Ehre, wem Ehre gebührt. Charlie Meyer

Читать онлайн.
Название Ehre, wem Ehre gebührt
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847623359



Скачать книгу

waren schon ein knappes Vierteljahrhundert zuvor an einem Steilhang unter einen sich überschlagenden Trecker geraten. Mit ihnen wurde auch die Landwirtschaft auf Gut Lieberthal begraben. Die Gräfin verkaufte Egge und Mähdrescher, verkaufte einen Teil der Ländereien, verpachtete einen anderen Teil und widmete sich der Erziehung der beiden Jungs. Leonard war elf, Quentin neun, als ihre Väter in der Hohenfurter Familiengruft auf dem städtischen Friedhof beigesetzt wurden.

      »Na komm schon, du blödes Vieh!« Bonnie näherte sich mit ihrem betörendsten Lächeln, während es heftig zu regnen begann, und ihr das Wasser von Nase und Kinn tropfte. Schon seltsam, dass Brutus Quentin derart hasst, dachte sie plötzlich und grinste breit. Der Farbe von Fell und Haaren nach, diesem glänzenden Honigblond, könnten sie glatt Brüder sein. Nur, dass Quentins Augen in der Farbe der Kornblumen an den Wegrainen erstrahlten, und die Wangengrübchen sein Jungengrinsen unwiderstehlich machten, während das Pony nur tückisch unter seinen langen, farblosen Wimpern hervorlinste.

      Ihre Freundin Uschi kam ihr in den Sinn. Die Warnungen vor der Hochzeit, die psychologischen Stümpereien, nachdem sie Quentin kennengelernt hatte. Bonnies intellektuelles Großstadtnaturell suche unbewusst den unbedarften Holzhackertypen zwecks Bestätigung der eigenen Überlegenheit. Was für ein hanebüchener Unsinn. Allerdings hatte sie Uschi die Schwarzmalerei übel genommen und ihr bis heute noch nicht vollständig vergeben. Großstadtpflanzen verkümmern auf dem Land. Eine unselige Verbindung, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sei. Kassandra hätte es nicht besser gekonnt. Und sich nicht gravierender irren können.

      Noch jedenfalls war Bonnie sowohl auf dem Land als auch in Quentins Armen glücklich. Oder wäre es zumindest ohne die grimmige Gräfin Wilhelmina, den mürrischen Cousin Leonard und das kleine, aufdringliche Ekel von seinem Sohn gewesen. Leonards Frau störte sie nicht weiter, sie werkelte selbstgenügsam in der altmodischen Gutsküche herum und kochte und putzte. Okay, sie huschte derart geisterhaft durchs Haus, das Bonnie bei ihrem Anblick mitunter erschrocken zusammenfuhr. Helene schien es geradezu darauf anzulegen, sich über Stunden unsichtbar zu machen - in Vergessenheit zu geraten - um einem dann ganz unerwartet von hinten auf die Schulter zu tippen. Ätsch, ich gehöre doch nicht zum Inventar wie die Stühle mit den verschlissenen Polstern und das durchgesessene Kanapee im kleinen Salon. Wie die stummen Ritterrüstungen auf den Treppenabsätzen. Ätsch, ich bin aus Fleisch und Blut und will dich zu Tode erschrecken. Aber letztendlich wogen das blitzblanke Haus und der Entenbraten am Sonntag diese kleine Eigenheit von ihr wieder auf.

      In Brutus kam Bewegung, als sie sich von hinten näherte. Seine Flanken zuckten, und er verrenkte sich schielend den Hals nach ihr. Er linste über die Schulter, und Bonnie konnte nur das Weiße in seinen Augen sehen. Abschätzend und hinterhältig, dachte sie beklommen. Sie schluckte mit enger Kehle und drosselte ihr Tempo.

      »Hallo Süßer«, murmelte sie beschwörend und schob sich dann unauffällig Zentimeter für Zentimeter näher. »Keine Angst, die liebe Bonnie tut dir nichts. Sie bringt dich nur in den Stall zurück, und wenn du ein netter Mensch bist, machst du mir keine Scherereien. Komm schon, mach mir nichts vor. Ich weiß, dass du weißt, dass in diesem Moment die gesamte popelige Verwandtschaft an den Fenstern hängt und vor Schadenfreude in die Gardinen beißt. Also sei lieb und liefere mir keine Schlappe. Mir ist klar, dass auch in deinen Adern blaues Blut fließt und du wie alle anderen vor Dünkel kaum aus den Augen blicken kannst, aber wenn du ein Herz in der Brust hast ... Huch!«

      Brutus wirbelte herum. Unter seinen eisenbeschlagenen Hufen sprühten die Pflastersteine Funken. Fünf Meter weiter in Richtung Tor blieb das Pony schliddernd stehen und blickte sich herausfordernd um. Seine Mähne tropfte, und das Rückenfell färbte sich in der Nässe dunkel.

      »Du blödes Biest. Ich hoffe, du holst dir eine Lungenentzündung und krepierst.« Bonnie fröstelte stärker in ihrer dünnen Regenjacke. Es war Mitte September, der Herbst zog schon mit Macht übers Land, und die uralten krüppeligen Walnussbäume entlang der Landstraße schüttelten bereits ihre Nüsse ab. Sie nahm sich vor, am nächsten Tag mit einem Korb loszuziehen. Bei dem Gedanken an frische Walnüsse zog sich ihr Magen vor Hunger zusammen.

