Ehre, wem Ehre gebührt. Charlie Meyer

Читать онлайн.
Название Ehre, wem Ehre gebührt
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847623359



Скачать книгу

Was kümmerte sie das? Von sofort an würde sie schniefen, wo und wann es ihr passte, und wer sich daran störte, sollte ihr gefälligst aus dem Weg gehen. Sie trat voll Zorn nach einem Stein auf dem Weg und schrak zusammen, als eine fette graue Kröte quer über ihre Füße hopste. Alles war noch grau in dieser Stunde nebeligen Zwielichtes. Selbst der Fluss floss grau und träge der See zu, während Bonnie zusammengesunken auf einem Baumstumpf hockte und aufs Wasser starrte. Ab und an tauchten zwischen vorüberziehenden Nebelschwaden bizarr geformte Trauerweiden am anderen Flussufer auf und versanken dann wieder im Nichts.

      Sie fror, stülpte sich die Kapuze über den Kopf und schnupperte hoffnungsfroh am dicken, karierten Futter. Nichts. Gar nichts. Nicht einmal der Hauch eines Geruches, der sie an Quentin erinnerte. Kein Aftershave, kein Eau-de-Toilette, nicht einmal Schweiß. Der Parka roch nur muffig. Nass geworden und im Garderobenschrank unzureichend getrocknet.

      Während die Nebelschwaden durchscheinender wurden, dachte sie an Berlin und ihre erste Begegnung mit Quentin. Es war im Großen Tiergarten gewesen, zur Rosenblüte, und ihm war die Rolle des ritterlichen Helden und ihr die der bedrohten Jungfrau zugefallen, auch wenn Letzteres nicht ganz wörtlich zu nehmen war. Ein Stricher entblößte sich vor ihr, um zu beweisen, was für aufrechte Freuden sie bei einem Nümmerchen hinter dem nächsten Busch erwartete. Ein arbeitsloser Tischler, der, wie sie später erfuhr, tagtäglich seine Runden durch den Tiergarten drehte und diverse Liebesdienste anbot. Ein Opfer der neuen Sozialreformen, dem plötzlich die staatliche Beihilfe versagt wurde, weil es da seine Frau gab, die verdiente. Seine Frau, eine Friseurin, die der Staat kurzerhand dazu verdonnerte, ihren Gatten finanziell zu unterhalten. Dieser Tischler jedenfalls stieg neben ihr vom Fahrrad und fragte sie nach dem Weg zum Potsdamer Platz. Während sie ihn ihm beschrieb, wandte er sich einen Moment lang von ihr ab, und als er sich wieder umdrehte, stach ihr unter aus offener Hose sein erigiertes Glied entgegen.

      Quentin, der querfeldein über eine Wiese gejoggt kam und unmittelbar vor ihnen auf den Weg stürmte, hatte er nicht kommen sehen. Quentins Faust ebenfalls nicht. Er lag auf dem Rücken, bevor er das Werkzeug seiner Dienstleistung wieder in die Hose zurückstopfen konnte. Nach dem ersten Schock und der überstürzten Flucht des panischen Tischlers war Bonnie in hysterisches Gelächter ausgebrochen.

      »Oje, tut mir schrecklich leid. Ich hoffe, der Kerl war nicht ihr bester Freund«, hatte Quentin in gespielter Zerknirschung gesagt und sie mit seinen kornblumenblauen Augen angelächelt. »Aber bei uns auf dem Land gibt es leider nur diese eine Antwort auf ein derart unentschuldbares Verhalten einer Dame gegenüber. Das geht da noch zu wie im Wilden Westen.« Er trug ein ledernes Handtäschchen an einer Schlaufe ums Handgelenk und einen Fotoapparat um den Hals. Sie war vor Lachen beinahe erstickt, aber bevor er sich pikiert davonschleichen konnte, hatte sie es geschafft, ihm gebührend zu danken.

      Danach war eins zum anderen gekommen. Ihr gemeinsamer Weg aus dem Tiergarten, wobei er drohend die Büsche musterte, als ob hinter jedem ein geschäftstüchtiger Stricher lauere, ihr kurzer Stopp an dem Polizeiwagen, in dem ein Uniformierter in ein Döner Kebab biss, die Jacke schon mit Soße und Tomatenstückchen bekleckert, und ohne großes Interesse Quentins empörten Worten lauschte. Es folgten die Fetuccini im Marlene am Potsdamer Platz, schräg gegenüber des Musicaltheaters und schließlich, zum Abschluss des Tages, ein 3-D-Film über Dinosaurier im I-Max, alberne Pappbrillen auf der Nase. Beim Abschied gab sie ihm ihre Telefonnummer, obgleich er durchblicken ließ, dass er wohl keine Zeit für eine Verabredung finden werde, er müsse schon am nächsten Tag nach Hohenfurt zurück. Nur ein Wochenende in Berlin. Das war an einem Sonntag gewesen. Enttäuscht fragte sie ihn, was noch auf seinem Besichtigungsplan stünde, und als ihm spontan Flughafen Tegel entfuhr, musste sie sich auf die Lippen beißen um nicht mit einem Toll, da komm ich mit herauszuplatzen. Obgleich sie genau genommen Flughäfen ebenso wenig abgewinnen konnte wie Bahnhöfen, es sei denn, man fuhr sie gezielt an, um zu verreisen. Aber sie drängte sich ihm dann doch nicht auf und sah mit Befremden eine gewisse Erleichterung in seiner Miene auftauchen. Wieder nichts, hatte sie frustriert gedacht, der Typ will dich nur noch loswerden.

