Die vergessenen Kinder. Herbert Weyand

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Название Die vergessenen Kinder
Автор произведения Herbert Weyand
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847624301



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ausführt. Wer nicht gehorcht, wird bestraft. Wir müssen, wenn wir überleben wollen, zusammenhalten.“ Ich sehe ihnen in die großen angstvollen Augen und mir blutet das Herz. Tapfer widerstehen sie den Tränen. Der Ton, den ich anschlage, kommt an. „Du bist Stefan?“ ich zeige auf einen von den größeren Jungen, der nickt. „Und du, Christel“, ich nicke dem Mädchen zu. „Ihr begleitet mich bei der Erkundung des Kellers. Und du, Friedrich, besorgst nachher Reis aus dem Lager. Damit bauen wir eine Uhr. Du hast dann die Aufgabe, die Zeit festzuhalten.“

      Wir packen diverse Werkzeuge zusammen und zünden die Karbidlampen an. Dann machen wir uns auf den Weg. Die Keller, die wir durchqueren, sind vollgepackt mit Dingen des täglichen Gebrauchs. Wir könnten ein unbekanntes fernes Land besiedeln. Hoffentlich bleibt es nicht diese Unterwelt. Ich muss Wasser finden.

      „Irgendwo kommt hier Luft herein. Sonst wären wir schon erstickt und die Lampen würden nicht brennen“, murmele ich.

      „Von dort kommt ein Luftzug.“ Christel zeigte die Regale entlang.

      „Ich spüre nichts. Bist du sicher?“ Ich mustere das ungefähr ein Meter zwanzig große Mädchen mit den braunen Locken. Sie ist die Tochter eines Glasarbeiters und wohnt in meiner Nähe.

      Christel nickt.

      „Geh voraus, solange du den Zug spürst.“

      Einige Male bleiben wir stehen, wenn Christel die Nase wie ein witterndes Tier in Luft hebt. Mittlerweile haben wir mehrere kleinere Tore und Räume passiert. Überall liegen kleine Betonbrocken auf dem Boden, die jedoch keinerlei Anlass dazugeben, der Keller könne einstürzen.

      „Hier ist das Wetter stark. Ich bemerke es jetzt auch.“ Kurze Zeit später stehen wir in einem Keller, in dem die Luft stark aus einem Loch in der Wand bläst. Aus der gleichen Mauer kommen Rohre unterschiedlicher Stärke, die zu dicken Regelventilen laufen und in einer Art Verteiler in verschiedenen Deckenkanälen enden.

      „Wer sagt’s denn“, ich bin schlichtweg erstaunt und drehe an dem großen gusseisernen Rad, das butterweich läuft. Wir hören strömendes Wasser. „Jetzt schnell zurück und die Augen auf, sonst überschwemmen wir die Bude.“ Ein Stück des Weges weiter, bleibt uns das Herz stehen. Der Boden stampft gleichmäßig vibrierend. Nach einer knappen Minute weiß ich Bescheid. Der Bunker wird nicht einstürzen. „Pumpen. Da laufen mehrere Pumpen“, sage ich mir immer wieder selbst vor. Nachdenklich setzten wir den Weg fort. Je näher wir dem Keller kommen, den wir bezogen haben, umso deutlicher dringt Jauchzen an unsere Ohren. Staunend beobachten wir die ausgelassene Bande, die Fangen spielt. Erst nach geraumer Zeit bemerke ich die Veränderung. Es brennt Licht. Scheinbar wurde mit der Wasserzufuhr irgendwo Strom eingeschaltet.

      „Wir haben Strom und Wasser.“ Tilde lächelt glücklich. Die Angst ist verflogen. „Und hier … schau mal. Hast du so etwas schon einmal gesehen.“ Sie steht vor einer Arbeitsplatte aus Metall, auf der sich, ungefähr zwanzig unterschiedliche Erhebungen befinden. Darunter ebenfalls aus Stahl, Türen. Ich öffne eine: Kochtöpfe, nagelneue emaillierte Kochtöpfe.

      „Davon habe ich schon einmal gehört“, sage ich nachdenklich. „Auf diesen Platten können wir wahrscheinlich mit Elektrizität kochen.“ Vorsichtig drehe ich einen Knopf, auf dem sich eine Skala bis zehn befindet. Ich lege nacheinander die Hand auf eine Platte und schreite die Reihe ab. „Scheiße“, fluche ich. „Ich habe mich verbrannt. Tatsächlich können wir hier kochen. Haben wir Kaffee. Wir kochen uns eine Kanne. Aber sei vorsichtig Tilde, diese … Ich weiß nicht was, werden so heiß, wie von Holz oder Kohle.“ Während sie das Wasser aufsetzt, suche ich in einem der Vorratskeller nach Kaffee.

