Ehre, wem Ehre gebührt. Charlie Meyer

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Название Ehre, wem Ehre gebührt
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847623359



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hat der Racker plötzlich die Ohren angelegt und sogar nach mir ausgeschlagen. Nach mir, wohlgemerkt. Dabei striegele und füttere ich ihn schon seit zwanzig Jahren. Um ein Haar hätte er mich erwischt. Ich konnte gerade noch zur Seite springen. Hey, dachte ich, jetzt hat’s ihn doch erwischt. Das Viech ist durchgeknallt. Aber als ich mich vorsichtig wieder anpirsche, um das olle Handtuch aufzuheben, das er mir aus der Hand getreten hatte, da sehe ich doch diesen dicken Dorn in seiner Kruppe stecken. Einen Mordsdorn und ganz schön tief im Fleisch. An Brutus‘ Stelle hätte ich auch einen Rappel bekommen. Dieser Dorn hier, sehr ihr?« Er hielt etwas in die Höhe, was Bonnie durch ihren Tränenschleier nicht erkennen konnte. »Schätze mal, Brutus hat sich in der Streu gewälzt und den Dorn dabei eingefangen. Obgleich ...« Er blickte den Dorn zwischen seinen Fingern stirnrunzelnd an, doch dann hellte sich sein Gesicht wieder auf. Ihm war offenbar ein neuer aufmunternder Gedanke gekommen. »Übrigens weiß ich jetzt auch, warum mein Cousin so dämlich war, sich in die Box zu wagen.«

      »Nun?« Die Gräfin schnalzte unwillig mit der Zunge. »Nimm dir ein Taschentuch und hör auf zu schnüffeln, Bonita. So etwas gehört sich nicht.«

      »Ich hab‘ im Stroh die hier gefunden.« Er ließ eine goldene Taschenuhr an goldener Kette zwischen Daumen und Zeigefinger baumeln. »Das viel gepriesene Erbstück der Storkenburgs. Seit Karl dem Großen von Generation zu Generation weitervererbt.« Seine Stimme klang beleidigt. Er war offenbar leer ausgegangen, obgleich sein Vater und der von Quentin Zwillinge gewesen waren, also beide der Hauptlinie des Geschlechtes entstammten. »Warum er so schluderig mit ihr umgegangen ist, dass sie in der Box lag, weiß ich nicht. Auf jeden Fall lag sie drin und er wollte sie wohl wieder rausholen. Schätze mal, er hat dem Racker einen Schlag auf die Kruppe gegeben, damit er mit der Hinterhand herumtritt und dabei die Stelle mit dem Dorn getroffen.« Er blickte Beifall heischend die Gräfin an. »Wenn ich dir einen Dorn in die Pobacke rammen würde, dann würdest du auch ausflipp ...«

      Weiter kam er nicht.

      »Schon gut, ich verstehe. Mäßige dich!«, unterbrach Gräfin Wilhelmina hastig, bevor ihr Großneffe das Gleichnis weiter ausschmücken konnte. »Die Uhr in der Box erklärt das Unglück zur Genüge. Darüber hinaus sehe ich mich gezwungen, dir zuzustimmen, Leonard. Wenn dieses wertvolle Erbstück im Stroh vor Brutus‘ Hufen lag, dann kann es dein Cousin nicht mit der Hochschätzung in Ehren gehalten haben, die ihm gebührt. Deiner Bemerkung, die Taschenuhr stamme aus der Zeit Karls des Großen, entnehme ich jedoch, dass deine Geistesgaben in der Schule nicht ausreichend gefördert wurden.« Sie schwieg einen Moment und schüttelte ganz leicht den Kopf. »Nein, wahrscheinlich habe ich unrecht. Mir scheint eher, alle Storkenburg’schen Männer haben sich bei der Verteilung der Geistesgaben nicht gerade vorgedrängelt. Statt das Geschlecht derer von Storkenburg nach allen Kräften erhalten zu wollen, treiben sie es mit Macht auf den Abgrund zu und arbeiten an ihrer eigenen Ausrottung. Dass du lachst, Leonard, beweist meine Theorie zur Genüge.« Sie funkelte ihren Großneffen eisig an, und das Grinsen erstarb ihm auf den Lippen. »Dein Vater, der Allmächtige gebe auf ihn Obacht, war nicht weniger ein Hohlkopf als alle anderen, Quentins Vater eingeschlossen. Wie kann man bei Nacht und Nebel und ohne Weg und Steg mit einem Traktor eine steile Wiese hinunterfahren? Betrunken! Weißt du eigentlich, dass er den abgebrochenen Steuerknüppel noch in der Hand hielt, als man ihn und seinen toten Zwillingsbruder unter dem Traktor hervorzog? Sobald ich das Geld aufgebracht habe, unsere Kapelle da draußen wieder instand zu setzen, werde ich für dich und deinen Sohn eine Messe lesen lassen, mein lieber Großneffe Leonard. Ich werde wohl Gottes Hilfe benötigen, den Rest der Storkenburgs am Leben zu halten.« Sie schüttelte seufzend den Kopf. »Armer dummer Quentin. - Nun, das Unglück ist geschehen, wir können es durch unnötiges Lamentieren nicht wieder rückgängig machen. Das Rad des Schicksals ist gnadenlos in seinem Lauf. Gib mir deinen Arm, Leonard.« An der Tür wandte sie sich noch einmal Bonnie zu, die noch immer mit geballten Fäusten und tränenüberströmt in der Mitte des Salons stand. »Der Arzt hat dir Schlaftabletten hiergelassen, mein Kind. Ich habe Helene angewiesen, dir zwei neben ein Glas Wasser auf das Nachttischchen zu legen. Scheu dich nicht, sie zu nehmen. Die nächsten Tage werden hart für uns alle, und du wirst deinen Schlaf brauchen.«

