Die vergessenen Kinder. Herbert Weyand

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Название Die vergessenen Kinder
Автор произведения Herbert Weyand
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847624301



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- 1949) Klaus

      Ich erkundete regelmäßig das unterirdische Reich und suchte weiter nach einem Ausweg aus der Tiefe. Seltsamerweise übernahmen die Kinder, die aufgetragenen Aufgaben ohne Murren. Selten gab es Auseinandersetzungen. Tilde hatte die Ordnung gut im Griff. Die älteren Kinder versorgten die Kleinen, sodass sie damit wenig zu tun hatte. Sie hatte genug Arbeit damit, das Essen für die Bande herzurichten. Kleidung gab es in Hülle und Fülle in allen Größen. In einem Kasten fanden wir bestickte Namensbänder mit so gut wie jedem deutschen Vornamen, den ich kannte, die auf der Oberkleidung angebracht wurden. Somit konnte jedes Kind mit Namen angesprochen werden.

      Das Heimweh der Kinder verschwand langsam. Nach und nach wurden Tilde und ich, Mutter und Vater. Eine Aufgabe, der wir uns mit Leib und Seele verschrieben. Wobei Tilde eine Härte an den Tag legte, die ich versuchte, mit sanften Worten in eine Richtung zu lenken, die den Kindern nicht schadete. Sie war ja selbst noch ein halbes Kind. Sie begriff schnell und änderte ihr Verhalten, was jedoch nicht verhinderte, ihren Hass auf das Dorf, den Kindern einzuimpfen, sodass sie ihre eigenen Eltern verabscheuten. Ich verstand sie ja. Wollte mich jedoch nicht dem Hass ergeben, weil ich nicht wusste, was geschehen war und die Rettung verhinderte.

      Manchmal wünsche ich mir eine Uhr, ein Datum oder einen Halt. Die Zeit hat kein Gesicht mehr. Der Versuch mit der Kerze war fehlgeschlagen, weil sie entweder verlöschte oder unterschiedlich schnell abbrannte. In der zeitlichen Leere kann ich keine Ereignisse zuordnen.

      Wann war das mit Barbara? Sie war sechs Jahre alt und fieberte nach einer Schlafperiode stark. Der Unterbauch war auf der rechten Seite hart und geschwollen. Sie wimmerte vor Schmerzen. Tilde suchte ein Medizinbuch in der Bibliothek – dazu später mehr – und diagnostizierte eine Blinddarmentzündung. Alle Anzeichen stimmten überein. Wir hatten zwar eine medizinische Ausrüstung, wussten jedoch nicht, welche Menge Äther für eine Narkose notwendig war. Außerdem hatten wir keinerlei medizinische Kenntnisse. In dem Buch war zwar eine Zeichnung, die den Appendix beschrieb, doch wie operierte man. In Unkenntnis der Narkosemethode füllten wir Barbara mit Branntwein ab, den es zur Genüge im Keller gab. Wir banden das Kind auf einen Tisch und desinfizierten unsere Hände und das Operationsbesteck, von dem lediglich das Skalpell als solches erkannt wurde, mit den Mitteln aus einem Medizinkasten. Nachdem der Bauch des Mädchens gesäubert war, machte ich rechts am Unterbauch einen Schnitt. Das Kind wimmerte, schrie laut auf und fiel in Ohnmacht. Mit zitternden Fingern, aber beherzter, schnitt ich weiter, bis ich auf den entzündeten Herd traf. Der Fortsatz des Darmes, den ich für den Blinddarm hielt, lag prall vor mir. Tilde tupfte laufend das Blut mit Leinen weg, das zuvor in Fettpapier verpackt, im Medizinkasten lag. Wir mussten davon ausgehen, dass es sauber war. Ich suchte einen Faden, wahrscheinlich war es Darm und knotete eine Schlinge unter dem Geschwulst. Danach legte ich Tücher, so eng es ging an die künftige Schnittstelle und deckte auch die Wunde insgesamt ab. Der Verstand sagte mir, wenn der Entzündungsherd in die Bauchhöhle floss, war das Kind nicht mehr zu retten. Schließlich setzte ich das Messer. Barbara stieß einen markerschütternden Schrei aus und bäumte hoch. Dann fiel sie wieder zusammen. Gott sei Dank hatte ich noch nicht geschnitten. Dann endlich wagte ich es und führte das Messer. Der stinkende Eiterbrei spritzte überall hin. Ich musste mich fast übergeben. Aber es half nichts. Bevor ich wieder an die Wunde konnte, musste ich mich säubern und erneut desinfizieren. Tilde tupfte derweil die Wunde mit einer Desinfektionslösung aus, darauf bedacht, die abdeckenden Tücher nicht zu verschieben. Als ich mich wieder der Operation zuwenden konnte, sickerte lediglich Blut aus den Schnittflächen der Bauchwunde, ansonsten war alles sauber und trocken. Vorsichtig zog ich die Bauchdecke zusammen und vernähte sie, wie ich es bei einem Tierarzt beobachtete hatte, der eine Bauchwunde einer Kuh vernähte. Die Oberflächennaht überließ ich Tilde. Falls das Mädchen überlebte, sollte die Narbe schön sein.

      Vierzehn Tage später sprang Barbara wieder herum und zeigte jedem, der es sehen wollte oder auch nicht, stolz ihre Narbe.

