Die vergessenen Kinder. Herbert Weyand

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Название Die vergessenen Kinder
Автор произведения Herbert Weyand
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847624301



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die Beschäftigten der Stadt damit, das große automatische Tor und die Kunststoffteile abzubauen. Tagelang stießen die Arbeiter mit breiten Kratzern die Teerpappe vom Flachdach. Nicht nur Mülltrennung in den Haushalten, auch beim Abriss des Gebäudes. Der Feuerwehrausfahrt gegenüber war die Straße aufgerissen. Die Lebensader wurde abgetrennt und das endgültige Aus der Feuerwehr besiegelt. Was ist eine Feuerwehr ohne Wasser? Das Wasserwerk trennte die Verbindung der Leitung, die über Jahrzehnte den Schmutz von Geräten und Fahrzeugen beseitigte.

      Im Vorfeld war die Stadt bemüht, das Gebäude loszuwerden. Die Stadtverwaltung suchte eine andere Nutzung, denn der Abriss war nicht billig. Die Bemühungen, das Gebäude einer anderen Nutzung zuzuführen, liefen ins Leere, weil die Instandhaltung und Betreibung keinen wirtschaftlichen Nutzen versprach und für die ortsansässigen Vereine zu teuer war.

      Nach und nach stürzte das lang gestreckte Gebäude nach innen. Dicke Staubwolken wirbelten über den Vorplatz der Schule, die in ungefähr fünfzig Metern Entfernung stand und seit der Bildungsreform Ende der siebziger Jahre nicht mehr für den Lehrbetrieb genutzt wurde. In der ersten Etage des alten Gebäudes lagen zwei ehemalige Lehrerwohnungen, die von der Stadt vermietet wurden.

      Mit dem Feuerwehrhaus wurde auch der hohe Mast, samt Sirene, abgebaut. Manch einem wurde angst und bange. Der auf- und abschwellende Ton diente schließlich nicht nur zur Warnung vor einem Brand, sondern auch dem Katastrophenschutz.

      Vom Feuerwehrhaus gesehen, lag rechts der Spielplatz, an den sich der Bolzplatz mit Grillstelle für die Jugendlichen des Dorfes anschloss. Daneben streckte sich die hohe Buchenhecke, hinter der ein zweistöckiger Gebäudekomplex aus der Nachkriegszeit lag, dem etwas Geheimnisvolles anhaftete. Links lagen die Gärten der Grundstücke, deren Häuser im Küfenweg lagen.

      Binnen zwei Tagen war das Feuerwehrhaus dem Erdboden gleichgemacht. Lediglich das Betonfundament lag deplatziert auf der geräumten Fläche, ungefähr fünfzig Zentimeter unter Bodenniveau. Die Arbeiter beratschlagten, wie sie am besten weiter vorgehen sollten. Die Mehrzahl war dafür, den Betonklotz dort zu belassen und das Loch mit Recyclingmaterial zu füllen und rote Asche, wie auf dem Rest des Platzes, aufzubringen.

      Die Platte musste weg, ordnete der Baudezernent der Stadt Geilenkirchen an.

      Der Bagger schaufelte also weiter und begann links vom ehemaligen Gebäude. Er hob die Erde auf den bereitstehenden Laster.

      „Stopp“, rief Josef Dohmen, ein kräftiger, ungefähr ein Meter neunzig großer Arbeiter und hob die Hand. „Da ist etwas. Mach‘ mal langsam.“ Er stieg mit dem Spaten bewaffnet in das Loch und krabbelte nach wenigen Minuten, schnell wieder heraus. „Eine Bombe. Und was für ein Kaliber. Wir müssen absperren.“ Er klebte sein Handy an die Backe und rief im Bauhof an. Eine halbe Stunde später rückten weitere Fahrzeuge der Stadt mit Absperrgittern und die Polizei an.

      „Ein Blindgänger“, bestätigte der ältere Polizeibeamte und kratzte sich ausgiebig am Kopf. „Ich habe schon einige gesehen. Das ist eine amerikanische Zehnzentnerbombe. Normalerweise haben die einen Langzeitzünder und der Kampfmittelräumdienst müsste schnell damit fertig werden.“ Er stieg in sein Auto und holte über Funk weitere Anweisungen. „In fünfhundert Meter Umkreis die Häuser räumen“, stellte er fest, als er wieder ausstieg. Die Kollegen sind gleich hier.“

      „Das sind zwei Drittel des Dorfes“, sagte Josef Dohmen zu seinem Kollegen, der mit den Schultern zuckte.

      Weniger als eine halbe Stunde später begann die Polizei mit der Räumung der Häuser. Zwei Beamte fuhren um das Dorf herum und näherten sich über die Zufahrtsstraße des etwas außerhalb liegenden Gebäudekomplexes. Er war nur von hier zugänglich, lag jedoch in dem halben Kilometer Radius des Sicherheitsbereiches. Sie hielten vor dem riesigen schmiedeeisernen Tor, dessen Angeln rechts und links in stabiles Gemäuer eingelassen waren. Je fünf Meter maß ein Flügel in der Breite und sieben Meter in der Höhe, ungefähr einen Handbreit unter der Regenrinne des Hauses. Nichts signalisierte Leben. Keine Klingel, kein Klopfer. Ratlos sahen die beiden Polizisten sich an.