      »Ich versteh das nicht. Warum war er denn überhaupt im Stall? Er hätte in der Mühle sein müssen. Die Flügel haben sich gedreht. Es war doch Sonntag. Mühlentag!«

      »Gute Nacht, Bonita.«

      3

      Bonnie verbrachte eine grausame Nacht auf dem Boden vor dem Kamin. Das haltlose Schluchzen verebbte bald, aber die Erinnerung an Quentins zerschmetterten Schädel blieb. Blut, Hirn und Haare. Immer wieder schüttelte es sie vor Grauen. Dazu kam der Schmerz, sich nie mehr in seinen starken Armen geborgen zu fühlen, die Erkenntnis, nach nur zwei Monaten Witwe geworden zu sein, ihre Wut auf die Gräfin und Leonard, ihre Scham, sich so ohne Gegenwehr das Heft aus der Hand hatte nehmen lassen, und der unbeschreibliche Horror, ihr Mann hätte vielleicht überlebt, wenn sie nur sofort, beim ersten Wort dieser alten Schreckschraube, aufgesprungen und zum Stall hinübergerannt wäre. Entsetzen und Gewissensqual, Wut und Angst kreisten unablässig durch ihren Kopf. Ihre Augen schmerzten vom Weinen und dem unablässigen Starren in die hoch auflodernden Flammen im Kamin, die sie Scheit für Scheit nährte, ohne die Kälte aus den Knochen zu bekommen. Bei der ersten Morgendämmerung, als sich der Himmel hinter den Windmühlenflügeln, die nun stillstanden wie Quentins Herz, aufhellte und rosa verfärbte, um schließlich doch nur hinter grauem Nebel zu verschwinden, hielt sie nichts mehr im Haus.

      Sie schlüpfte in ihre Gummistiefel und Quentins dicken Parka und stapfte zwischen Herrenhaus und Verwalterhaus hindurch und an Leonards Geflügelmenagerie vorbei. Ein Schlängelpfad führte in den verwilderten Garten, in dem, wie überall auf Gut Lieberthal, das Unkraut mannshoch wucherte. Die Gänse schnatterten entsetzt und flohen in die hinterste Ecke, als sie das Gehege passierte. Die Enten blieben todesmutig hocken, die Schnäbel unter die Flügel gesteckt. Ganz vorn, direkt neben der Tür, stand der Hauklotz zum Schlachten mit der dunkel gebeizten Oberfläche und den eingetrockneten Blutschlieren. Jenseits des Geheges begann die große, halbrunde und halb verfallene Terrasse mit dem bröckelnden Mäuerchen, das von Brennnesseln und dornigen Ranken überwuchert war und nahtlos in den Unkrauturwald überging, den erst die Gutshofmauer zwanzig Meter weiter begrenzte.

      Bonnie nahm den Weg durch das rückwärtige kleine Tor in der Mauer zum Fluss hinunter. Nebel hing über den Flussauen, den Wiesen und Weiden. Einmal glaubte sie durch das Grau die Silhouette eines Ponys hinter einem Weidezaun zu erkennen, aber als sie mit flatterndem Magen ein zweites Mal hinblickte, war da wieder nichts als eine graue Nebelwand. Ein Pony, das tötete, nahm auf dem Rittergut Lieberthal eine höhere Stelle ein als die Witwe dessen, den es getötet hatte, soviel war ihr mittlerweile klar geworden. Es gehörte zur Familie, während sie nach wie etwas behandelt wurde, das die Katze ins Haus getragen hatte.

      Sollte sie Uschi bitten, zu kommen? Sich Beistand für die Beerdigung holen? Eine schnoddrige Berliner Schnauze, die der Gräfin Kontra gab und mit ihrer Unverblümtheit Helene in abgrundtiefe Verlegenheit stürzen würde? Nein, besser nicht. Es war vielleicht einfacher, den Horror ohne beste Freundin durchzustehen. Auf sich selbst gestellt, widerstanden Körper und Geist eher der Versuchung zusammenzuklappen und als heulendes Elend an einer vertrauten Schulter herumzuhängen. Außerdem gehörte Uschi, finanziell gesehen, zur Spezies der Pleitegeier. Sie war keine Diplom-Bibliothekarin wie Bonnie, sondern nur Bibliotheksassistentin, verdiente nicht gerade üppig, gab aber ihr Gehalt in einer Geschwindigkeit wieder aus, die schon an Panik vor einem Bankencrash grenzte. Und sie gab es fast ausschließlich für Kleidungsstücke und Körperschmuck wie Zungenpiercing und Pobackentattoos aus. Je schriller, desto schöner. Zurzeit waren ihre Haare neonorange. Bonnie stellte sich das gesammelte Storkenburg’sche Entsetzen angesichts des schillernden Paradiesvogels vor, während sie durch das kniehohe Gras der beinahe zugewachsenen Feldwege stapfte. Nach einer Weile bog sie auf den Trampelpfad ein, der von der Straße zum Fluss hinunterführte. Am Tag ihrer Ankunft war sie genau hier mit Quentin übermütig über die Wiesen getollt. Später waren sie lachend und erschöpft zwischen Mohn und Kornblumen, zwischen Schafgarbe und Wiesenschaumkraut zu Boden gesunken und hatten sich geliebt.

      Sie biss sich auf die Lippen und schniefte laut. Kein Taschentuch