Ehre, wem Ehre gebührt. Charlie Meyer

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Название Ehre, wem Ehre gebührt
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847623359



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Beinen, Rokoko-Sesselchen, die ächzend protestierten, sobald man ihnen zumutete, eine menschliche Last zu tragen, ein Kanapee von Francois Cuvullie mit einem Eigenleben tückischer Sprungfedern und diverse Kommödchen mit Nippes. Gräfin Wilhelminas großes, grimmiges Konterfei in Öl beherrschte von der Wand über dem Kamin den gesamten Raum. Vis-à-vis, neben der zweiflügeligen Schiebetür, die den Salon vom Schlaf- und Ankleidezimmer der Gräfin trennte, hing ihre Schwester Laetitia, Quentins verstorbene Großmutter. Sie lächelte sanft. Von Familienähnlichkeit keine Spur.

      Die dicke Schicht aus abgetretenem Handgeknüpftem auf dem Boden verschluckte Bonnies Schritte. Alles hier im Haus war abgetreten, verschlissen und altersfleckig. Vom Keller bis zum Dachboden. Und überall, wegen der Fußkälte der hohen Räume im Winter, lagen die Teppiche mehrfach übereinander. Kelim über Isfahan und Perser über Berber. Lautlos erreichte sie die verschnörkelte Rosenholztür des Damensalons. Lautlos schritt sie über den langen Läufer des elend langen Flurs und lautlos über einen zu schmutzigem Rosa ausgebleichten Treppenläufer die Stufen ins Erdgeschoss hinunter. Vorbei an zwei Ritterrüstungen auf halber Höhe, und erst unten, auf dem bunten Mosaiksteinfußboden der großen Empfangshalle, setzte das Klacken der Schuhsohlen wieder ein.

      Am Schuhschrank neben dem massigen Eichenportal schlüpfte sie in ihre Gummistiefel, zog sich die Kapuze der Regenjacke über die kupferroten Locken und blieb, als die Tür hinter ihr schwer ins Schloss fiel, fröstelnd im Nieselregen stehen. Der Haflingerhengst schien zu träumen. Ein Tagtraum, in dem eine Herde staunender Stuten an seiner Schönheit vorbeiparadierte. Er stand wie eine Eins. Eine honigblonde Reiterstatue ohne Reiter. Allerdings schielte er unter den langen Stirnhaaren seiner Mähne hervor, und seine Pupillen folgten jeder ihrer Bewegungen. Dass er ein Halfter trug, beruhigte sie ein wenig. Sofern sie nahe genug an Brutus herankam, und sofern er nicht versuchte, sie wegzubeißen mit seinen großen gelben Zähnen, konnte sie vielleicht den Backenriemen seines Halfters packen und ihn in den Stall zurückführen. Bei Leonard sah es ganz einfach aus.

      Die verrosteten Torflügel unterhalb des hohen und vollständig mit Efeu überwucherten Torbogens standen offen, aber tatsächlich standen sie tagsüber immer offen. Draußen auf der Landstraße rauschten vereinzelt Autos zwischen dem Gut und der Arbeitersiedlung jenseits der Straße vorbei, diesem Dutzend einstöckiger verwahrloster Häuser mit tief heruntergezogenen Dächern und von Vandalen eingeworfenen Fensterscheiben. Ein kleiner Weiler, nicht mehr, aber es gab sogar ein Ortsschild, auf dem Lieberthal stand.

      Auf Gut Lieberthal gab es längst keine Bediensteten oder Hofarbeiter mehr. Seit Ende der fünfziger Jahre stoben keine Funken mehr aus der alten Schmiede, und kein Duft nach frisch gebackenen Gersterbroten zog durch die offenen Fenster in die Stuben der Wohnhäuser. In der halb verfallenen Remise schimmelte nur noch der Landauer des alten Dorfarztes vor sich hin und erinnerte an bessere Zeiten. Ein deprimierender Anblick. Die Gemäuer hüben wie drüben verfielen, es fehlte das Geld für Reparaturen. Es reichte ja nicht einmal zur Instandhaltung des noch bewohnten Gutes. Debütantinnenbälle, Sommerfeste und Herbstjagten gehörten längst einer nur selten heraufbeschworenen Vergangenheit an. Auf diesem Gut wie auf vielen anderen. Mit dem reichen Adel der Boulevardblätter verbanden die Storkenburgs nurmehr Tradition und - zumindest was die Gräfin betraf - Stolz.

      Den einzigen baulichen Lichtblick, diesseits wie jenseits der Straße, bot Quentins Windmühle. Eine Holländermühle mit einer hölzernen Galerie und einem aus roten Ziegelsteinen gemauerten dreistöckigen Unterbau. Auf einer Bronzetafel neben der Tür stand der alte Müllergruß zu lesen: So lange Welten stehen, so lange Menschen sind, werden Mühlenräder gehn, durch Wasser, Dampf und Wind. Glück zu! Die Mühle stammte vom Ende des 18. Jahrhunderts und war die vorerst Letzte einer ganzen Reihe von Bockwindmühlen, die, eine wie die andere, vom Feuerteufel eingeäschert worden waren.