      Als sie sich näher schob, trippelte der Hengst herum und blickte ihr mit erhobenem Kopf entgegen. Seine Oberlippe zog sich weit von den gelben Zähnen zurück, und einen Moment lang glaubte sie, zwischen Brutus‘ schrillem Wiehern ein nicht weniger schrilles Gelächter von irgendwoher zu hören. Verwalterhaus? Allerdings fiel es ihr schwer, sich Leonard oder Helene lachend vorstellen, selbst wenn es nur ein Hohnlachen wäre. Beide pflegten ihre depressive Ausstrahlung wie andere Leute ihre Vorgärten. Leonard bevorzugte einen mürrischen Trübsinn, Helene die devot unterwürfige Beachtet-mich-gar-nicht-Variante.

      »Früher oder später krieg ich dich, und dann wirst du dir wünschen, meinen netten freundlichen Ehemann Quentin vor dir zu haben. Im Gegensatz zu ihm bin ich ausgesprochen nachtragend. Rachsüchtig geradezu. Und falls du vorhaben solltest, den Anhänger von Meister Struck zu demolieren, überleg es dir lieber ein zweites Mal.«

      Sie hatte erst einmal gesehen, wie weit sich ein normalgroßer Haflinger strecken konnte, wenn er ausschlug, aber ihrer Erinnerung nach würden es Brutus` Hufe bis zu Malermeister Strucks abgestelltem Anhänger schaffen. Warum hatte niemand auf dem Gut an eine Haftpflichtversicherung für bösartige Ponys gedacht? Wenn Brutus den Hänger zertrümmerte, bekam sie die Schuld und würde bis an ihr Lebensende mit vorwurfsvollen Blicken bestraft werden. Mit Quentins Gelächter ebenfalls. Sie warf Brutus Zuckerstückchen vor die Nase, und ohne sich auch nur die Mühe zu machen, seine Nüstern schnuppernd zu senken, zermalmte er sie mit dem Vorderhuf. Er rieb sie geradezu ein in das Hofpflaster, dann stand er wieder still. Bonnie stutzte. Halluzinierte sie oder färbte sich der Zuckermus rötlich? Sie sah genauer hin. Das Horn seiner Vorderhufe war dunkel fleckig, und es tropfte rot aus den langen Fesselhaaren.

      »Wenn du an den Farbeimern des Malers gewesen bist, lässt dich der nette Mensch bestimmt zu Wurst verarbeiten. Und wenn du nicht sofort hierher kommst, besorge ich mir vorher noch eine Schrotflinte und verpass dir eigenhändig den Gnadenschuss!« Ein merkwürdiges Gefühl von Unbehagen rumorte in ihrem Bauch. Was da aus Brutus‘ Fesselhaaren tropfte, sah nicht unbedingt nach Malerfarbe aus, sondern eher nach Blut. Gerade wurde ihr vor Angst flau im Magen, da schoss ihr auch schon die logische Erklärung für das Blut durch das Hirn. Natürlich, das blöde Pony hatte sich beim Zusammentreten der Box an Holzsplittern verletzt. Aufgeschrammte Fesseln. Kein Wunder. Deshalb brach Brutus auch immer wieder aus, wenn sie versuchte, ihn einzufangen. Es hatte Schmerzen und Angst und ...

      Bonnie schrie auf, als sich knochige Finger um ihren Arm schlossen, und fuhr herum. Eigentlich stand niemand hinter ihr, nur ein kolossal weiter und bodenlanger Regenumhang mit einer riesigen Kapuze, die ihr ihre Spitze entgegenstreckte. Der Umhang schwankte, und dann krächzte Gräfin Wilhelminas Stimme unter der Kapuze hervor: »Was fällt dir ein, das arme Tier über den ganzen Hof zu hetzen. Siehst du denn nicht, dass es an den Fesseln blutet? Führ mich zu ihm, du Törin.«

      Bonnie konnte das Gesicht nicht sehen, aber sie war sich absolut sicher, dass der Grimm in ihren eigenen Zügen dem der Gräfin in nichts nachstand. Ein kleiner Stoß nur, dachte sie wütend und schlich mit zitternden Knien vorwärts, den Regenumhang schwer am Arm, ein kleiner Stoß nur, und sie fällt vielleicht unglücklich, bricht sich den Oberschenkelhals, infiziert sich im Krankenhaus mit Pneumokokken oder Pseudomonas, und aufgrund des Patiententestamentes lassen wir sie friedlich und schlauchlos einschlafen.

      Stattdessen führte sie die Gräfin sicher auf das Pony zu. Aus Brutus, dem stolzen Tyrannen, wurde mit jedem Zentimeter Annäherung Brutus, der arme verletzte Haflinger. Sein Kopf sank kraftlos herab, bis er dicht über den Pflastersteinen baumelte, der aufgestellte Hengstschweif fiel in sich zusammen und verschwand dann demütig zwischen den Hinterbeinen. Seine Flanken begannen unkontrolliert zu zittern. Als der Regenmantel vor seinen Hufen zu Boden sank, und die dürren Finger der Gräfin behutsam seine Fesselhaare lüfteten und unter ihnen nach Wunden forschten, knabberte das Pony mitleidheischend an der Kapuzenspitze und schnoberte leise. Auf unwilligen Zuruf griff Bonnie dem Regenmantel unter die Achseln und half ihm resigniert wieder auf die Beine.

      »Du dummes Tier, dir fehlt rein gar nichts«, schimpfte es aus der Kapuze. »Jetzt aber Abmarsch mit dir in den Stall.«

      Brutus