Die vergessenen Kinder. Herbert Weyand

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Название Die vergessenen Kinder
Автор произведения Herbert Weyand
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847624301



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      „Auf dem heutigen NATO Gelände war doch damals der Flugplatz. Vielleicht deshalb“, stellte Claudia fest.

      „Du hast falsche Vorstellungen“, stellte Schröder fest. „Damals gab es dort ein Stück planiertes Feld. Wenn es regnete, konnten die Maschinen nicht landen.“

      Claudia verzichtete auf eine Antwort. Ein Dutzend gleich gekleideter Leute arbeitete in dem großen Raum, den sie betraten, nachdem Koch wieder eine Schleuse geöffnet hatte. Sie trugen ebenso die weißen Papieranzüge, nur die Farbe der Schutzhelme unterschied sich. Gelb herrschte vor, gefolgt von Blau und Rot. Claudia trug den einzigen weißen Helm. Wahrscheinlich war die Farbe den Besuchern vorbehalten. Emsig beschäftigt liefen sie hin und her.

      „Hier haben wir unsere Operationsbasis eingerichtet. Wir mussten Strom von oben hier herunterbringen, weil wir noch nicht wissen, wie die Elektrizität in diesem Kasten funktioniert“, erläuterte Koch. „Im Moment betreiben wir jedoch Beschäftigungstherapie.“ Seine Stimme hatte einen bitteren Klang angenommen. „Das Militär wird übernehmen. Wir sind wegen der Öffentlichkeit und der Toten geduldet. Ein Missgeschick hat die Nachricht von den Leichen schnell nach oben getragen. Jetzt muss der Schein gewahrt werden. Und außerdem hat Kollege Schröder“, er warf Fabian einen bezeichnenden Blick zu, „unsere Arbeit gestoppt.“

      Claudia hörte nicht mehr zu und betrachtete die modernen Schreibtische mit den Flachbildschirmen, die vollkommen deplatziert wirkten. Die Halogenlampen offenbarten die Hässlichkeit der unbearbeiteten Betonwände. Kein Staub, alles klinisch sauber. Die Luft war frisch, keineswegs muffig, wie sie es sich vorgestellt hatte. Die Atmosphäre bedrückte sie. Vor allem, weil sie nicht wusste, was sie erwartete.

      Wann hatten die das alles hierher geschafft? Klar, sie war fast eine Woche nicht mehr auf dem Gelände gewesen. Da tat sich natürlich einiges.

      „Kommen Sie Frau Plum“, forderte Koch sie auf und führte sie durch die Betriebsamkeit der beschäftigten Kollegen zu einer weiteren Schleuse. Sie traten in einen kleinen Vorraum, von dem drei Eingänge abgingen. Koch nahm den rechten und trat hindurch. Eine riesige Halle, unterbrochen von Stützen, wie in einem Parkhaus, tat sich vor Claudia auf. An den Wänden standen unzählige Meter Regale, auf denen Konserven und mittelgroße Säcke mit Lebensmittelen lagerten. „Mehl, Zucker, Reis, Suppen, Gemüse, alles, was das Herz begehrt.“ Er zeigte in die Regale. „Hier. Das Datum. 18. Mai 1913. Aus dem Ersten Weltkrieg. Kaum vorstellbar. Und immer noch genießbar, wie meine Kollegen feststellten. Hier Schwarzbrot, das kennen Sie sicher auch noch aus der Ausbildung.“

      „Und wie“, schmunzelte sie. „Selbst die Dosen habe sich in den fast einhundert Jahren nicht verändert.“

      „Wir müssen nach rechts.“ Rundum in der Halle gingen in unregelmäßigen Abständen weitere Türen ab. Claudia vermutete ebenfalls Schleusen. Weshalb Schleusen? Richtig, im Ersten Weltkrieg wurde erstmals mit chemischen Kampfmitteln, Gas, gekämpft. Ja, das machte Sinn.

      Sie durchschritten eine weitere Schleuse. Ein SEK-Kommando lauschte den Anweisungen ihres Gruppenführers. Im Bunker wirkten sie gar nicht mehr so futuristisch, wie bei einem Einsatz auf der Straße. Sie trugen, im Gegensatz zu allen anderen, denen sie bisher begegnet waren, volle Montur. Schwarze Kampfanzüge und Helme mit geschlossenem Visier, auf denen starke LED Lampen ihren Sichtbereich ausleuchteten. Irgendetwas sagte Claudia, dass der Bereich, in dem sie sich bisher bewegten, von den Kollegen, als ungefährlich eingestuft wurde. Andernfalls wären sie nicht hier.

      Etwas musste falsch gelaufen sein. Fabian sprach von der Spurensicherung und Gerichtsmedizin im unterirdischen Bereich. Aber SEK?

      Nach Durchquerung einer weiteren Schleuse stockte Claudias Atem, als sie die Feldbetten sah. Sie zählte kurz durch. Einundzwanzig. Und ebenso viele leblose kleine Personen. „Die Luft hier ist trocken. Die Toten sind mumifiziert“, holte der Kollege sie in die Wirklichkeit zurück.

