Vergessene Zeit. Elisa Scheer

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Название Vergessene Zeit
Автор произведения Elisa Scheer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783737558815



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Himmel war nahezu weiß, nur im Norden deutlich dunkler. Ich sah genauer hin – seit wann kam denn das Wetter aus dem Norden? Also trabte ich den Steg entlang bis zum Ende und drehte mich um, in der Hoffnung, nach Westen sehen zu können.

      Da wurde es auch langsam grau, aber was von Norden heranzog, war deutlich eindrucksvoller, nicht hellgrau, sondern schon eher anthrazitfarben, mit gelbbraunen Rändern. In den Wolken schien eine Art Quelleffekt zu wirken, jedenfalls veränderten sie dauernd ihr Aussehen, ohne groß zu wachsen, immer noch waren gut drei Viertel des sichtbaren Himmeln nur mit dem weißen Schleier bedeckt. Bis das Grau alles erfasst hatte, konnte es noch länger dauern, dann konnte ich ja auch weiter über meinen missratenen Gideon nachdenken.

      Und wenn das Buch gar nicht von ihm war? Wenn er es nur abfangen wollte? Vielleicht war er gar nicht der, der es dummerweise als Geschenk hatte verpacken lassen? Wirklich genial – jetzt brauchte ich schon zwei Männer, um die Widersprüche aufzulösen! Die Geschichte wurde tatsächlich immer blöder.

      Am besten warf ich den Kram weg und fing noch mal von vorne an. Oder ich ließ es ganz, schließlich hatte ich ja die Geschichte für Kathrin fertig, und das reichte vorläufig. Aus der Sache mit den vertauschten Geschenken könnte man ohnehin keinen Roman machen, und der war eigentlich eher nötig.

      Hier am See könnte es einen Segelunfall geben, der gar kein Unfall ist – das Opfer war einfach zu vielen Leuten im Weg... Blödsinn, das hatte ich doch schon tausendmal im Fernsehen gesehen!

      Ich warf einen trägen Blick zum Himmel. Hoppla, die Wolken hatten sich ja doch bewegt – jetzt bedeckten sie immerhin schon zwei Drittel des Himmels. Direkt über mir war der Himmel noch milchig, aber knapp daneben schon fast schwarz. Ich trug den Block hinein und holte mir dafür eine neue Zigarette. Das wollte ich mir doch genauer anschauen.

      Gemütlich rauchend, sah ich zu, wie die schwarze Front sich langsam nach Süden schob. Im Schilf hatte das Geraschel weitgehend aufgehört, in den Bäumen verstummten die Vögel. Das war ja ein böses Zeichen!

      Als ich zur Seite sah, bemerkte ich, dass zwei Entenfamilien eilig unter den Steg schwammen, wohl in der Hoffnung, dort geschützt zu sein. Und nun war es direkt über mir auch schon reichlich dunkel. Ich drückte die Zigarette aus, sammelte meine Habseligkeiten vom Steg ein und ging hinein, um die Fensterläden zu schließen – die Fenster selbst sahen mir nicht allzu dicht aus. Als es drinnen ziemlich finster war, weil nur noch die Terrassentür offen stand, nutzte ich schnell die Gelegenheit und ging aufs Klo, bevor das Gewitter möglicherweise den Wasserdruck beeinträchtigte. Dann aß und trank ich rasch eine Kleinigkeit und kehrte wieder zu dem Schauspiel zurück.

      Jetzt war fast der ganze Himmel schwarz, und diese gelbbraunen Ränder gefielen mir gar nicht – sollten die nicht Hagel ankündigen oder so etwas?

      Im Osten blinkte es hastig. Aha, Sturmwarnung! Ich sah, wie die Segelboote langsam zum Yachthafen zurückkehrten – Sturmwarnung hin, Sturmwarnung her, im Moment herrschte noch die totale Flaute, die Segler mussten rudern oder Hilfsmotoren einsetzen. Sehen konnte man das nicht, aber ich dachte mir mein Teil.

      Je mehr sich die weißen Segel zurückzogen (auch der See wirkte mittlerweile so schwer und grau wie der Atlantik im Januar, richtig U-Boot-grau), desto zahlreicher wurden die bunten Segel auf dem See.

      Das kannte ich noch aus meinen Teeniejahren: Erst bei Sturmwarnung wurde es mit dem Surfboard auf dem See richtig interessant! Aber das Wetter, das hier gerade aufzog, schien mir doch ein wenig extrem.

      Plötzlich kam Wind auf, einen Moment lang nur leicht, so dass sich gerade mal die obersten Äste der Eiche bewegten und die Wasseroberfläche sich flüchtig kräuselte, aber dann fegte der Wind mit Schwung über den See, und am Ostufer purzelten die bunten Segel nacheinander um.

      Die Eiche wurde kräftig gezaust, und unter dem Steg ertönte ärgerliches Geschnatter. Jetzt hörte man auch die Wellen deutlicher gegen die Stegpfosten klatschen. Im Norden blitzte es diffus, es sah eher wie Wetterleuchten aus, aber das halblaute Grummeln danach machte deutlich, dass ein wirkliches Gewitter im Anmarsch war.