       *

      Dienstag 29. Mai – 03. Juni 2012

      Nachdem die Nachricht von dem Schutzkeller an die zuständige Landesbehörde übermittelt war, lief sie von dort durch die Bundesrepublik und die Welt. Sie verursachte hektische Betriebsamkeit, aus den unterschiedlichsten Beweggründen. Telefone liefen heiß, der Mailverkehr nahm zu und Besprechungen wurden einberufen. Manche Mitarbeiter der Behörden fragten sich, was die Aufregung sollte, andere wirkten fahrig und nervös. Ein Schneeball begann zu rollen und wurde größer und größer.

      „Herr von Bernstein.“ Der Staatssekretär sah im Nordwesten von Brüssel auf den Boulevard Leopold und wünschte sich weit weg. Die Vergangenheit seiner Eltern holte ihn ein.

      „Ja“, sagte er kurz und sah zu einer der Vorzimmerdamen, die abwartend in der Türe stand. „Frau Lemaitre …“

      „Herr Staatssekretär. Der Generalsekretär ist auf der sicheren Leitung.“

      „Ich bin unterwegs.“ Er eilte durch den Raum und das angrenzende Vorzimmer. Er ging schräg über den Flur in die abhörsichere Zentrale. Der Bedienstete wies auf ein Glaskabuff, in dem die grüne Lampe des Schnurtelefons blinkte. Von Bernstein schloss die Tür und damit alle Geräusche aus. Bis auf eines. Aus der Verriegelung der Tür klang ein leises summendes Geräusch und signalisierte ihm, vollkommene Abgeschiedenheit. Erst, wenn er den heutigen Zahlen- und Buchstabencode eingab, konnte er die Kabine wieder verlassen.

      Friedhelm von Bernstein war ein kleiner untersetzter Mann in der Mitte der Vierzig. Sein braunes, widerborstiges Haar stand in die Höhe und unter den buschigen, über der Nasenwurzel zusammengewachsenen Augenbrauen schauten kühle und berechnende graue Augen.

      „Herr Generalsekretär. Was kann ich für Sie tun?“ Seine Stimme klang rau und belegt.

      „Herr von Bernstein. Gut, dass ich Sie antreffe.“ Der Generalsekretär klang munter, sein dänischer Akzent erfrischend. „Ich möchte Sie nicht auf die Folter spannen. Wir haben vor einigen Wochen über ihre persönliche Situation gesprochen. Sie erinnern sich?“

      „Selbstverständlich, Herr Staatssekretär.“

      „Im Umfeld Ihrer Produktionsstätte sind Aktivitäten zugange, die Ihr Eingreifen notwendig machen.

      „Ich weiß Bescheid. Ich habe vorhin einen Anruf erhalten.“

      „Ich möchte die Angelegenheit diskret erledigt wissen.“

      Im Bundesamt für Verfassungsschutz in der Merianstraße in Köln saß Karl Christian Schreier von Bernstein an seinem Schreibtisch und fluchte leise. Der Anruf seiner Großmutter erinnerte ihn an die Pflichten, die er der Familie gegenüber hatte. Nachdenklich griff er zum Telefon und wählte aus dem Kopf eine Nummer.

      „Ich bin es“, sagte er, als auf der anderen Seite das Gespräch angenommen wurde.

      „Was gibt es?“, fragte eine Frauenstimme.

      „Code Orange. Der Bunker ist entdeckt.“

      „Du spinnst.“

      „Damit macht niemand Spaß.“ Seine Stimme klang sauer. „Du weißt, was du zu tun hast?“

      „Klar.“ Sie legte auf.

      Regierungsdirektor Helmut Groß von Bernstein erreichte der Anruf auf dem Tennisplatz. Er war Verwaltungsbeamter des Militärischen Abschirmdienstes Stelle vier in Koblenz. Gerade, als er zum Matchball und sechs zu vier im laufenden Satz aufschlug, es war der zweite Aufschlag, wurde er von der Seite gestört.

      „Herr Groß von Bernstein. Ein dringendes Telefonat.“ Der junge Mann aus der Verwaltung hielt das Mobilteil des Telefons hoch.

      Prompt verriss er den Schlag und der Ball ging weit ins aus.

      „Vierzig, vierzig“, rief der Schiedsrichter.

      „Verdammt. Ich wurde gestört.“ Er war rasend und versuchte den Störenfried mit Blicken zu töten, der weiterhin das Mobilteil hochhielt.

      Nach kurzer Unterhaltung mit dem Schiedsrichter stürmte er zum Spielfeldrand und riss das Telefon an sich.

      „Ja.“ Er bellte in die Sprechmuschel.

      „Helmut. Code Orange.“

      „Verdammt.“