Die vergessenen Kinder. Herbert Weyand

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Название Die vergessenen Kinder
Автор произведения Herbert Weyand
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847624301



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sie im Familienbetrieb wissen wollten. Heute verstand sie, weshalb.

      Erst vor wenigen Wochen erfuhr sie von ihrem Bruder Fabian, der brutal vergewaltigt worden war und wie ein Stück Müll auf den Komposthaufen des Friedhofs geworfen wurde. Sie hatte die Tat mit angesehen, jedoch aus ihrem Bewusstsein verdrängt. Nach mehr als zwanzig Jahren hatte sie den Täter überführt und damit sich gegenüber, die letzte Legitimation für ihre Berufswahl erlangt.

      Ihr Gesicht trug einen mürrischen Ausdruck, als sie am Küfenweg rechts abbog und etwa einhundert Meter weiter, den linken geteerten Wirtschaftsweg nahm. Damit betrat sie die private Sperrzone des Grundstücks, wie das Hinweisschild signalisierte. Claudia schritt zügig auf die Zufahrt Anwesens zu, dessen Bewohner sie von der Evakuierung überzeugen musste. Während sie dem Grundstück näherkam, stiegen zwei Hubschrauber aus dem Innenbereich des Anwesens empor und flogen nach Norden. Was mochte dort geschehen? Eine Frage, die immer wieder gestellt wurde. Sie verließ den geteerten Feldweg und erreichte die Privatstraße. Nach wenigen Schritten quietschten Reifen vor und hinter ihr. Die beiden schwarzen Mercedeslimousinen mit getönten Scheiben zwangen sie zum Halt.

      „Was wollen Sie hier? Das ist Privatgrund. Können Sie nicht lesen?“ Ein dunkelhaariger, wild aussehender Riese sprang mit einem mächtigen Satz aus dem Auto und musterte sie drohend.

      „Nicht so hastig“, sagte Claudia ruhig, trotz des Schrecks, den sie gerade durchlebte, um niemanden zu provozieren.

      „Ich gebe Ihnen gleich hastig“, knurrte der Mann.

      „Bleiben Sie cool“, beruhigte sie. „Ich greife jetzt in meine Tasche und nehme meinen Ausweis heraus.“ Sie fasste vorsichtig in die Gesäßtasche, fischte nach der Plastikkarte und hielt sie hoch. „Hauptkommissarin Plum. Kriminalpolizei. Ich bin für die Evakuierung dieses Grundstücks zuständig.“ Sie zeigte auf den riesigen Bau, der mit Feldbrandsteinen gebaut oder verklinkert, in einhundert Meter Entfernung die Landschaft verbaute. Sechzig oder fünfundsechzig Meter Kantenlänge dachte sie. Dieser blöde Wachmann will mich aufhalten. Sie empfand keine Furcht.

      „Verschwinden Sie ganz einfach“, sagte der Mann.

      „Ich werde jetzt zu diesem Gebäude gehen und die dort lebenden Menschen zum Sammelplatz bringen.“ Sie geriet langsam in Rage. Was bildete der Typ sich ein? Ein Gorilla in Menschengestalt.

      „Sie werden gar nichts.“ Er fasste an sein Ohr und lauschte irgendwelchen Ansagen, die er wahrscheinlich über Funk bekam. „Sehen Sie“, er deutete mit der Hand zu dem riesigen Tor, das sich langsam öffnete. Die Evakuierung läuft. Wir bekommen das alleine hin.“

      Eins, zwei, drei, vier …“, zählte Claudia die verdunkelten Mercedeslimousinen, die das Gelände verließen. Zwölf an der Zahl und ein großer Reisebus mit ebenso undurchsichtigen Scheiben. Dahinter landeten zwei Hubschrauber, wahrscheinlich die, die vorhin von dort gestartet waren. „Ihren Namen, bitte“, forderte Claudia.

      „Sagen Sie einfach Schneider zu mir“, antwortete er nach kurzem Zögern. „Jetzt verschwinden Sie. Sie werden das Gelände so oder so nicht betreten. Ich verbürge mich für die Sicherheit der Bewohner dieses Komplexes.“

      „So einfach kommen Sie mir nicht davon.“ Claudia geriet in Zorn. Was bildete der sich ein?

      „Und ob“, sagte er ruhig, stieg in das Auto und folgte dem Bus. Das Tor verschloss wieder und selbst, wenn sie spurtete, würde sie es nicht schaffen.

      Hilflos, gedemütigt und rasend vor Wut stand sie am Straßenrand. „Was für ein Arsch“, fluchte sie. Claudia zückte ihr Handy und rief den Staatsanwalt an. Sie schilderte kurz das Geschehen.

      „Ich informiere die örtliche Polizei darüber, dass das Gebäude geräumt ist. Vielen Dank, Frau Plum“, sagte Dengler kurz und merkwürdig frostig. Er brach das Gespräch ab.

      Dann stand sie mit Edgar allein in weiter Flur und gab sich einen Ruck. Zu dem einen Arsch kam ein weiterer. Wollten die sie veralbern? Nachdenklich trat sie den Rückweg an und hatte das altbekannte Drücken in den Gedärmen, das nahendes Unheil anzeigte.