      Ich nahm mir noch eine Zigarette und passte weiter wie gebannt auf. Wer wusste schließlich, wann ich mal ein Gewitter beschreiben musste? Alles konnte nützlich sein, und außerdem liebte ich Gewitter sehr. An einem See waren sie sicher auch viel eindrucksvoller als in der Stadt, wo der Wind nicht einmal richtig durchfegen konnte.

      Hier konnte er es, er trug vereinzelte Blätter und Federn mit sich und wehte mir die Asche aus dem Aschenbecher vor mir ins Gesicht.

      Das Schilf bog sich, bis es fast waagrecht lag, und richtete sich dann mühsam wieder auf, nur um gleich wieder flachgelegt zu werden, dieses Mal in die andere Richtung, weil der Wind umsprang.

      Wetterleuchten und Donnergrollen wurden häufiger und akzentuierter, mittlerweile sah man schon Blitze zu Boden fahren und hörte den Donner schärfer und in kürzerer Distanz zum Blitz (ich zählte mit, einundzwanzig, zweiundzwanzig... wie ich es von Daddy gelernt hatte). Aber noch kein Tropfen war gefallen! Ich stellte mich, sobald ich die Zigarette ausgedrückt hatte, auf den Steg, um den Wind zu genießen, der überraschend kühl war.

      Als Blitz und Donner immer näher kamen, verzog ich mich aber doch wieder in die Nähe der Hütte – vom Blitz wollte ich nicht getroffen werden. War das nicht vor kurzem einem Schüler auf dem Sportplatz passiert? Irgendwo westlich von München? Und auf dem See sollte es doch bei Gewitter nicht ungefährlich sein, oder?

      Das Hüttendach stand etwas über, und dorthin zog ich mich zurück.

      Mittlerweile zuckten die Blitze recht eindrucksvoll schräg über den Himmel, und der Donner, der jetzt schon richtig krachte, folgte ihm fast auf dem Fuße. Das Gewitter musste unmittelbar über dem See stehen! Und immer noch regnete es nicht, nur der Wind wehte zunehmend stärker.

      Schließlich aber legte sich der Wind von einem Moment auf den nächsten, und einen Augenblick lang war es ganz still, dann begann es übergangslos vom Himmel zu rauschen, als habe jemand eine Staumauer geöffnet, erst dicke Tropfen, dann regelrechte Wasserschnüre. Das überstehende Dach bot keinen Schutz dagegen; ich rannte in die Hütte und schloss den letzten Fensterladen und die Terrassentür.

      In der Dämmerung tappte ich zur Küchenzeile und schaltete das Gaslicht an. Ziemlich trüb.

      Der Regen rauschte auf das Dach, das immerhin dicht zu halten schien, alle paar Minuten von krachendem Donner übertönt. Ganz traute ich dem Dach aber doch nicht, also packte ich meinen kostbarsten Besitz, den Laptop samt der Mappe für Kathrin, in mehrere Plastiktüten und dann in meine Reisetasche, die ich wiederum in einem Schrankfach verstaute – auf mittlerer Höhe, damit sie gegen Regen wie gegen Hochwasser geschützt war. Der Rest konnte meinetwegen zum Teufel gehen.

      Ich setzte mich aufs Bett und wartete; es rauschte, es blitzte (durch die Fensterläden nur gefiltert zu sehen), es donnerte. Schließlich wurde mir doch langweilig. Konnte man nicht zur Haustür hinausschauen und das Naturschauspiel genießen? Ich probierte es aus. Zunächst ging es recht gut, der Wind blies den Regen gerade in die andere Richtung, und ich betrachtete die Bäume, allen voran die riesige Eiche, die vom Sturm gebeutelt wurden. Der Weg war bereits eine einzige Pfütze.

      Plötzlich krachte es ohrenbetäubend, und aus der Eiche stieg eine Qualmwolke auf; der Boden bebte und es stank nach Schwefel. Trotz des lauten Rauschens und des nächsten Donners konnte man hören, wie es in der Eiche knackte und knisterte. Fasziniert sah ich zu, wie sich der Stamm spaltete und die eine Hälfte langsam zu Boden krachte. Irre, ich hatte noch nie vorher gesehen, wie irgendwo der Blitz einschlug!

      Ich glotzte noch mit offenem Mund, als der Wind plötzlich drehte und den Regen durch die Haustür drückte. Hastig schloss ich die Tür wieder und kehrte zum Bett zurück.

      So sah es also aus, wenn der Blitz in einen Baum einschlug. Sehr passend... Vor Eichen soll man weichen... Oder lag es bloß daran, dass diese alte Eiche der höchste Baum weit und breit gewesen war – immer noch war, wenn auch jetzt nur noch halb so breit? Wahrscheinlich würde man sie fällen müssen, sie stand sicher nicht mehr fest.

      Der Regen rauschte unvermindert herunter. Ich sah auf die