      Dank Quentins liebevoller Restaurierung galt der Gallerieholländer über den Landkreis hinaus als sehenswürdiges Schmuckstück. Seine Idee, ihn jeden Sonntag als Museumsmühle wieder in Betrieb zu nehmen, und die Touristen ein Säckchen Korn selbst mahlen zu lassen, führte von Woche zu Woche zu einem stetigen Ansteigen der Besucherzahl. Ab und an fuhr das kleine Grüppchen Aussteiger vom nahe gelegenen Aussiedlerhof mit seinem klapprigen VW-Bulli vor und lud Einkorn- und Emmersäcke aus. Aber auch innerhalb der Woche herrschte auf Gut Lieberthal reger Betrieb. Quentin hatte die nicht mehr genutzten Stallungen an einen Maler und Tapezierer, Meister Struck aus Hohenfurt, vermietet, und an der roten Backsteinmauer neben dem Tor lockte ein von Leonard angebrachtes Schild mit frisch geschlachteten Enten und Gänsen. Das Zubrot des armen Verwandten, von der Gräfin mit missbilligender Ignoranz gestraft. Frisch geschlachtet hieß bei Leonard tatsächlich, sich vor den wartenden Kunden die Schlachterschürze umzubinden und zwischen Herrenhaus und Verwalterhaus im Maschendrahtverschlag zu verschwinden, um aus der panisch schnatternden Menge die fettesten Enten oder Gänse auszuwählen. Einmal, gleich am Tag ihrer Ankunft, hatte Bonnie bei dem Geschnatter neugierig aus dem Fenster geschaut und voll Entsetzen mit angesehen, wie sich Leonard den Körper der Gans zwischen die Beine klemmte, den Hals auf dem Hauklotz lang zog und ihr einhändig mit der Axt den Kopf abhieb. Dann war ihm die Gans entwischt und kopflos durchs Gehege geflattert. Bonnie schaffte es noch immer nicht, ihrem angeheirateten Cousin ohne Schaudern die Hand zu schütteln.

      Sie stand auf dem Hof und beobachtete das regungslose Pony. Über der bröckelnden Mauer rechts vom Tor drehten sich träge aber beständig die Flügel der Mühle. Quentin verkroch sich mit Sicherheit nicht unter dem Heu. Er war drüben, beaufsichtigte das Mahlwerk und bremste übereifrige Touristen zum Wohl ihrer Finger aus. So wie an jedem Sonntag, ließ er sie das Mehl in den Trichter über den Mahlsteinen schütten und das Mahlwerk betätigen und freute sich an ihrem kindlichen Stolz, wenn sie mit einer Tüte selbst gemahlenen Mehles wieder in ihre Wagen stiegen und nach Hause fuhren. Zu Bonnies Verblüffung kamen sie nicht nur aus Hohenfurt, sondern reisten aus dem ganzen Landkreis an. Und nicht nur das. Sie fuhren sogar, was sie anfangs verblüffte und dann, aus Stolz über Quentins Erfolg, beinahe zu Tränen rührte, mit Nummernschildern aus Metropolen wie Frankfurt, Hamburg und sogar München vor.

      Der Haflinger musste sich vor einer Maus erschreckt haben, dachte sie. Drehten nicht angeblich sogar Elefanten durch, sobald es vor ihren Füßen piepste?

      Ein Wagen raste am Tor vorbei. Die Einheimischen nutzten die Leere dieser Nebenstrecke, um das Gaspedal durchzutreten. Seit einigen Jahren führte auf der anderen Seite der Hügel eine vierspurige Schnellstraße in die nächste Stadt.

      Die Windmühlenflügel noch im Blick, stellte sich Bonnie Quentin in seinen weißen Pluderhosen und mit den klobigen Holzschuhen vor und grinste breit, während sie mit einem Stück Zucker auf der ausgestreckten Hand beherzt auf den Hengst zuging. Zugegebenermaßen sah Quentin wirklich ein wenig komisch aus. Zugegebenermaßen verdiente das Gut tatsächlich keinen Cent am Mahlen des Korns, aber es waren genau diese kleinen selbstlosen Gesten, die sie an ihrem Mann so liebte. Sein Eifer rührte sie, wenn er versuchte, ihr den Mechanismus der verschiedenen Mahlgänge - Grütz-, Gerstenschäl- und den Schrotgang zum Herstellen von feinem Roggen- und Weizenmehl - zu erklären. Sie freute sich über seinen Erfolg und die Anerkennung der Kunden. Abends vor dem Kamin konnte er stundenlang über seine Idee sprechen, aus der verwahrlosten Gutssiedlung neben der Mühle nach und nach, in täglicher Kleinarbeit, ein Museumsdorf zu gestalten. Zusammen mit ihr. Altes Handwerk - neu erleben, so sollte der Slogan auf dem Werbeflyer lauten. Im Frühjahr und Herbst sollte es Mühlenfeste geben, auf denen Glasbläser und Schmiede ihre Handwerkskunst vorführten. Er zeigte ihr stolz die Urkunde aus dem Jahr 1513, auf der dem Gut Lieberthal feierlich der Wind zum Mahlen in Gnaden erstattet und verliehen wurde, mit dem Zusatz Niemand anderes auf eine Meile Weges rund herum möge dergleichen aufstellen und haben.

      Manchmal fühlte sie sich bei seinen Worten allerdings unbehaglich. Sie gingen keiner geregelten Arbeit nach und lebten beide mehr oder minder in den Tag hinein. Von den Pachteinnahmen und von der Miete, die Malermeister Struck für seinen Lagerraum entrichtete, hatte ihr Quentin erklärt. So wie alle auf dem Gut. Leonard war mit seinen gelegentlichen Schlachtorgien der Einzige, der buchstäblich durch seine Hände Arbeit Geld verdiente. Besonders wenn der Martinstag näher rückte. Helene, Leonards Frau, die Tochter eines Grafen aus dem Emsland, widmete sich mit beängstigender Leidenschaft vor allem dem Putzen. Nebenbei bekochte sie sowohl ihre Familie als auch die Gräfin, Quentin