Ehre, wem Ehre gebührt. Charlie Meyer

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Название Ehre, wem Ehre gebührt
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847623359



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mit dem Lieblingsneffen stimmte. Seit Bonnie auf dem Gut weilte, hatte Gräfin Wilhelmina Quentin die kalte Schulter gezeigt und liebte es, ihn ihr gegenüber als Trottel zu bezeichnen. Sollte er jemals ihr Lieblingsneffe - oder besser Lieblingsgroßneffe - gewesen sein, dann lag diese Liebe wohl schon ein paar Jahre zurück. Bonnie wurde das Gefühl nicht los, dass die Verächtlichkeit der Gräfin Quentin gegenüber nichts mit seiner Mesalliance zu tun hatte. Oder nur wenig. Ihre Wurzeln mussten irgendwo tiefer liegen, das spürte sie ganz deutlich.

      Ein Schwan flog über das Wasser und folgte eine ganze Weile den Windungen des Flusses. Es tropfte aus seinem Gefieder, und die Sonne verwandelte die Tropfen für kurze Zeit in funkelnde Diamanten, bevor sie auf der braunen Brühe des Flusses aufschlugen.

      Sie schaute auf ihre Armbanduhr - Viertel vor acht. Noch ein paar Mal tief durchatmen, die Tränen runterschlucken und dann zurück in die Hölle. Die Beileidsbekundungen der Verwandten entgegennehmen, falls denn welche auftauchten, was seit ihrer Anwesenheit noch nicht passiert war, und sich den stechenden Augen der Gräfin stellen. Mit ihr zusammen die Formalitäten des Begräbnisses regeln. In die Stadt fahren und beim Bestatter vorsprechen. Einen Sarg aussuchen. Einen Sarg für Quentin mit seinen kornblumenblauen Augen, die er niemals wieder öffnen würde. Ein Spitzenkissen für seinen zerschmetterten Kopf auswählen. Von ihm Abschied nehmen. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Wollte sie das wirklich? Mit dieser Schreckschraube im Rücken, die ihr noch schnell ein Taschentuch zusteckte, damit sie nicht schnüffelte? Unter Leonards verächtlichen Blicken zusammenbrechen und sich schluchzend über den Toten werfen? Wollte sie wirklich von ihm wie ein triefender Mehlsack zum Auto zurückgeschleppt werden? Sie konnte schon die kalte Stimme der Gräfin dem Bestatter gegenüber hören: »Ich muss mich für die fehlende Contenance der Witwe entschuldigen. Mir scheint, das Proletariat neigt in derartigen Fällen zu übertriebener Melodramatik.« Es war ihr schon das eine oder andere Mal durch den Kopf gegangen, ob sie sich mit ihrer Verehelichung vielleicht in eine dieser bemitleidenswert tragischen Romanfiguren von Courths-Mahler verwandelt hatte. Armes, unbedarftes bürgerliches Ding heiratet reichen Erben und wird gnadenlos schikaniert. Nur gab es auf Gut Liebenthal nicht einmal den Anflug von Reichtum, man schlug sich mehr schlecht als recht durch den Alltag.

      Sie stand von ihrem Baumstumpf auf und starrte auf die Trauerweiden am jenseitigen Ufer. Nein, sie glaubte nicht, ihren toten Mann ein zweites Mal sehen zu wollen. Das erste Mal, erschlagen und blutig im Stroh, reichte für den Rest ihres Lebens. Sie hatte nie zuvor dem Antlitz des Todes gegenübergestanden und seine unverhohlene Brutalität hatte ihr den Atem geraubt. Sie wollte nur noch eins. Das Bild ihres toten Ehemanns im Stroh gegen das eines lebenden und lachenden Quentin austauschen. Sie wollte ihn sich vorstellen, wie er ihr bei einem Glas Wein gegenübersaß und wie er vor Lachen kaum ein Wort über die Lippen bekam. Wie er mit verwuschelten Haaren und einem schlaftrunkenen Lächeln auf den Lippen neben ihr aufwachte. Wie er mit der Rose zwischen den Zähnen vor ihr kniete und die magischen Worte sprechen: Ich, Quentinius Albertus Baron von Storkenburg bitte dich Bonita Alvarez ....

      Nein, sein Kopf war nicht zerschmettert, er lag in keinem Sarg. Er war nicht tot. O nein, sie würde nicht zulassen, dass weder der Quentin im Stroh noch dieser geschminkte Klon im Sarg den lebenden verdrängte.

      Die Nebelschwaden über dem Wasser hatten sich jetzt vollständig aufgelöst, und hinter den Trauerweiden am anderen Flussufer schien in der klaren Luft der Berg ganz nah. Die Spitzen der Fichten oben auf der Kuppe wirkten gegen den noch weißlichen Himmel wie die Zähne eines Sägeblattes. Dort oben, wo die Raubritter derer von Weißenstein hinter den dicken Zinnen ihrer Burg auf Schiffe gelauert hatten, die den Fluss hinuntergetrieben kamen, damals im Mittelalter. Quentin hatte es ihr erzählt. Kam eins, rissen sie an einem Seil, das vom Berg herunter quer über den Fluss bis zu einem hölzernen Turm hinter dem Herrenhaus derer von Storkenburg auf Gut Lieberthal gespannt war. Im Turm bimmelte die Alarmglocke, und vom Gut stürzten bewaffnete Ritter und Knappen zum Fluss hinunter und in die Kähne. Wer von den Schiffern nur seine Waren und nicht auch das Leben verlor, wagte sich kein zweites Mal zwischen Gut und Burg hindurch. Auch auf Gut Lieberthal hausten demnach damals nicht die edlen Ritter heroischer Sagen, sondern schnöde Banditen, die sich ihre Fress- und Saufgelage mit Überfällen finanzierten.

