Ehre, wem Ehre gebührt. Charlie Meyer

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Название Ehre, wem Ehre gebührt
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847623359



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aufwachte und ein Sonnenstrahl seinen verwuschelten Schopf golden aufleuchten und die weißen makellosen Zähne zwischen den leicht geöffneten Lippen wie Perlen blitzen ließ, hätte sie ihm am liebsten eine überdimensionale Sträflingskugel aus Eisen ums Fußgelenk gekettet, dass er es bloß nicht wagte, ihr abzuhauen.

      Aber er lief nicht weg. Er änderte einfach seine Pläne und blieb. Als er fünf Tage später kniete er mit dieser albernen Rose zwischen den Zähnen vor ihr und sie sagte Ja. Zum ersten Mal nannte er ihr seinen vollen Namen und erzählte von dem Rittergut derer von Storkenburg. Sie sah ihn als Ritter in glänzender Rüstung, sich selbst als strenge aber gütige Gutsherrin an seiner Seite über Haus und Gesinde wachen, und der Reiz, in ein Märchen einzuheiraten, von dem jedes kleine Mädchen träumte, tat ein Übriges. Sie sah sich quasi als Scarlett O‘Hara, seine Hand an ihrem Ellenbogen, in einem Ballkleid eine imposante Freitreppe hinunterschreiten, während ihr aus der großen Halle der geladene Adel bewundernd applaudierte. Sie sah sich mit Quentin in zufriedenem Glück das Füllhorn des Lebens leeren, bis sie dereinst, weißhaarig und gebeugt ...

      Bis dass der Tod euch scheide, und das Märchen zu Ende ist. Aber eigentlich, in gewisser Weise, hatte sie das Märchenbuch bereits kurz nach Ankunft wieder zugeklappt. Leise und heimlich versteht sich. Es langte schließlich, wenn sie sich selbst auslachte.

      In einem Punkt, so musste sie sich gleich als Erstes bei ihrem Eintreffen auf Gut Lieberthal, wenn auch widerwillig, eingestehen, hatte Quentin sie schamlos belogen. Dieser Punkt hieß Wilhelmina Magdalena Elisabeth Gräfin von Hohenried zu Wildenschloß. Bonnie warf Steinchen in die braune Brühe zu ihren Füßen. Niemand, nicht einmal ein taubstummer Blinder, würde in Versuchung geraten, die alte Gräfin mit einer gütigen Großtante aus einem Märchen zu verwechseln. Ihr hatte mitnichten das Wohlwollen aus dem greisen Antlitz geleuchtet, als sie, Bonita Alvarez, Tochter einer deutschen Fabrikarbeiterin und eines mallorquinischen Lebenskünstlers, achtundzwanzig Jahre alt, nur mäßig hübsch und angestaubte Bibliothekarin, als Quentins rechtmäßig angetraute Ehegattin und Erbin vor den gräflichen Lehnstuhl trat.

      Bis zu ihrem Tod würde sie das Entsetzen im Gesicht der Greisin nicht vergessen, dieses Entsetzen, dass sich ganz schnell in gnadenlose Ablehnung, ja sogar Abscheu verwandelte. Ihre ersten kalten Worte an Quentin Darf ich dich mal kurz unter vier Augen sprechen, mein Junge, das aufgeregte Gemurmel aus der Bibliothek, während sie gegenüber im kleinen Salon auf der äußersten Kante des Kanapees hockte, sein halbes Lächeln und der eisige Blick der Gräfin, als er später bei einem improvisierten Festessen die Ente tranchierte. Nicht einmal das Strahlen seiner kornblumenblauen Augen hatte Bonnies spontane Wut mildern können. Wenn sie ehrlich war, grollte sie Quentin noch immer für die erlittene Demütigung. Mal ganz davon abgesehen, dass sich das Märchengut ihrer Träume in der Realität als marode Bruchbude entpuppte, die offenbar nur die Furcht vor der gestrengen Gräfin davon abhielt, einfach in sich zusammenzuklappen. Aber das war das bei Weitem geringere Übel gewesen.

      »In einer Woche seid ihr mich endlich los«, murmelte sie und schlug die Kapuze des Parkas zurück. »Spätestens.«

      Nur wohin auf die Schnelle? Zu ihren Eltern konnte sie schlecht ziehen. Zwischen Quentins und ihrer Kindheit gab es eine Parallele. Auch ihr Vater hatte sie früh zur Waise gemacht. Als sie acht war, fällte er mit dem Familienauto, einem Ford Transit, einen dicken Ahorn am Rand der Landstraße und gab sich alle Mühe, mit einem Schlag die gesamte Familie Miguel Alvarez auszulöschen. Die Leichen von Diego und Nando, den elfjährigen Zwillingen, seiner Frau Magda und schließlich auch seine eigene musste die Feuerwehr mit riesigen Metallscheren aus dem Wrack schneiden. Jahre später hörte Bonnie ihre Großmutter am Telefon zu jemandem sagen, ein Feuerwehrmann habe damals gewitzelt, es sei für alle Beteiligten sinnvoller, den blutenden Metallklumpen in Gänze zu begraben. Bonnie überlebte den Untergang ihrer Familie nur, weil sie kurz vor dem Ausflug Windpocken bekam und ihrer Großmutter zur Pflege übergeben wurde. Derselben Großmutter, die sie dann auch groß zog und, als hätte sie nur darauf gewartet, am Tag ihrer Volljährigkeit tot umfiel.