      In der U-Bahn, auf dem Weg nach Kreuzberg, war er ihr trotzdem nicht aus dem Kopf gegangen. Sein offenes Wesen, sein Humor, die kräftige Gestalt in Lederjacke und Cordhosen, der dichte goldblonde Schopf, die kornblumenblauen Augen, eine Faust, die nicht zögerte, einer bedrängten Frau beizustehen ... Beim dritten sehnsuchtsvollen Seufzer hatte ihr Nachbar, ein übergewichtiger Türke, sie angesprochen: »Deutsche Männer nix gut in Liebe«, und seinen Neffen Murad angepriesen wie Sauerbier. Noch so ein Ladenhüter wie du, hatte sie voll Selbsthass gedacht und war am Kottbusser Tor in einer so sichtbar miesen Laune ausgestiegen, dass ein Obdachloser, der ihr den Straßenfeger verkaufen wollte, hurtig den Rückzug antrat. Später taten natürlich noch Quentins vollständiger Name und sein Adelstitel ein Übriges, aber das war erst viel später, unmittelbar vor der Hochzeit gewesen: Quentinius Albertus Baron von Storkenburg vom Rittergut Lieberthal bei Hohenfurt. Tatsächlich kannte sie bis zu seinem Heiratsantrag nur seinen Vornamen. Quentin. Quentin, der Sohn des Bauern Sowieso. Hatte sie zumindest angenommen. Doch dann kniete er plötzlich vor ihr, eine rote Rose in der Hand, und begann: »Ich Quentinius Albertus Baron von Storkenburg bitte dich Bonita Alvarez ...« Und dann kam all der romantische Quatsch, bei dem sie vorm Fernseher genervt nach der Fernbedienung suchte und nun, da es ihr selbst geschah, mit Tränen der Rührung in den Augen Ja doch, ich will hauchte. Von diesem Moment an hatte sie sich übrigens auch eingeredet, von Anfang an diese jahrhundertelang geprägte Souveränität der Feudalherren aus seinen klaren Zügen gelesen zu haben. Hatte sie jemals geglaubt, dem Sohn eines simplen Bauern gegenüberzustehen?

      Aber was auch immer sie sich einbildete oder tatsächlich herauslas, sie liebte ihn vom ersten Faustschlag an.

      Er rief dann doch abends an und lud sie zum Essen ins Hotel Adlon am Brandenburger Tor ein. Allerdings trafen sie sich dann doch nur in einem Steakhaus am Kudamm, weil sie sich dem Adlon an diesem Tag nicht gewachsen fühlte. Ihr kleines Schwarzes sei leider gerade, in der Reinigung, der zahllosen Champagner- und Kaviarflecken wegen. Er hatte am Telefon so ansteckend gelacht, dass sie lautlos und hingerissen den Hörer küsste.

      Nach dem Essen fuhren sie mit einem Taxi zu ihr nach Kreuzberg, wo Bonnie in einer Zweizimmerwohnung am Planufer wohnte, mit Blick auf den Landwehrkanal. Bis Mitternacht tranken sie Wein im Garten der Pizzeria nebenan. Er erzählte von seinem Leben auf dem Land, und natürlich nahm sie an, er lebe auf einem Bauernhof. Großer Gott, dachte sie irgendwann mal mittendrin, ich habe mich in einen Bauern verliebt. Wenn ich nicht aufpasse, melke ich demnächst morgens um fünf die Kühe, rühre bei der Hausschlachtung Blutwurst an und bringe zehn rotbackige Kinder zur Welt. Aber dann schwärmte er von seiner Holländermühle, erzählte von den Späthippies im Aussiedlerhof, von den schönen alten Fachwerkhäusern in Hohenfurt, den Hügeln und Wäldern rund um die Stadt, und von einem hinterhältigen Haflingerpony namens Brutus. Ihre zunehmende Faszination hatte die Bedenken schließlich überwogen.

      Stattdessen verschluckte sie sich vor Lachen am Wein, als er schilderte, wie ihn sein Pony schon zweimal quer über den Hof gejagt hätte. Erschrocken klopfte er ihr auf den Rücken, und sie war trotz ihrer Atemnot nahe daran gewesen, ihm auf der Stelle die Kleider vom Leib zu reißen. Sie lachte und hustete, bis ihr die Tränen über die Wangen rannen. Und nun hockte sie am Ufer des Flusses und heulte, weil ihn dasselbe Pony umgebracht hatte. Wie hieß es so treffend? Ironie des Schicksals.

      Der Nebel hing nur noch als hauchdünner Schleier über dem Wasser. Die ersten Sonnenstrahlen wärmten ihren Rücken, und schließlich fand sie in der Hosentasche ihrer Jeans doch noch ein tränennasses Taschentuch der vergangenen Nacht und schnäuzte sich lautstark. Zwei Enten glitten vom Ufer in den Fluss, der nun nicht mehr silbergrau glitzerte, sondern als braune träge Masse, schlammgesättigt nach den starken Regenfällen der letzten Woche, das Tal hinunterfloss.

      Nach dem Wein an jenem ersten Abend hatten sie sich auf ihrem niedrigen Futon geliebt. Ganz sachte und behutsam, weil er plötzlich so unsicher wirkte, und ihr das Gefühl vermittelte, sich auf ein weitgehend unbekanntes Terrain zu wagen. Auch das noch, war es ihr durch den Kopf geschossen, und von dieser Sekunde an war sie ihm mit Haut und Haaren verfallen gewesen. Sie hatte ihn gestreichelt und seine nackte Haut mit den Lippen liebkost, manchmal sogar seine Hand geführt, bis sie in einem gemeinsamen Höhepunkt zusammenfanden. Das zweite Mal im Morgengrauen