Ehre, wem Ehre gebührt. Charlie Meyer

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Название Ehre, wem Ehre gebührt
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847623359



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die vom Weinen schmerzenden Augen zusammen und spähte hangaufwärts.

      Die Rückseite des Herrenhauses wirkte selbst in dieser einigermaßen freundlichen Morgenbeleuchtung erschreckend trostlos. Wie ein Gefängnis oder eine Irrenanstalt aus dem neunzehnten Jahrhundert. Die Fenster schnitten, eins neben dem anderen, ohne Schnickschnack und Einfassungen einfach nur dunkle Rechtecke aus der glatten Fassade. Es gab keine Erker oder Balkone, keine Friese oder wenigstens mit Geranien bepflanzte Blumenkästen, sondern nur Reihe um Reihe rechteckige dunkle Fenster, die ihr so schwarz und unfreundlich entgegenstarrten, wie die Menschen, die hinter ihnen lebten. Zwischen den Rechtecken große Flecken roten Mauerwerks, wo der Putz in ganzen Fladen von der Wand gebröckelt war. Während vorn wilder Wein die ganze rechte Seite des Gutshauses überzog und zumindest bei anfälligen Gemütern einen Hauch von Romantik aufkommen ließ, stürzte die rückwärtige kahle Fassade ausnahmslos jeden Betrachter in tiefe Depressionen. Die Regenrinne, an einer Dachecke losgerissen, wies wie eine Rutschbahn schräg nach unten. Die halb verfallene Mauer mit dem rostigen kleinen Tor, die auf der Rückseite das Grundstück abschloss, ließ wohl keinen Zweifel mehr an der pekuniären Situation des Rittergutes übrig. Das Gesamtbild ließ sie frösteln.

      Von vorn wirkte das Herrenhaus durch den wilden Wein und den halbrunden, von vier kannelierten Säulen getragenen Balkon im ersten Stockwerk, der ehemaligen Beletage, freundlicher, wenn auch nicht weniger marode. Die eigentliche Farbe der maroden Schindeln auf dem hohen barocken Walmdach ließ sich nicht mehr ausmachen. Das Haus selbst sah grau und schmutzig aus, und auf dem von Fresken-Löwen gehaltenen Sandsteinwappen über dem mächtigen Eichenportal war die Jahreszahl abgeplatzt. Verfall, wohin man blickte. Gut Lieberthals Blütezeit mit ausschweifend tafelnden Rittersleuten lag offenbar schon Jahrhunderte zurück. Heute reichte das Geld nicht einmal aus, den Verfall aufzuhalten, geschweige denn, auch das Gutshaus restaurieren zu lassen. Aus demselben Grund waren auch das Kavaliershaus und die große Weizenscheune, die Anfang der sechziger Jahre durch Brandstiftung in Flammen aufgingen, nie wieder aufgebaut wurden. Nahezu ein Drittel der kleinen verspielten Zinnen auf der vorderen Gutshofmauer war abgebrochen, und die Flügel des Eingangstores unter dem hohen Bogen mussten dringend entrostet und neu gestrichen werden. Einfach alles musste dringend entrostet und neu gestrichen werden.

      Eine Bruchbude, dachte Bonnie traurig. Marode, verwahrlost und nur noch durch blaublütigen Stolz zusammengehalten. Von Grund auf restauriert, könnte die ganze Anlage ein kleines, wenn auch seltsames Juwel werden. Was ihr an Gut Lieberthal gefiel, war die Unmöglichkeit, es nach all den Jahrhunderten der Kriege, Brände, Plünderungen und dem Wiederaufbau einer einzigen architektonischen Epoche zuzuordnen. Die Storkenburgs der letzten fünfhundert Jahren hatten auf Einheitlichkeit wenig Wert gelegt. Erweitert wurde im Stil der jeweiligen Epoche. So schufen die Gutsbesitzer im Laufe der Zeit ein architektonisches Mosaik, das für Architekturstudenten eine perfekt Examensaufgabe darstellte. Die kleine, marode Kapelle mit dem Riss in ihrem Tonnengewölbe und den dicken Mauerquadern war eindeutig romanisch, die Spitzbögen der Fenstereinfassungen im Verwalterhaus gotisch, wohingegen seine Stufengiebel der Renaissance entstammten. Barocke Kapitelle der kannelierten Säulen, ein klassizistisch schlicht gehaltenes Portal. Rundbogige Fenster mit spitzbogigen Einfassungen rahmten barocke Pfeiler, und das Stallgebäude auf der rechten Hufeisenseite der Gutsanlage war reines Fachwerk. Dunkle verwitterte Balken durchzogen grau verfärbten Putz.

      Gleich bei ihrer Ankunft hatte sie es bis in die Haarspitzen gereizt, sich Malermeister Storcks Anhänger auszuleihen und den nächstgelegenen Baumarkt leer zu kaufen. Aber das Wohl des Gutes lag nun nicht mehr in ihrem Zuständigkeitsbereich. Sollte sich die Gräfin nebst Anhang ihren Raubvogelkopf zerbrechen. Sie, Bonnie, würde noch heute anfangen, ihre Sachen zu packen und sich mit Uschi in Berlin in Verbindung setzen.

      Auf dem Pflaster des Hofes parkte dieselbe schwarze Limousine wie am Vortag. Der alte Herr namens Anton schien der Gräfin erneut seine Aufwartung zu machen. Sein Chauffeur hielt, wie gehabt, in tadelloser Haltung und schwarzem Anzug neben der Fahrertür Wache und würdigte sie keines Blickes.