      Sie trat an eines der Betten. Ein Junge, vielleicht zehn oder elf Jahre alt. Vollständig bekleidet mit einer Cordhose. Nein, rief sie sich ins Gedächtnis. Manchesterhose hieß das früher. Darüber ein Flanellhemd. Blau mit einem Aufnäher auf der rechten Brust: ‚Franz‘. Glänzende blonde Haare umrahmten das zarte eingefallene Gesicht. Die Augen waren geschlossen. Die Nägel an den nackten Füßen waren ungefähr zwei Zentimeter lang. Ein Blick auf die vor der Brust gefalteten Hände zeigte ähnlichen Wuchs der Fingernägel. Haare und Nägel wuchsen nach dem Tod noch einige Zeit weiter. Am Rande nahm sie rege Tätigkeit der Spurensicherung wahr. Blitzlichter flammten und Mediziner machten sich vorsichtig an den Toten zu schaffen. Sie trat zu einem anderen Bett. Oder sollte sie Totenliege sagen.

      „Verdammt noch mal. Ich habe doch gesagt, dass hier nichts geschieht, bis Frau Plum hier ist. Wer hat das angeordnet?“ Fabian richtete die Frage wütend an die Anwesenden.

      „Ich.“ Ein großer Mann erhob sich aus seiner gebückten Stellung und sah ihm entgegen. „Als ich heute Mittag hier herunterkam, standen die Türen auf. Das Klima in diesem Raum sollte nicht verändert werden.“

      Claudia sah ihn verständnislos an.

      „Keiner älter als Zwölf“, stellte der Rechtsmediziner mit einer Handbewegung in den Raum und beachtete Fabian nicht mehr. „Über die Todesursache kann ich noch nichts sagen. Ich tippe auf Verdursten. Die Trocknung der Körper ist nicht allein nach dem Tod entstanden. Wie gesagt … Auf jeden Fall sind nicht alle zum selben Zeitpunkt gestorben. Da liegen Jahre dazwischen. Aber auch da müssen wir noch genauer ran.“

      Claudia hatte noch nie mit mumifizierten Leichen zu tun gehabt. Das Gewebe sah aus, wie Dörrfisch, den sie in Norwegen auf den Trockendarren gesehen hatte. Die Haut war trocken und hart, als sie mit den Fingerspitzen darüberstrich. Sie war dankbar für die Chirurgenhandschuhe. Etwas hatte die Flüssigkeit sehr schnell herausgezogen, sodass die biologische Zersetzung nicht stattgefunden hatte. In diesem Raumklima war scheinbar kein Lebensraum für Parasiten. Für Menschliche schon geisterte am Rande ihrer entsetzten Gedanken. Die Gesichtszüge der Kinder hatten fast noch Ausdruck, wenn nicht die, in die Höhlen gezogenen Augenlider gewesen wären. An den sichtbaren Füßen und Händen war die Haut geschrumpft und dunkel, fast schwarz. Die Körperhaltung der toten Kinder zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Die Wirbelsäule bog sich so durch, dass der Kopf nach hinten gezogen wurde. Eine gegenläufige embryonale Haltung ging ihr unsinnigerweise durch den Kopf.

      Die Luft des Raumes legte sich schwer auf ihre Lungen und erschwerte das Atmen. Hals, Mund und Nase waren ausgedörrt, als habe sie tagelang nichts mehr getrunken.

      „Wo kommen die her?“, fragte Claudia mehr rhetorisch, dabei revoltierte ihr Magen. „Hier, das ist ja fast noch ein Baby.“ Sie kümmerte nicht, dass Tränen die Wangen herunterrollten. Das Gesicht des Kindes war vollkommen entspannt. Die dünne dunkle pergamentartige Haut spannte über den Knochen Kopfes. Elisabeth stand auf dem Namensschild. Die kleinen Händchen waren gefaltet und lagen auf dem Bauch. Jemand hatte die Leichen hergerichtet. Sie gewaschen und angezogen. Die meisten der kleinen Leichen lagen auf dem Rücken. Andere jedoch saßen auf dem Bett und waren so fixiert, dass sie auf einen Stuhl ausgerichtet waren, der an der linken Wand stand. Die Haare lagen sorgfältig frisiert um die kleinen ledrigen Gesichter.

      Vor ihrem inneren Auge sah Claudia eine gesichtslose Gestalt, eindeutig weiblich. Da hatte jemand gesessen und das Arrangement genossen. Eine Puppenstube dachte sie mit einem Frösteln. Die Kleinen hielten teilweise Bauklötze oder Stoffpuppen in den Händen.

      Die Verzweiflung überfiel Claudia wie ein Schlag. Sie bekam einen Weinkrampf und schluchzte hemmungslos.

      Vielleicht gerade, weil die Situation vollkommen steril war, wie in einem Museum, lösten die toten Kinder oder Jugendlichen den Schockzustand aus, der von ihrem ganzen Sein Besitz nahm. Es gab nichts Schlimmeres als tote Kinder. Das Trauma ihres ermordeten Bruders stieg wieder in ihr hoch und schuf die Identifikation zu den jungen Menschen, die ihr Leben vor sich gehabt hatten und abrupt gestoppt wurden. Gestoppt von … sie wusste es noch nicht. Sie mochte nicht glauben, was der Mediziner zur Todesursache sagte … sie wollte nicht glauben. Einfach entsetzlich. Die düstere Ahnung durchzog sie wie ein Schlag. Das Gefühl drohender Gefahr aus den letzten Tagen wurde zur Gewissheit. Hier