Aber, was schert sie, die anderen. Nachdenklich und mit Schaudern dachte sie an die Vergangenheit. Damit auch an die Aufzeichnungen, die sie lange vernachlässigt hatte.

      Seit etwa fünfzehn Jahren war Mathilda Gefangene ihres alten Körpers und der Senilität einiger ihrer Kinder. Mit sechsundsiebzig Jahren hatte sie einen leichten Schlaganfall und seitdem eine Gehstörung im linken Bein. Wenn sie sich sehr anstrengte, gelangen kurze Wege mit dem Stock. Im Grunde war jedoch der Rollstuhl ihr Fortbewegungsmittel.

      Ihre eigenen Kinder hielten sie gefangen. Nicht alle, jedoch ein großer Teil. Was regte sie sich auf? Ihre Pflegerin ermöglichte ihr den Freiraum, den sie für die noch notwendigen Aktivitäten zur Erfüllung ihres Schwurs benötigte.

      Code Orange … Sie kicherte. Diesen Einfall hatte sie in den achtziger Jahren. Zum damaligen Zeitpunkt hatte sie die Familie noch im Griff. Die Gier der Kinder nach Macht und Reichtum war damals ungebrochen.

      Sie sollten sich alle wundern …

       *

      Bericht der vergessenen Kinder II (1944) Klaus

      „Wie lange sind wir jetzt schon hier?“, fragt mich Tilde kurz vor einer Schlafperiode.

      „Ungefähr drei Monate.“ Die Idee mit dem Reis und der Uhr funktioniert nicht. Wir entwickeln immer wieder neue Ideen, die wir regelmäßig verwerfen. Im Moment verwenden wir eine Idee Christels zur Zeitmessung. Das Mädel, mit seinen neun Jahren, ist unglaublich. Sie entdeckt in einem Vorratsraum Kerzen. Ein halber Zentimeter brennt ungefähr eine halbe Stunde. Eine Kerze somit fünf Stunden. Sie überlegt eine halbe Stunde und setzt dann um, was sie vor Kurzem in der Schule gelernt hat. Sie löst mehrere Kerzen in einem Topf auf und knüpft Dochte aneinander. Die Wachsmasse gießt sie in ein rechteckiges Gefäß, mehr ein Rohr, das sie irgendwo her besorgt hatte, und hält den Docht in der Mitte. „Die neue Kerze darf nicht zu dick werden, sonst geht sie aus“, erläuterte sie ihre Arbeit. Schließlich ist es so weit und das Zeitmessgerät wird entzündet. Stefan hat einen halben Zentimeter markiert. Die beiden zählen die Sekunden, indem sie sich abwechseln. Der halbe Zentimeter brennt zwei Stunden und zwanzig Minuten. Bei siebzehn Zentimeter Länge, etwa fünfundvierzig Stunden. Wir haben also unsere ungefähre Zeitmessung. Nachdem wir wissen, dass unser Aufenthalt länger sein wird, als uns lieb ist, ist Zeit jedoch nicht mehr so wichtig. Wir sichern unseren Alltag und das Überleben der Gruppe. Die anfängliche Platzangst ist durch den Gewöhnungsprozess gewichen. Strom und Wasser geben uns natürlich Sicherheit. Nach wenigen Wochen unterliegen wir einem gefügten Rhythmus, weil wir uns regelmäßig in der Gruppe beschäftigen, wobei wir die ganz kleinen bewusst einbeziehen.

      „Meinst du, wir kommen hier noch einmal heraus?“

      „Wir kommen hier raus. Verlass dich drauf, und je nachdem, wie und ob die uns da oben haben hängen lassen, ist der Teufel los. Das lass dir gesagt sein.“ An Tildes erschrockener Reaktion bemerke ich die Wut, die mein Gesicht verrät.

      „Ob unseren Familien etwas passiert ist?“ Sie stellt die Frage bang, doch mit großer Ruhe.

      „Ich weiß es nicht Tilde. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, dass meine Freunde und Nachbarn nicht nach uns suchen.“ Seit Tagen geistern die Gedanken in meinem Kopf und der furchtbare Verdacht nistet sich ein.

      „Ob der Krieg wohl vorbei ist?“

      „Ich denke nicht. In der Zeit, die wir hier unten sind, wird keine große Veränderung eingetreten sein. In spätestens ein paar Wochen sind wir hier heraus. Du wirst sehen und wenn ich uns selbst rausbuddeln muss.“ Ich stehe auf und recke mich. „Die Kinder schlafen. Ich gehe unter die Brause.“

      Das Wasser wird elektrisch erhitzt. Wie?, verstehe ich nicht. Davon ließ ich auch die Finger. Strom war lebensgefährlich. Außer der Gemeinschaftsbrause gibt es einzelne Zellen, die alleine genutzt werden können.

      Ich werde die Gegenwartsform aufgeben, weil ich sowieso nur in stillen Stunden schreibe und im Nachhinein. Die Niederschrift gelingt mir besser, wenn ich den Abstand zu mir schaffe. Übrigens, mein Name ist Klaus Heinen.

      Ich erleichtere mich, bevor ich brause. (Da ist es wieder. Jetzt jedoch anders.) Das war auch eine Errungenschaft, von der ich bisher nur gehört hatte. Ein Wasserklo. In meinem Dorf gingen die Notdurft und alles andere in Sickergruben, die im Herbst ausgehoben und auf die Felder verstreut wurden. Anfangs betätigte ich immer wieder die Kette und ließ den Behälter oberhalb des Klos wieder volllaufen, um ihn erneut zu entleeren. Ich hatte Spaß, wie ein Kind. In diesem Keller gab es tatsächlich Klopapier. Zu Hause musste die Zeitung, der Waschlappen oder auch nichts her halten. Zunächst wussten wir nicht, was wir mit diesen komischen Papierrollen anfangen sollten. Bis Friedrich Heinen, ein Sechsjähriger uns zeigte, was wir damit machen konnten. Er war vor Kurzem mit seinen Eltern in Frankfurt bei Verwandten, die Klopapier benutzen. Ich war kaum jemals aus dem Dorf herausgekommen und das neue Spielzeug war neu und willkommen.

      Ich stand unter der Brause und seifte mich ein. Ein Brausebad kannte ich ebenso wenig, wie das Wasserklo und genoss die warmen Strahlen von oben. In meiner Familie – auch später, als ich alleine war - wuschen wir uns jeden Tag gründlich mit kaltem Wasser und am Samstag wurde in der Zinkwanne warm gebadet.