      »Du mich auch«, murmelte Bonnie böse und schleuderte in der Eingangshalle - die Storkenburgs sprachen vom Entree - die Gummistiefel von den Füßen.

      Das Abstrafungskomitee empfing sie bereits dort unten. Die Gräfin, dürr und winzig, und wie am Vortag von Kopf bis Fuß in schwarzes Musselin und Brüsseler Spitze gehüllt, wartete in geradezu aristokratischer Pose am Fuße einer der beiden seitlichen Treppen hoch n die Beletage. Leonard, einen Arm um die Schultern seines Sohnes gelegt, der Rotz und Tränen heulte, versperrte Bonnie den Weg ins Esszimmer. Aus der Küche klapperte so penetrant das Geschirr, als wolle auch Helene ihre - wenn auch unsichtbare - Rolle in dieser Schmierentragödie herausstreichen.

      »Darf ich fragen, was diese Aufmachung zu bedeuten hat?« Gräfin Wilhelminas scharfe Stimme verloren sich in der Akustik der großen Halle zu ungewohnter Piepsigkeit. Ihr kalter Blick nicht. Er umfing Bonnie von Kopf bis Fuß. Die ungekämmten kupfernen Locken, die vom Weinen rot geränderten Augen, die rote Nasenspitze, der Schlabberpullover, die hochgekrempelten Jeans und die dicken Wandersocken, die sie in den Gummistiefeln getragen hatte.

      »Ich war spazieren«, entgegnete sie trotzig. »Oder ist das in euren Kreisen ebenfalls verpönt?«

      »Durchaus nicht. In unserem Kreisen ist lediglich Liederlichkeit im Aussehen verpönt. Wie kannst du es wagen, dich ausgerechnet heute in einem derartigen ... Aufzug der Öffentlichkeit zu präsentieren? Du schadest damit der Reputation deines Mannes.«

      »Du meinst, eine höhere Reputation macht ihn wieder lebendig?«, fragte Bonnie scharf zurück, während ihr schon wieder das Wasser in die Augen schoss.

      »Sei nicht albern, aber die Storkenburgs haben einen ausgezeichneten Ruf zu verlieren, und ich werde dafür sorgen, dass nicht du es sein wirst, die ihn zerstört. Es wäre mir persönlich lieber, dich hinter verschlossenen Türen und Fenstern auf dem Gut zurückzulassen, aber es gehört sich nun mal, dass du im Bestattungsinstitut anwesend bist. Wenn du dich also auf deine Pflicht besinnen könntest, Helene hat dir passende Trauerkleidung auf dem Bett bereitgelegt. Und beeil dich bitte, die Limousine wartet bereits vor den Stallungen.«

      »Na toll«, brachte Bonnie mühsam über die Lippen und wandte sich dann, weiß vor Zorn, Leonard zu. »Was ist mit dir, wolltest du mir ebenfalls noch etwas mitteilen?«

      »Ja, will ich in der Tat. Wenn ich das nächste Mal höre, dass du meinen Jungen geschlagen hast, findest du dein Gepäck auf der Straße wieder. Noch vor der Beerdigung, damit das klar ist.« Seine Stimme grollte von den Wänden wider. Aus der Sicherheit seines Armes heraus grinste Robin sie hämisch am, bevor er erneut losheulte und sich die Wange hielt.

      »Das kannst du dir sparen, ich reise freiwillig und mit dem größten Vergnügen ab. Aber falls dein missratener Sohn vorher noch einmal seine Zwille auf mich richtet, wird er schneller laufen müssen als heute. Wenn ich ihn erwische, bringe ich ihm bei, wie man in meinen Kreisen unverschämte Kinder bestraft. Also halt ihn von mir fern und jetzt gib mir gefälligst den Weg frei Bevor ich irgendwohin fahre, verehrte Gräfin Wilhelmina, werde ich mich an den Küchentisch da drin setzen und eine Tasse Kaffee trinken.« Sie trat, die Fäuste in die Seiten gestemmt, direkt auf Leonard und Robin zu, bebend vor Zorn und wild entschlossen, sie einfach über den Haufen zu rennen. Doch Leonard tat ihr den Gefallen nicht. Er wich in letzter Sekunde aus, den Filius am Kragen.

      Die Gräfin in ihrem Rücken gab einen erstickten Ton von sich, der nur eines Vokals bedurfte, um das ganze Ausmaß ihrer Entrüstung preiszugeben. Leonard hingegen brüllte sie an: »Fang besser schon an zu packen, denn sobald sich die Gruft hinter deinem Trottel von Ehemann geschlossen hat, stehst du vor dem Tor.«

      Sie fuhr herum und brüllte zurück. »Gut, okay! Das kommt mir ausgesprochen entgegen. Ich könnte es auch kaum aushalten, mit einer Intelligenzbestie wie dir unter einem Dach zu leben. Wie hoch sagst du ist dein IQ?«

      Helene, wie immer scheu wie ein Reh, räumte gerade das einsame, nicht genutzte Gedeck vom zerkratzten Küchentisch, das wohl für sie, Quentins Witwe, gedacht gewesen war, und Bonnie war mit einem Satz neben ihr und riss ihr die leere Kaffeetasse aus der Hand. »Danke vielmals, dass du noch diese zwei Minuten hast warten können. Wirklich sehr zuvorkommend. Weißt du, Helene, in eure Familie eingeheiratet