Ehre, wem Ehre gebührt. Charlie Meyer

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Название Ehre, wem Ehre gebührt
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847623359



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Kaffee aus der Glaskanne der Kaffeemaschine ein, ließ sich mit dem Rücken zur Tür auf einen Stuhl plumpsen, stützte die Ellenbogen auf, die Tasse wenig kniggemäßig in beiden Händen, und verbrannte sich beim ersten Schluck den Gaumen. Nach Helenes hastiger Flucht aus dem Raum war der breite Kronleuchter mit den elektrischen Kerzen in eine sanfte Schwingung geraten. Bonnie folgte dem Hin und Her mit nassen Augen und wartete darauf, dass der Hypnotiseur endlich neben sie trat und sie mit einem Schnippen des Fingers aus diesem Albtraum in die Wirklichkeit zurückholte. Dass sie voll Energie und Vorfreude auf den Tag die Füße aus dem Bett schwang, aus dem Fenster ihrer Wohnung am Planufer sah und bei dem vertrauten Anblick des Landwehrkanals mit seinen Brücken und Schwänen drei Etagen tiefer erleichtert seufzte. Dass sie Uschi anrief und sich für den Abend mit ihr auf eine Pizza Frutti di Mare und ein Kristallweizen in der Pizzeria nebenan verabredete. Dass die Kollegen eine E-Mail auf den Weg schickten, der Betrieb in der Bücherei bräche ohne sie zusammen.

      Dass sie einfach nur aufwachen und dann wieder neu einschlafen und neu träumen durfte. Eine neue Chance bekam. Doch es kam niemand, sie zu wecken. Der Albtraum ging weiter.

      4

      »Oberst und Polizeipräsident a. D. Anton Baron von Weißenstein«, lautete die gleichmütige Antwort des Chauffeurs auf Bonnies Frage nach dem Besitzer der Limousine. Mit seinem langen Pferdegesicht sah er Fernandel ähnlich, und dass er ihr tatsächlich antwortete, erstaunte sie. Hinter Gräfin Wilhelmina und Leonard in seinem zu engen schwarzen Anzug schloss sich gerade lautlos die Tür des Bestattungsinstitutes. Es lag inmitten der Fußgängerzone zwischen Juwelier und Hochzeitsausstatter in bester Gesellschaft. Unbedarfte konnten die Schaufensterdekoration auf dem weißen Spitzensatin durchaus für eine kostbare Sammlung Deckelvasen in künstlerisch zusammengestelltem Ensemble halten. Vor der silbernen Urne in der Mitte drapierte eine einzelne blutrote Rose, deren wie zufällig abgefallenes Blütenblatt neben der ansonsten prallen Blüte von matt glänzenden Perlen beweint wurde. Von echten Perlen, so wie es aussah.

      Trotz Fahrverbot in der Fußgängerzone stieß sich die Obrigkeit nicht an der langen schwarzen Limousine des Barons vor dem Bestattungsinstitut. Zwei Politessen schlenderten plaudernd vorbei, die Blicke konzentriert in weite Fernen gerichtet. Über der Tür des Ladens stand in schnörkeliger Silberschrift lediglich Noblesse. In stiller aber panischer Verzweiflung suchte Bonnie nach einem Weg, nicht dort hinein zu müssen. Die Augen des Chauffeurs musterten sie emotionslos im Rückspiegel. Hoch erhobenen Kopfes stieg sie aus dem Wagen, ging die paar Schritte zur Eingangstür, und während sie noch mit sich kämpfte, öffnete sich die Tür von innen und der Inhaber des Bestattungsunternehmens Noblesse leitete Bonnie mit gekonnten Bücklingen in sein Institut.

      Gräfin Wilhelmina und Leonard saßen auf zierlichen Stühlen mit geschwungen Beinen und empfingen sie schweigend.

      Hingegen geriet die Begrüßungs- oder Einleitungsrede des Bestatters zu einer nicht enden wollenden Laudatio auf den Verstorbenen. Seine Plattitüden wie selbst im Tode noch ein Bild von einem Mann oder in der Blüte seiner Jahre aus einer Zukunft gerissen, wie sie nicht hoffnungsvoller hätte sein können, zerrten unerträglich an Bonnies Nerven. Sie versuchte wegzuhören, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, aber diese halbe Stunde im Bestattungsinstitut Noblesse geriet zu einer Tortur, die ihr nie aus der Erinnerung kommen sollte. Später führte die Gräfin die Verhandlungen. Sie erteilte die Anweisungen zur Beerdigung, bestimmte den Blumenschmuck und händigte dem Bestattungsunternehmer die Liste der Gebetenen für die Beisetzung aus. Hinz und Kunz waren unerwünscht. Bei dieser Gelegenheit besprach sie kurz mit Leonard die Gästeliste für das abendliche Buffet auf Gut Lieberthal. Sie wählte die Musik für die Trauerfeier aus, gab den Namen des gewünschten Pfarrers bekannt sowie die Hauptpunkte seiner Predigt.

      Bonnie, unfähig auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen, schluckte an dem Mühlstein in ihrem Hals und rang mühsam nach Fassung. Immer wieder schweiften ihre Blicke im Raum umher, wusste sie doch Quentin mit seinem zerschmetterten Hinterkopf in allernächster Nähe. Als die Gräfin entschied, es sei Zeit, Abschied von Quentin, Baron zu Storkenburg, zu nehmen, brach sie in ein derart verzweifeltes Schluchzen aus, dass es kam, wie es kommen musste.

