Vergessene Zeit. Elisa Scheer

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Название Vergessene Zeit
Автор произведения Elisa Scheer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783737558815



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aber immerhin musste der Steg etwa in einer Stunde im Schatten liegen, oder? Ich schob das dampfige Tuch beiseite und blinzelte. Ja, da stand eine ziemlich knorrige Eiche am Ufer, sicher rund zweihundert Jahre alt, und bald würde die Sonne hinter ihr stehen. Solange konnte ich noch an einem schokoladebraunen Nabel arbeiten.

      Ich streckte mich wie eine Katze... ein getigertes Fell war allerdings das Letzte, was ich jetzt brauchte: Diese Schreiberei war ganz schön anstrengend...

      Ich schreckte wieder hoch, als ein misstönender Schrei ertönte. Was zum -?

      Ach, zwei Erpel waren sich in die Federn geraten! Und die Sonne stand hinter der Eiche. Zerschlagen rappelte ich mich auf; im Schatten war es kaum kühler, es stach nur nicht mehr so. Also tauchte ich noch einmal schnell in den See und setzte mich dann auf die Holzbank.

      Zum Tippen war ich zu nass und zu müde. Und zu früh war es auch noch. Weihnachten... in dieser Umgebung kaum vorstellbar. Kälte, erfrischende Kälte, Schneematsch, Hektik, Winterreifen, Glühwein – vergifteter Glühwein? Jemand will den Weihnachtsmarkt ruinieren? Aufschreiben konnte man das ja, Kathrin nervte mich nächstes Jahr bestimmt wieder mit einem Samplerbeitrag.

      Das wäre dann aber doch wohl eher etwas wie das organisierte Verbrechen... Schutzgelderpressung? Produkthaftung? Oder die Konstruktion einer Serie, um einen Mord zu verstecken wie den Baum im Wald?

      Im Kaufhaus... nein, keine Nikoläuse, die gab´s bei uns eben nicht in diesen Massen. Aber da gab es doch diesen Stand, wo sich die arme Frau das ganze Jahr zu Tode langweilte und vor Weihnachten dann nicht wusste, wo ihr der Kopf stand... Verpackungsservice... Ideal, man könnte Geschenke verwechseln, bei dem Gedränge doch kein Wunder. Zwei ungefähr gleichgroße Bücher, wenig Auswahl an Weihnachtspapier... Beim Bäcker war mir das schon selbst passiert, dass ich zu Hause ratlos auf zwei Bamberger Hörnchen geschaut hatte (staubtrockene Dinger), wo ich doch ganz genau wusste, dass ich Croissants gekauft hatte und die Frau neben mir Bamberger... Sicher waren ihr die Croissants zu fettig gewesen!

      Also, warum nicht mit zwei Geschenken? Wo waren die Zigaretten?

      Nach einem tiefen Zug überlegte ich weiter. Zwei Geschenke... aber inwiefern führte das zu kriminellen Verwicklungen?

      Das eine Geschenk ist harmlos, das andere nicht – wieso nicht? Ein Buch im üblichen Format? Nun, da könnte eine anzügliche Widmung drinstehen... Nein, wer kritzelte denn noch im Kaufhaus Widmungen in Bücher, das machte man in Ruhe zu Hause und packte das Geschenk dann eigenhändig ein. In selbst ausgesuchtes Papier.

      Widmung also nicht. Etwas anderes... etwas, was man hineinlegen kann – ein Lesezeichen... etwas als Lesezeichen, vielleicht ein kompromittierendes Foto. Aber so, dass es nicht in die falschen Hände fallen darf...

      Gut, er hat sein Buch so geimpft. Und sie ist ganz harmlos und will nur einer Freundin einen Reiseführer schenken, USA – der Südwesten. Und dann will er das Buch wiederkriegen, vor Heiligabend (aus seiner Sicht?). Wie soll er das machen... hm – wenn er gar nichts über sie weiß, wird es eng.

      Woher könnte er etwas wissen?

      Hat sie vielleicht mit Kreditkarte bezahlt, und ihm ist ein Blick auf den Nachnamen gelungen? Pachmayr, nicht gerade selten hierzulande... das wird noch viel Arbeit (mit eingebauten Scherzen). Warum schielt jemand auf die Kreditkarte der Frau neben ihm? Da weiß er ja noch nicht, dass er mit ihrem statt mit seinem Geschenk weggehen wird! Aber sie könnte hübsch sein, und er hat routinemäßig einen Blick riskiert...

      Was war eigentlich noch im Kühlschrank?

      Ich holte mir einen Joghurt und zwei Pfirsiche, tropfte meinen Block mit Pfirsichsaft voll, tauchte zur Säuberung wieder in den See, kehrte tropfnass und zufrieden an meinen Block zurück und überlegte weiter.

      Gut, jetzt steht er da. Pachmayr... Im Telefonbuch sind es zwei Seiten, und er muss das Buch wieder kriegen! Auf dem Foto ist – ja, was ist auf dem Foto zu sehen? Vielleicht ein bekannter Industrieller im Gespräch mit einer Unterweltgröße... Und hintendrauf steht Das Negativ ist vernichtet, G.J.