      Seit eineinhalb Jahren lebte sie hier und fragte sich, wie alle Einwohner des Dorfs, was wohl hinter den Mauern dieses Hochsicherheitstraktes geschehen mag. Die Hubschrauber, die jeden Tag dort starteten und landeten, mussten einen Sinn haben, der sich jedem Außenstehenden entzog. Die Fahrzeuge, die das Gebäude verließen, hatten allesamt verspiegelte Scheiben. Sie wusste von den Nachbarn, dass das Gebäude nach dem Krieg errichtet wurde. Es wurde als Kastell, Trutzburg, Hochsicherheitstrakt oder Knast bezeichnet. Sie kannte niemanden, der schon einmal Kontakt mit den Bewohnern hatte. Vor Monaten hatte sie ihre Kollegin Oberkommissarin Maria Römer aus purer Neugierde darauf angesetzt. Maria war die PC-Spezialistin ihres Teams und es gab kaum etwas, das sie, falls es irgendwo im Netz stand, nicht fand. Das Gebäude existierte nicht und war selbst auf Google Earth nicht verzeichnet. Sie taten das damit ab, weil der militärische Sicherheitsbereich der NATO Air Base an das Gelände des Anwesens grenzte und irgendwann, in grauer Vorzeit, mit einschloss. Jetzt war endlich die offizielle Gelegenheit gegeben in diese geheimnisvolle Villa einzudringen und sie wurde ausgebremst. Sie würde am Ball bleiben, so sicher wie das Amen in der Kirche.

       *

      Die Bombe neben dem Fundament war freigelegt und der Kampfmittelräumdienst war dabei, die Umgebung des Zünders zu säubern.

      Experten gehen davon aus, dass zwanzig Prozent, der im Zweiten Weltkrieg abgeworfenen Bomben, Blindgänger sind. Die Fluggeschwindigkeit der Abwurfmaschinen spielte dabei ebenso eine Rolle, wie vorher explodierende Bomben, deren Luftdruck dem Projektil eine andere Flugrichtung geben konnte. Bomben, die mit dem Körper gegen eine Wand prallten, taumelten zu Boden, ohne dass der Zünder punktgenau aufschlug.

      Der Entschärfungstrupp legte vorsichtig ein Gestell um die Bombe. Es sah fast aus, wie eine Ständerbohrmaschine. Vorsichtig brachten sie einen Ring um den Zünder an und zogen ihn durch Druck von einer Hydraulikmaschine, die drei Meter neben ihnen Öl komprimierte, an. Daumendicke Leitungen liefen zu dem Gestell. Nach einer letzten Prüfung suchten die zwei Entschärfer Schutz hinter einer dicken Stahlwand, an der ein Flachbildschirm befestigt war. Ein Dritter hantierte mit einer Tastatur und nickte den beiden zu. Sie hoben die Daumen.

      Mit dem Druck auf die Entertaste zog das Gestell gegen den Bombenkörper. Ein dumpfes Geräusch, nicht lauter wie der Korken, der aus einer Weinflasche gezogen wurde, und der Zünder war getrennt. Die Maschine hatte die Gewindegänge kaputt gezogen. Ein unspektakulärer technischer Vorgang, der nicht ungefährlich war.

      Der Greifarm des Baggers fuhr wieder in das Loch und hob die unscharfe Bombe, die in dicken Stahlseilen hing, heraus. Sein Gestell schwenkte zu einem Lastwagen, auf dem das Geschoss abgeladen wurde.

      „Ihr macht dann weiter“, forderte der Bauhofleiter seine Leute auf. „Aber schön vorsichtig. Nicht, dass noch einer in die Luft geht“, lachte er meckernd. Er hatte einen Witz gemacht.

      Josef Dohmen sah ihm zu, wie er in seinen Geländewagen stieg und davonfuhr.

      „Wir machen Pause.“ Josef deutete seelenruhig zur Bank-Tisch-Kombination, die einen Ruhebereich des Spielplatzes kennzeichnete. Erst vor Kurzem wurde sie vom Trommler- und Pfeiferkorps des Dorfes gespendet und aufgebaut. „Der Zauber hat vier Stunden gedauert. Ich habe Hunger.“ Er sah nach oben. Das tackende Geräusch der Propeller lag in der Luft.

      Noch war der Hubschrauber nicht zu sehen. In den letzten Tagen konnten sie den Flugverkehr aus dem Gebäudekomplex und wieder hinein verfolgen. Drei bis vier Mal täglich landete und startete eine Maschine.

      Während der Pause der Bautruppe wurde die Evakuierung aufgehoben.

      „Scheiße. Hier ist ein großer Hohlraum“, rief der Baggerführer. Das Loch war jetzt über vier Meter tief und zehn Meter breit an einer Betonkante entlang und kein Ende in Sicht. Längst waren die Arbeiter sicher, dass an den alten Geschichten etwas dran war. Seit sie denken konnten, erzählten die alten Dorfbewohner von einem Bunkerkomplex unter der alten Schule, und zwar aus einer Zeit des Ersten Weltkriegs.

      Die Baggerschaufel hing vor der