      So etwas wollte ich nicht öfter haben und verstärkte meine Bemühungen zu einem Ausbruch aus unserem Gefängnis.

       *

      04. Juni 2012

      Claudia und Kurt fuhren auf den Vorhof ihres Grundstücks. Sie kamen aus dem Lidl in Marienberg. In Grotenrath selbst gab es keine Einkaufsmöglichkeit mehr. Im Jägerhof konnte man schon einmal eine Fritte holen und ansonsten war das Essen auch ganz gut. Wer nicht mobil war, hatte Probleme. Trotzdem mochte keiner von beiden woanders wohnen, denn das Dorf hatte Charisma. Nahe des wunderschönen Heidegebiets gelegen, das sich bis weit in die Niederlande und von dort, auf die andere Seite der Maas, nach Belgien hineinzog. Der einzig störende Faktor waren die AWACs Flugzeuge bei Ostwind, die dann während des Starts und der Landung zu hören waren. Aber wann war schon einmal Ostwind? Zwei bis dreimal im Jahr wehte Güllegeruch durch den Ort. Aber auch wieder windabhängig.

      Kurts Haus war ein altes Backsteingebäude, das etwa fünfundzwanzig Meter von der Waldstraße ab lag. Die Fläche davor war mit alten Basaltsteinen belegt, die früher einmal auf der alten Römerstraße zwischen Geilenkirchen und Boscheln lagen. Wie sie letztendlich zu ihrem jetzigen Liegeplatz kamen, wusste niemand mehr so richtig. Auf dem Hof standen in Unmengen Tontöpfe mit Pflanzen. Die Oleanderpflanzen würden in den nächsten vierzehn Tagen ihre Blüten öffnen. Geranien, Petunien und die vielen anderen Blickfänger standen in der ersten Blüte. An der Hauswand kletterten zwei mächtige Rosen und trugen unzählige Blüten in Rot und Gelb.

      In der Wohnung blinkte der Anrufbeantworter. Kurt drückte den Abspielknopf. „Sie haben einen Anruf in Abwesenheit um fünfzehn Uhr siebenundfünfzig“, verkündete die Computerstimme abgehackt. Eine kurze Pause. „Frau Plum. Bitte rufen Sie zurück. Egal wie spät. Es ist dringend.“ Claudia sah zur Uhr. Kurz vor achtzehn Uhr.

      „Einen Kaffee trinken wir aber noch“, meinte Kurt.

      Sie schüttelte den Kopf und sah ihn ernst an. „Das war Klein. Der Polizeipräsident. Wenn der anruft, ist es dringend.“ Ihr Bauchgefühl bestätigte sich wieder einmal.

      Eine knappe halbe Stunde später näherten sich Kurt und Claudia dem abgesperrten Bereich um das ehemalige Feuerwehrhaus. Das gesamte Gebiet zu Hinter den Höfen und weiter zum Bolzplatz an der Schule war mit Gittern verstellt. Am scheinbar offiziellen Durchgang stand Schneider, der Orang-Utan vom Verfassungsschutz und wehrte die Neugierigen ab, die auf den Platz wollten.

      „Da sind Sie ja“, empfing er sie, als habe es nie einen Zusammenstoß gegeben. „Es wird auch Zeit.“ Er musterte sie von Kopf bis Fuß. Claudia sah sicherlich nicht aus, wie er sich eine Hauptkommissarin der Mordkommission vorstellte. Sie hatte sich die Zeit zum Umziehen nicht genommen und trug die bequeme, drei Viertel lange, Schlabberhose sowie ein Hemd von Kurt. Das Haar hatte sie mit einem Gummi im Nacken zusammengebunden.

      „Wer leitet den Einsatz?“, fragte sie kurz angebunden. Der Typ fehlte ihr noch.

      Schneider sah sie merkwürdig an. „Soweit ich weiß, Sie.“

      „Toll.“ Sie gab Kurt, der schon mit einem Bekannten im Gespräch war, einen Kuss. „Bis später. Mal sehen, was wir dort haben.“

      Langsam, innerlich unwillig, schritt sie zu dem Baggerloch, das eineinhalb Stockwerke tief und ungefähr zehn Meter breit war. Neben ihr drängten sich Feuerwehrleute und Polizisten sowie Menschen, die aussahen, als hätten sie etwas zu sagen. In der Baugrube arbeiteten Männer in Overalls und Schutzhelmen, auf drei Ebenen, die treppenartig angelegt wurden. An den Grubenwänden wurde ein Gerüst befestigt, das die Wände verkleidete und stabilisierte. Ein Kran ließ Container hinunter, die, vom Erdniveau des Schulhofs und der ersten Stufe, von Baggern mit Abraum gefüllt wurden. Auf der Sohle wurde mit Schüppe und Hacke gearbeitet.

      „Mensch Claudia. Da bist du endlich.“ Der kleine energiegeladene Mann, Anfang fünfzig mit sehr hoher Stirn, stürmte auf sie zu.

      „Fabian? Was machst du denn hier?“, fragte sie erstaunt. Sie erkannte ihn in dem weißen Einmalanzug erst, als er die Kapuze abstreifte.

      „Komm“, er fasste statt einer Antwort ihren Oberarm und deutete zu einem Unimog. „Ziehe dir einen Overall