      Die Weißenstein’sche Burg gegenüber war längst von den napoleonischen Truppen geschleift. Ebenso wie die Hohenfurter Befestigungsanlagen. Obgleich Hohenfurt beim ersten Anblick einer französischen Uniform hastig kapitulierte und toter Mann spielte, ließ Napoleon ebenso hastig alles dem Erdboden gleichmachen, hinter dem sich die Hohenfurter verschanzen könnten, falls sie jemals ihren Mut wiederfänden: Mauern, das Fort auf dem nahe gelegenen Kaninchenberg, Stadttürme und sogar die alte Garnisonskirche am Stadtrand. Nur die Wälle, die erdenen Fundamente der geschleiften Stadtmauern, überdauerten die Jahrhunderte. Heute umkreisten auf ihnen Touristen die Altstadt, blickten auf den Flussbogen und fühlten sich ergriffen, weil sie auf historischem Boden herumspazierten. Quentin und sie waren am Tag nach ihrer Ankunft ebenfalls um die Stadt spaziert, und sie hatte sich vorgestellt, wie der Wall unter den Stiefeln tausender Soldaten erbebte, als die napoleonischen Truppen mit Rammbock und Gebrüll die Festungsmauern schleiften.

      Ein Kieselstein flog dicht an ihrem Ohr vorbei und platschte ins Wasser. Bonnie schrak aus ihren Träumen auf und fuhr herum. Robin, Leonards zwölfjähriger Sohn, zielte mit einer Zwille auf sie und brüllte: »He du, die Mumie will dich sehen.«

      In unseren Kreisen sagt man nicht he du, dachte sie mit einem Anflug von Galgenhumor, und Mumie zu einer altehrwürdigen Großgroßtante schon gar nicht. Doch der nächste Stein traf sie am Hals und ihr verging das Grinsen. Es tat weh. Nicht nur körperlich. Schon wieder schossen ihr die Tränen in die Augen. Um Himmels willen, schalt sie sich, er ist nur ein kleiner, dummer Bengel und weiß gar nicht, was er tut. Sie starrte ihn stirnrunzelnd an. Richtig, nur ein kleiner dummer Bengel in Sweater und Gummistiefeln. Ein wohlwollendes Schicksal hatte ihm die zarteren Knochen und feineren Gesichtszüge seiner Mutter verpasst und den grobschlächtigen Vater einfach außen vor gelassen. Allerdings war er, was sein verächtliches Verhalten ihr gegenüber betraf, ganz eindeutig Leonards Sohn. Wieder hob er die Zwille.

      »Ich warne dich, Robin. Wag es ja nicht oder du landest im nächsten Kuhfladen und zwar in einem ganz frischen.«

      Robin grinste, zog das Gummi durch und ließ es los. Der Kiesel zischte zwar knapp an ihrer Wange vorbei, aber sie flippte trotzdem aus. Es war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Mit einem Wutschrei stürzte sie vorwärts, die Hände zu Fäusten geballt. Der Junge blickte ihr ungläubig entgegen, dann warf er sich herum und nahm brüllend die Beine unter die Arme. Gegen einen panischen Zwölfjährigen hatte Bonnie natürlich keine Chance, aber sie holte alles aus sich heraus. Für wenige Momente verlieh ihr die Wut Flügel, und sie sprintete zwischen den noch immer nebelverhangenen Wiesen und Weiden hindurch, und ignorierte das laute Keuchen aus ihrer schmerzenden Kehle. Was sie letztendlich stoppte, war das schrille Wiehern eines Ponys. Brutus! Er trabte aus dem Nebelschleier einer Weide bis dicht hinter den tickenden Elektrozaun, warf den Kopf auf und ab und wieherte höhnisch. Bonnie stolperte und fiel auf die Knie. Tränenblind blieb sie hocken, während Robins Gebrüll leiser und leiser wurde, und Brutus in ihrem Rücken sie noch immer verhöhnte.

      Wie zum Teufel hatte es geschehen können, dass die goldene Taschenuhr, das teure Erbstück, im Stroh zu Hufen dieses verdammten Ponys gelandet war? Quentin hatte sie wohl kaum vor Brutus Nase hin- und hergeschwenkt, weil er ihn hypnotisieren wollte, während der Hengst rasend vor Wut die Latten des Verschlages zusammentrat. Wieso war Quentin überhaupt im Stall gewesen? Wieso nicht drüben in der Mühle? Einfach nur, um den Hengst zu reizen? Was für ein hirnverbrannter Unsinn! Quentin hätte sich nie so weit erniedrigt, ein Tier zu quälen. Weder passiv durch provokatives Herumstehen noch aktiv, in welcher Form auch immer. Rätsel, auf die sie brennend gern eine Antwort hätte. Was von dem Augenblick an geschah, als die Taschenuhr - wie auch immer es geschah - im Stroh landete, war klar. Quentin wollte sie rausholen, bevor das Pony sie zertrat. Oder jemand aus der Sippe der Storkenburgs sein Missgeschick mitbekam. Wird schon gut gehen.

      Oben verschwand Robin gerade durch die kleine Pforte im Mauerwerk und begann lauthals zu heulen. Die Gänse und Enten untermalten sein Gezeter mit aufgeregtem Schnattern. Bonnie kam wieder auf die Füße und wappnete sich gegen neue nervenzehrende Kämpfe