      Er heißt... G... Gideon. Gideon hatte in meinen Stories noch keiner geheißen, das war gut. Und ich kannte auch keinen solchen, dann hatte ich wenigstens keine Vorurteile. Gideon Jahn? Klang so nach Turnvater Jahn... Jacobs? Jacobs Krönung, nachher verklagten die mich noch. Apropos – muss er überhaupt ein Schurke sein? Es könnte ja sein, dass er aussteigen und dem Industriellen so mitteilen will, dass er nichts zu befürchten hat. Schön blöd, warum auf so albernem Weg?

      Vielleicht muss er sich vor den eigentlichen Erpressern hüten... Aber einfacher wäre es gewesen, das Foto auch zu vernichten und nur eine anonyme Weihnachtskarte zu schicken – Frohes Fest, alles o.k. oder so ähnlich.

      Natürlich könnte er ein verdeckter Ermittler sein, der das Foto den wahren Erpressern (um den Unterweltboss herum) geklaut und die Negative vernichtet hat, aber dem Industriellen zeigen will, wie knapp er dem Skandal entronnen ist – und dass er so etwas nie wieder machen darf. Wieso hat der Trottel das Buch dann nicht selbst eingepackt?

      Manuell ungeschickt? Es soll professionell und unauffällig wirken? Kann ein Polizist manuell so ungeschickt sein? So einer kann ja nicht einmal seine Dienstwaffe laden! Da brauchte ich noch eine bessere Begründung...

      Und sie? Harmloses Wesen – oder doch nicht? Wüsste sie mit dem Foto etwas anzufangen? Sie legt das Paket aber nur zu den übrigen, die dummerweise recht ähnliches Papier aufweisen – und alles mit goldenen Schleifchen...

      Zurück zu - verdammt, der hatte ja noch keinen Nachnamen. Egal, dann hieß er eben erstmal nur Gideon. Also, Gideon sucht verzweifelt nach Frau Pachmayr. Julia Pachmayr. Wenn er natürlich ein Guter ist, kann er die Mittel der Polizei nutzen (lassen, er kann ja nicht offen arbeiten).

      Etwas konstruiert, das Ganze. Vielleicht drückte mir diese bleierne Hitze aufs Hirn? Ich sprang noch mal in den See, um den Kopf wieder klar zu kriegen.

      Also, er lässt sich heraussuchen, wie viele weibliche Pachmayrs zwischen zwanzig und fünfunddreißig es in der Stadt gibt. Natürlich könnte sie auch vom Land sein...

      Er hat schließlich vier zur Auswahl, beschattet alle umschichtig und findet Julia als Nummer vier (was sonst?).

      Natürlich kann er nicht klingeln und sagen Wir haben unsere Geschenke vertauscht – hä? Wieso eigentlich nicht? Und woran merkt er eigentlich, dass er das falsche Buch hat? Egal, vielleicht war seines Hardcover und ihres Paperback, so dass er sich wundert, warum seins plötzlich biegsam ist... Da würde mir schon etwas einfallen.

      Aber nicht mehr heute! Allmählich ließ die Hitze nach, die Sonne stand schon recht schräg. Ich ging duschen, wickelte mich in meinen Kimono und schaltete den Laptop ein, dann schrieb ich mehrere Stunden lang, bis mich ein Nachtfalter, der hektisch um die Lampe taumelte, ablenkte. Immerhin, wir waren schon in Leonores Wohnung! Mir fehlten also höchstens noch zwei Seiten, die konnte ich morgen ganz früh machen, jetzt reichte es mir.

      Lieber ging ich ins Bad und guckte mir noch einmal im Spiegel an, wie braun ich geworden war... sehr gut, man sah genau, wo der Bikini gesessen hatte, obwohl ich nirgendwo wirklich weiß war, denn auf einer Dachterrasse kann man sich schließlich auch nackt sonnen. Die Kombination von Nussbraun und Karamelbraun gefiel mir, sehr sogar. Schade, dass es hier keinen knackigen Kerl gab, dem bei diesem Anblick ein gewisses Funkeln in die Augen treten könnte... Überhaupt, es war langsam wieder mal Zeit für eine nette kleine Affäre. Hier würde ich allerdings niemanden kennen lernen, dafür hatte Kathrin schon gesorgt.

      Andererseits hatte ich bloß noch zweieinhalb Tage hier und genug zu tun – wenn ich wieder zu Hause war, konnte ich immer noch auf die Pirsch gehen, im Nightflight, in der Sala Candida, wo auch immer. Und ich konnte zusammen mit Anja und Jackie jede Menge unternehmen und dabei sicher ein Betthupferl auftreiben. Wer suchte denn schon mehr? Zufrieden mit diesen schönen Plänen kroch ich ins Bett.

      Allerdings schlief ich nicht besonders gut, weil es so gar nicht abkühlen wollte und die Luft allmählich stark an eine Waschküche erinnerte.

      Immer wieder wachte ich auf, tappte nach draußen und setzte mich