Ehre, wem Ehre gebührt. Charlie Meyer

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Название Ehre, wem Ehre gebührt
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847623359



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Selbstmord begangen als ihr Name ausgesprochen. Elisabeth von Storkenburg, geb. Freiin von Rosenthal, war kurz nach dem vierten Geburtstag ihres einzigen Sohnes am Hohenfurter Bahnhof mit leichtem Gepäck - dem Familienschmuck - in einen Zug gestiegen und an irgendeinem Schnittpunkt des europäischen Schienennetzes wieder ausgestiegen, um mit zweiundzwanzig Jahren ein neues, ein gräfinnenloses Leben zu beginnen. Bonnie konnte es ihr nicht verdenken. Übel nahm sie ihr allerdings, einen so kleinen, leicht beeinflussbaren Knaben zwischen den Zähnen des Drachen zurückgelassen zu haben. Obgleich offenbar ein Teil der gräflichen Erziehung einfach an ihm abgeprallt sein musste. Der Teil mit dem Dünkel beispielsweise.

      Als sie sich nach Leonard umdrehte, marschierte er bereits wieder den Hauptweg zum Friedhofstor hinunter, vor dem, schwarz, fett und makellos poliert, die überlange Limousine parkte. Bonnie, so plötzlich allein zwischen den Gräbern, starrte der gedrungenen Gestalt mit den hängenden Schultern nach und tröstete sich mit dem Gedanken, dass ihm alle Charaktereigenschaften fehlten, Quentins Platz als Gutsherr des Rittergutes Lieberthal auszufüllen. Er wies absolut nichts auf, was ihn zu einem Repräsentanten einer stolzen Dynastie befähigte. Weder Charme, noch Selbstbewusstsein, weder Redegewandtheit noch Menschenkenntnis. Vor allem kein Quentchen Humor. Quentin war es ein Leichtes gewesen, Menschen jeglicher Couleur und Herkunft um den Finger zu wickeln und mit ihnen zusammen zu lachen. Leonard würde ihnen auf die Füße treten mit seinen klobigen Gummistiefeln, die für schlammige Felder, nicht jedoch für das Parkett der Diplomatie gedacht waren.

      Sie beobachtete, wie er sich schwerfällig auf den Beifahrersitz der Limousine zwängte, und fragte sich plötzlich, warum keiner von beiden neben ihr stand. Steckte eine Absicht dahinter? Sollte sie vielleicht sogar öffentlich zur Schau gestellt werden als die komische Witwe, über die man schon seit Wochen tratschte. Quentins Mesalliance? Wollte man sie der Lächerlichkeit preisgeben in ihrem schwarzen Wollkleid mit dem unmöglichen Hut?

      Was sollte sie hier? Mit dem Engel Zwiesprache halten und ihm sagen, dass seine grünen Patinaflügel dringend einer Bürste bedurften? Sich bei den aristokratischen Geistern, die sie jetzt sicherlich aus angemessener Entfernung missbilligend musterten, dafür entschuldigen, Quentin - einen Adeligen hoch über ihren eigenen Kreisen - zu sich herabgezogen zu haben? Einen naiven unbedarften Landjunker bezirzt, verführt und schließlich soweit verhext zu haben, dass er sie in einem Anfall geistiger Umnachtung ehelichte? Von einer Sekunde zur anderen beobachtete sie sich selbst, wie sie da vor dem mit einer dicken Kette gesicherten Tor der Grabstelle stand und die Namen anstaunte. Aber war das wirklich sie, diese Frau mit dem verschwollenen Gesicht, in diesem formlosen schwarzen Wollkleid mit schwarzem Spitzenkragen, das in Schnitt und Kragen fatal dem der Greisin in der Limousine ähnelte? Dieses eingeschüchterte Wesen mit den kupferroten Locken, die sie auf Befehl einer Fremden, die ihr gar nichts zu befehlen hatte, unter einem altmodischen Pott von Hut hochgesteckt trug, damit sich niemand in der Trauer an dem Rot störe? Trug sie wirklich ein Kleid von Helene, einen Hut von Helene, eine dicke, schwarze Strumpfhose von Helene und diese soliden schwarzen Birkenstock-Halbschuhe von Helene? Erst brüllte sie sie in der Küche an, weil sie ihr die Kaffeetasse vor der Nase abräumte, dann ließ sie sich von derselben Person widerstandslos als Aschenputtel verkleiden. Kaum zu glauben. Seit Quentins Unfall spielten ihre Emotionen verrückt. Manchmal, von einer Sekunde zur anderen, rettete sich ihr Geist aus der grausamen Wirklichkeit in ein Paralleluniversum hinüber, in dem es keine Schmerzen gab. Ihr Körper blieb und ließ sich willenlos herumschubsen. In diesem Augenblick jedoch, als sie sich als die schwarze hässliche Krähe mit diesem schrecklichen Pott auf ihrem rotem Kopfgefieder sah, zu der sie geworden war, fragte sie sich, ob ihr Geist nicht schon für immer umgezogen war. Vielleicht hatte er nur eine Marionette zurückgelassen, deren Fäden eine stolze alte Frau mit mittelalterlichem Ehren- und Moralkodex in ihren Fingern hielt.

      Bonnie atmete tief durch.

      »Ihr könnt mir kreuzweise den Buckel runterrutschen«, sagte sie ruhig.