      Aber Uschi nahm sie bestimmt für zwei oder drei Wochen auf und gab ihr Zeit, sich wieder eine eigene Bude zu suchen. Bonnies Stelle in der Lichtenradener Hauptbücherei war für ein Jahr eingefroren worden, hatte ihr die Freundin erzählt. Im öffentlichen Dienst in Berlin gab es mal wieder eine Haushaltssperre mit den üblichen Forderungen nach Einsparungen. Es würde schwer sein, als Bibliothekarin eine neue Stelle zu finden, immer mehr der kleinen Stadtteilbüchereien wurde geschlossen. Sie würde ihre Wertpapiere verkaufen müssen. In ihrer verliebten Kurzsichtigkeit hatte sie ihr Sparbuch abgeräumt und das Geld Quentin gegeben. Und der investierte es in einen Motor für die holländische Windmühle, damit er sie auch bei Flaute betreiben konnte. Nein, schalt sie sich gleich darauf. Keine verliebte Kurzsichtigkeit sondern Liebe und die Verwirklichung eures gemeinsamen Traumes. Gemeinsam jedenfalls in ihren Planungen, in der Realität hatte Quentin sie seltsamerweise gar nicht so gern in der Windmühle gesehen. Jedenfalls nicht sonntags, wenn die Touristen kamen. Anfangs war sie gekränkt gewesen und plagte sich eine Weile mit Begriffen wie Loslassen und Freiräumen ab, bevor sie die Leine endlich lockerer ließ. Allerdings nur an den Mühlentagen, ansonsten nahm sie jede Gelegenheit wahr, der Gegenwart der alten Gräfin zu entfliehen, indem sie Quentin folgte.

      Bekamen Witwen nach nur zweimonatiger Ehe Witwenrente? Eher wohl nicht. Ihr war, als habe sie etwas von einem Jahr gelesen. Na ja, zumindest blieb ihr das Arbeitslosengeld als Grundlage für einen Neuanfang. Nicht dass es ausreichen würde, sie hatte nur auf einer Zweidrittelstelle als Bibliothekarin gearbeitet, aber es schwächte zumindest ihre Existenzängste ab.

      Trotzdem: sie brauchte einen neuen Job, und das so schnell wie möglich.

      Vielleicht gehörst du zu den armen Irren, die den Tod magisch anziehen, dachte Bonnie deprimiert. Jeder, der in deinen Sog gerät, gibt den Löffel ab. Vater, Mutter, Oma, die Zwillinge und nun auch noch Quentin, dein Ehemann. Als Nächstes kommt dir wahrscheinlich Uschi im Bahnhof Zoo entgegengerannt, stolpert, stürzt auf die Gleise, und der nächstbeste ICE donnert über sie hinweg. Wahrscheinlich gibt es nur ein einziges Lebewesen im gesamten Sternenrund, das sich von dir nicht unter die Erde bringen lässt. Den alten Drachen, die Gräfin. Sie wird ewig leben, oder, falls sie doch irgendwann als älteste Frau des Universums stirbt, als Geist zurückkehren und allen Storkenburgs, den jetzigen wie den kommenden, gnadenlos im Nacken sitzen.

      Quentin war noch einmal nach Gut Lieberthal zurückgekehrt, damals im Juli, nachdem sie seinen Heiratsantrag angenommen hatte. Das Aufgebot hing bereits im Kreuzberger Standesamt am Mehringdamm aus, als Quentin nach Hohenfurt fuhr, die Seinen vorzubereiten. Als er zwei Wochen später zur Trauung nach Berlin zurückkehrte, hatte sie gewissermaßen die Schotten schon dichtgemacht. Die Wohnung aufgelöst, die Stelle gekündigt, sich von ihren Freunden verabschiedet, die Koffer gepackt und das große goldene Märchenbuch ihrer Zukunft auf Seite eins aufgeschlagen. Erst kurz vor ihrer Ankunft in Hohenfurt, sechs Stunden nach der eher nüchternen Trauung, gestand ihr Quentin mit seinem liebenswertesten Jungenlächeln, das er ein wenig geflunkert habe. Denn eigentlich wisse in Hohenfurt gar niemand von seiner Verehelichung. Der Schock über seine Lüge hielt auch noch an, nachdem er ihr seine Gründe dargelegt hatte.

      Es ging dabei um die Schonung seiner Großtante Mina. Sie sei fünfundachtzig, gesundheitlich angeschlagen und viel zu gebrechlich, um zu einer Hochzeit nach Berlin zu reisen. Aber wenn sie wüsste, dass ihr Lieblingsneffe heiratete, dann würde sie sich eben derart grämen, nicht dabei sei zu dürfen, dass ihr ohnehin schon angegriffenes Herz weiteren Schaden nehmen könne. Er habe ihr die Enttäuschung ersparen wollen, und darüber hinaus seinen Cousin nebst Familie nicht eingeweiht, damit sich die arme Großtante Mina nicht später als Einzige hintergangen fühle. Wo er doch ihr Lieblingsneffe sei.

      Was für eine hanebüchene Lüge, die eine wie die andere! Doch zu dem Zeitpunkt, frisch verheiratet und bis über beide Ohren verliebt, schluckte Bonnie sie und machte sich erst später klar, dass Quentin mit keinem Wort erklärt hatte, warum er eigentlich sie, seine angetraute Ehefrau, ebenfalls belogen habe.

      Die Wahrheit sah wohl eher so aus, dass er Auseinandersetzungen gern aus dem Weg ging. Zu Hause aus Furcht vor der spitzen Zunge seiner Großtante, im fremden Berlin aus Angst vor einem ersten Ehekrach. Sie lernte ziemlich schnell, dass er mit Vorliebe den Weg des geringsten Widerstandes