      Der eilends in den Laden zitierte Chauffeur mit dem Pferdegesicht brachte sie zur Limousine zurück und bugsierte sie auf den Rücksitz, wo er ihr eine Packung Kleenex in die Hand drückte. Währenddessen betraten die Gräfin und ihr bürstenhaariger Großneffe Leonard den das Aufbahrungszimmer. Als sie der Bestatter zehn Minuten später unter den Bücklingen des Bestatters auf die Straße geleitete, waren Bonnies Tränen versiegt, und sie hing nur mehr erschöpft in einer Ecke der Polster und ließ den stummen Tadel ebenso stumm über sich ergehen.

      Es gab nichts mehr aufzubegehren. Was die Schicksalsgöttinnen und Wilhelmina Magdalena Elisabeth Gräfin von Hohenried zu Wildenschloß bestimmten, wagte kein gewöhnliches Menschenkind infrage zu stellen. Ihr Zorn vom Morgen war zu einem Häufchen widerspruchsloser Hilflosigkeit zusammengeschmolzen. Ihr Kopf schmerzte, ihre Augen brannten und das Wollkleid juckte. Dann begannen auch noch ihre Kiefermuskeln zu zucken, so sehr presste sie die Zähne zusammen, aus Angst noch einmal vor der blaublütigen Verwandtschaft die Haltung zu verlieren. Mit knirschenden Zähnen hockte sie in ihrer Ecke der Limousine, als sie durch die verwinkelten Gassen der Altstadt mit ihren schiefen Fachwerkhäusern kurvten, während Leonard, der ihr auf der Bank gegenübersaß, demonstrativ zwischen Bonnie und Gräfin hindurch aus dem Rückfenster spähte. Einmal sah sie ein leises Lächeln über seine Züge huschen. Lebte er sich schon in seine neue Rolle als Rittergutsbesitzer ein?

      Mit zusammengepressten Zähnen folgte sie ihm Minuten später auf den städtischen Friedhof. Gräfin Wilhelmina wartete im Auto, während Quentins grobschlächtiger Cousin mit knapper Handbewegung auf die schwere schwarze Grabplatte mit dem Familienwappen wies, die die Gruft der Storkenburgs abdeckte und von einem pathetisch blickenden Engel in menschlicher Größe bewacht wurde. Er war schon beinahe grün vor Patina und hielt das Wappenschild der Familie in Händen. Ein diagonal geteiltes Schild. Zwei gekreuzte silberne Lilien auf blauem Grund oben links, ein blauer Löwe auf Silber unten rechts. Über beidem ein Helm, den mächtige Federn zierten. Ein stolzes Wappen, das jedoch, wie der Engel, dringend einer liebevollen Aufbesserung bedurft hätte.

      Hinter der Grabplatte ragte schwarzer Marmor in Form einer dreischiffigen Basilika auf, deren Mittelschiff die beiden nach außen hin schräg abfallenden Seitenschiffe um einen geschwungenen Spitzbogen überragte. Von allen drei Teilen leuchteten ihr in Goldgravur die Namen der in der Gruft unter der Grabplatte beigesetzten Mitglieder des Adelsgeschlechtes derer von Storkenburg entgegen. Das älteste Begräbnis datierte aus dem Jahr 1832. War nicht Goethe in dem Jahr gestorben? Ob die Kollegen in der Lichtenrader Bücherei manchmal an sie dachten? Bonnie schluckte und zwang sich, auch die anderen Daten und Namen zu lesen, aus Pietät vor den Verstorbenen oder weil sie dachte, Leonard und die Gräfin erwarteten dies von ihr - sie wusste selbst nicht warum. Sie umklammerte die Spitzen des schmiedeeisernen Gitters, das die Grabstelle weiträumig umgab und in dem in regelmäßigen Abständen und abwechselnd die beiden Heroldsbilder des Wappenschildes auftauchten: Lilie und Löwe als Symbole von Reinheit und Wehrhaftigkeit. Wo ruhten diejenigen, deren Todesjahr vor 1832 lag? In der Gruft unter der maroden Gutskapelle? Sie war nie über die Absperrung gestiegen aus Angst, die Kapelle krache just in diesem Moment in sich zusammen.

      Die Namen der toten Frauen und Männer auf den drei Marmorplatten der Basilika lasen sich wie der Index eines Adelsverzeichnisses. Bonnie fiel auf, das vor Quentin kein einziger Spross der Familie Storkenburg, egal ob Männlein oder Weiblein, unter seinem Stand, sprich eine Bürgerliche oder einen Bürgerlichen, geheiratet hatte. Möglicherweise hielten sie sich aus diesen Kreisen Liebhaber oder Mätressen, doch geehelicht wurde ausnahmslos adlig. Mit mit dem Namen Laetitia Eulalia, Baronin von Storkenburg, geborene Gräfin von Hohenried zu Wildenschloß gesellte sich zu der Schar niederer Freifrauen und Baroninnen, Freiinnen und Baronessen 1938 so etwas wie Hochadel. Quentins Großmutter lag also hier, die lächelnde junge Frau vom Ölbild im Damensalon, Gräfin Wilhelminas Schwester, die nur Monate nach der Geburt von Quentins Mutter an Schwindsucht gestorben war. Die letzten beiden Namen auf den Marmortafeln lauteten Roland von Storkenburg und Justus von Storkenburg, Quentins und Leonards Väter also, die Zwillingsbrüder.