      „Was wollen Sie?“, fragte die Stimme aus einer nicht zu identifizierenden Quelle.

      „Sie müssen ihre Wohnung oder ihre Wohnungen räumen. Auf dem Platz neben Ihrem Grundstück wurde ein Blindgänger gefunden, der heute entschärft wird“, erklärte der kleinere der Beamten dem Tor oder der Wand, er wusste es nicht.

      „Ja, in Ordnung. Vielen Dank“, sagte die Stimme.

      „Wir müssen die Evakuierung begleiten“, brachte der andere Polizist seine Anweisung an den Mann.

      „Das ist unnötig. Wir werden die Wohnungen verlassen.“ Die Stimme klang bestimmt, ließ keinen Widerspruch zu.

      „Das geht nicht. Wir müssen sicher sein, dass alle Häuser geräumt sind“, begehrte der kleinere. „Öffnen Sie das Tor.“

      „Verschwinden Sie“, stellte die Stimme abschließend und ohne Emotionen fest.

      „Aber …“, begann der Beamte und wurde von seinem Kollegen am Weiterreden gehindert, weil er ihm am Arm zupfte und eine Kopfbewegung zum Fahrzeug machte.

      „Da können die Bonzen ran. Wir fahren“, sagte er im Auto.

      Das Technische Hilfswerk baute in Windeseile eine kleine Zeltstadt auf und koordinierte das Durcheinander der heranfahrenden PKW, die auf eine Wiese, nahe der Heide gelegen, gelenkt wurden. Gott sei Dank war das Wetter der letzten Tage trocken, sodass keine größeren Probleme auftraten. Nicht jeder war begeistert über das unverhoffte Zeltlager und viele trugen das Herz auf den Lippen. Die Helfer hatten alle Hände voll zu tun.

       *

      Hauptkommissarin Claudia Plum verließ in der Waldstraße ihr Haus, als das Handy leise Mozarts kleine Nachtmusik spielte. Edgar musste auf seine Runde und sie hatte keine Lust auf einen Anruf. Nach einem kurzen Blick auf das Display nahm sie das Gespräch an.

      „Plum“, meldete sie sich.

      „Frau Plum. Gut, dass ich Sie erwische“, Dengler der Staatsanwalt war an der Strippe. „Wo sind Sie?“

      „In Gottes freier Natur. Mein Dackel muss Gassi.“ Sie wollte ihm nicht auf die Nase binden, wo genau sie war. Verdammt fluchte sie. Wenn Dengler während ihres Urlaubes anrief, brannte es irgendwo. „Sie müssen Amtshilfe leisten. In Ihrem Dorf wurde eine Bombe gefunden und soll in den nächsten Stunden entschärft werden.“

      „Ich habe davon gehört. Unser Haus liegt an der Grenze des Evakuierungsbereiches.“

      „Neben der Bombe befindet sich ein Gebäude, dessen Bewohner nicht zugänglich sind und der örtlichen Polizei, die Überprüfung der kurzzeitigen Aussiedlung, nicht gestatten. Ich möchte, dass Sie sich dieser Angelegenheit annehmen.“ Dengler klang eindringlich.

      „Nicht schon wieder. Ich habe Urlaub“, murrte die Beamtin. „Beim letzten Mal hatte ich eine Entführung am Hals.“

      „Tun Sie mir den Gefallen. Wir haben im Moment niemanden frei. Den Tag Urlaub hängen Sie hinten an.“

      „Nun gut. Ich wollte immer schon einmal in die Trutzburg.“ Sie schaltete das Handy aus. „Edgar, wir müssen heute in die andere Richtung.“ Claudia schlug fluchend den Weg zum Kämpchen ein. Den Dackel nahm sie mit. So konnte sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.

      Claudia Plum war zweiunddreißig Jahre alt und leitete seit zwei Jahren die Aachener Mordkommission. Die Liebe hatte sie nach Grotenrath verschlagen, dem Dorf in dem Sie geboren wurde und ihren Bruder auf tragische Weise verlor. Mit ihren einhundertsiebzig Zentimetern war sie keine große, aber auch keine kleine Frau. Ihre Figur war sportlich schlank. Aus dem intelligenten Gesicht sahen graue Augen lebensfroh und häufig auch skeptisch in die Welt. Das brünette Haar lockte halblang bis auf die Schultern. Ein objektiver Beobachter würde sie als attraktiv und interessant bezeichnen. Sie trug eine verwaschene Jeans und Birkenstocklatschen sowie über das Shirt eine leichte helle Leinenjacke. Also ihr absolutes Freizeitoutfit. Im Dienst trug sie normalerweise Kostüm mit Bluse. Das einzige Zugeständnis an ihren Beruf waren dann ein Paar vergammelte