      Sie war das nicht, dieses gebrochene, kleinmütige und schwarz gewandete Wesen vor dem Grab. Das war nicht die Bonita Alvarez aus Berlin. Nicht einmal ein Abklatsch von ihr. Nur ein verkleideter, willenloser Klon, der eine ganze Familie auf sich herumtrampeln ließ, nur weil ihn der Tod ohnehin schon zu Boden gezwungen hatte. Sie war beileibe keine Schönheit mit dem breiten Mund und den Pfunden zu viel auf den Hüften, aber unter dicken Schichten schwarzer Wolle verstecken, brauchte sie sich nun wirklich nicht. Vor allem aber hatte sie es nicht nötig, ihre Trauer um Quentin mit irgendwelchen veralteten Ritualen wie schwarz tragen in der Öffentlichkeit zu demonstrieren. Und weiterhin seine bösartige Familie auf sich herumtrampeln zu lassen, war nichts als eine charakterlose Manifestation ihres Selbstmitleides.

      »Dann wollen wir mal!« Sie blickte grimmig den Patinaengel an, und der schaute aus seinem grünen Gesicht so duldsam zurück, dass sie ihn am liebsten getreten hätte. Der Kies knirschte unter ihren Füßen, als sie den Weg zum Tor zurück mehr rannte, als ihrer Trauer entsprechend würdig schritt. Fernandel, der Chauffeur, riss ihr unbewegten Gesichtes die Fondtür der Limousine auf. Bonnie dankte stumm nickend, beugte sich in den Wagen und angelte nach ihrer Umhängetasche auf dem Sitz.

      »Darf ich fragen ...«, setzte die Gräfin eben an, als ihr Bonnie mit einer unwilligen Handbewegung das Wort abschnitt und Leonard anfauchte, der verblüffend reaktionsschnell ebenfalls nach der Tasche langte.

      »Wenn du sie auch nur mit deinem kleinen Finger anrührst, Cousin Leonard, dann werde ich bei der Beerdigung einen Skandal provozieren, von dem sich euer blaues Blut bis zum Sankt Nimmerleinstag nicht mehr erholt. Ich könnte strippen. Ich könnte durchsickern lassen, wir beide, du und ich, hätten ein Verhältnis.« Sie stockte. »Nein, auf das Zweite verzichte ich dankend, aber irgendetwas Nettes wird mir schon einfallen. Also lass die Finger von der Tasche! - Und Sie verziehen sich gefälligst wieder hinter Ihr Lenkrad, Herr Chauffeur!« Er stand noch immer hinter ihr, aber wie zufällig näherte sich seine Hand ihrem Ellenbogen. Bei ihren Worten zog er rasch die Finger zurück und entfernte sich rückwärts, aber in seinen traurigen Hundeaugen blitzte es amüsiert auf.

      Bonnie schlug vor der Hakennase der Gräfin die Fondtür zu, aber unmittelbar danach senkte sich lautlos die getönte Scheibe ab, und die Hakennase tauchte wieder auf. Empört zitternd.

      »Hat dein seltsames Gehabe einen triftigen Grund oder beabsichtigst du uns lediglich zu brüskieren? Ich befehle dir, auf der Stelle wieder einzusteigen. Du verursachst bereits jetzt einen Skandal.«

      »Ich werde einkaufen gehen, Gräfin«, entgegnete Bonnie mit fester Stimme. »Und zwar allein. Zum Gut zurück nehme ich den Bus oder ein Taxi. Vielleicht trampe ich auch oder leihe mir in der Stadt das nächstbeste Fahrrad auf. Auf Wiedersehen, und ich hoffe, nicht so bald.«

      Sie blickte sich nicht um, als ihr die Limousine im Schritttempo die Friedhofsstraße hinunterfolgte, die Hakennase der Gräfin noch immer im offenen Fenster. An einem Zebrastreifen wechselte sie vor dem silbernen Kühlergrill mit der zierlichen Galionsfigur die Seite und tauchte in das Grün eines Parks ab. Nachdem sie eine Weile kreuz und quer durch den Park gehetzt war, auf ihrer Flucht vor der Realität, blieb sie keuchend vor Atemlosigkeit neben einer Bank stehen. Nein, dachte sie, nicht setzen, nicht denken und trauern, sich ablenken und handeln. Die Lähmung überwinden, wieder die aktive Frau werden, die sie vor ihrer Ankunft in diesem Restposten des Mittelalters gewesen war. In ihr eigentliches Ich zurückschlüpfen, und die Dämonen aus ihrem Kopf vertreiben.

      Unter den befremdlichen Blicken jener Hohenfurter und Touristen, die die Zeit fanden aufzublicken zwischen ihrem Gehetze vom Bäcker zum Friseur oder vom Museum zum Mittagessen, hetzte sie mit heißen Wangen die Fußgängerzone hinunter. Als sie ein Bekleidungsgeschäft fand, dessen Schaufensterauslagen dem Kreditrahmen ihres Kontos angemessen schienen, blieb sie aufatmend stehen. In Berlin hätte man sie vielleicht für einen Grufti mit Geschmacksverirrung gehalten und nicht weiter beachtet. In einer Kleinstadt wie Hohenfurt jedoch würde sie, so wie sie augenblicklich herumlief, als Anblick des Jahres in die Annalen eingehen. Schlimmer noch: als Helenes Klon.

      Sie hoffte inbrünstig, niemand möge sie von ihren Spaziergängen und Shopping-Touren mit Quentin wiedererkennen. Doch plötzlich kam ihr in den Sinn, dass sie in den zwei Monaten ihrer Ehe kaum Bekanntschaften geschlossen hatte. Seit ihrer Ankunft hatte es auf Gut Lieberthal keine Einladungen gegeben, ergo