Ehre, wem Ehre gebührt. Charlie Meyer

Читать онлайн.
Название Ehre, wem Ehre gebührt
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847623359



Скачать книгу

mit dem er ein paar Worte wechselte. Oder sie als seine frisch gebackene Ehefrau vorstellte. Namentlich und per Handschlag kannte sie nicht mehr als vier oder fünf Hohenfurter, ohne den Eindruck gewonnen zu haben, es handele sich um enge Freunde ihres Mannes. Oder überhaupt um Freunde. Zum ersten Mal fragte sie sich ernsthaft, ob er vielleicht gar keine gehabt hatte.

      Nachdenklich zwängte sie sich an hastenden Hausfrauen, müßigen Touristen und Ständern der neusten Kollektion Hohenfurter Wintermäntel vorbei, und bedachte die wenigen Leute, die sie kritisch musterten, mit ihrem grimmigsten Blick. Aufrecht bleiben, Bonita, nur keine Schwäche zeigen. Allerdings knickte ihr Stolz dann doch ganz schnell ein, als sie der Blick eines großen, schlaksigen Mannes streifte, der auf einem der runden Ständer vor den Umkleidekabinen die Blusen Karussell fahren ließ. Er blickte auf, als sie sich näherte, und es war diese schnelle Abfolge unverhüllter Emotionen auf seinem Gesicht, die ihr die Schamröte in die Wangen trieb. Offenbar hatte er jemand anderes erwartet. Seine Frau vielleicht, die aus einer der Umkleidekabinen trat, sich endlich für eine der Blusen entschieden hatte und Komm Schatz, wir gehen sagen würde. Daher spiegelte seine Miene im ersten Moment pure Erleichterung wider. Als er seinen Irrtum bemerkte und stattdessen einer schwarzen Krähe mit grimmigem Blick gegenüberstand, entgleisten seine Züge in unverhohlenes Entsetzen.

      »Gütiger Himmel«, stammelte er mit dröhnendem Bass und hielt den Blusenständer abrupt an. Er trug Jeans und ein weißes Hemd, und das blauschattige Kinn mit den schwarzen Stoppeln ließ vermuten, dass er schon seit Tagen vergeblich nach seinem Rasierapparat suchte. Seine glatten Haare waren pechschwarz, nachlässig aus der gebräunten Stirn nach hinten gekämmt und hingen ihm bis auf die Schultern. Bonnies erster Eindruck war der eines großen, ungepflegten und sehr müden Mannes, dem ohne ihr schockierendes Auftreten binnen Sekunden die Augen zugefallen wären.

      Drei Tage durchgefeiert, dachte sie mit einem Anflug von Neid und schob das Kinn nach vorn. »Und?«, fragte sie patzig. »Noch nie einen Grufti gesehen oder gibt es in Hohenfurt keine Exoten wie uns? Sollten Sie vorhaben, vor Schreck umzukippen, muss ich Sie warnen. Mein Erste-Hilfe-Kurs liegt schon Jahre zurück. Wenn ich jetzt mal bitte an die Blusen dürfte?«

      »Grufti?« Er stolperte rückwärts. »Großer Gott, tut mir leid, ja ... ich meine nein, ... ich meine doch natürlich, aber noch keinen Grufti mit einem derartigen ... Pott auf dem Kopf!«

      Ihre Hand zuckte nach oben, doch dann ließ ihr kläglicher Rest von Stolz nicht zu, dass sie sich vor seinen Augen den grässlichen Hut von den Haaren riss. Sie beschied ihn lediglich mit einem wütenden Blick, während sie sich in Gedanken in den Allerwertesten trat. Hätte sie nicht wenigstens den Hut abnehmen und die schwarzen wollenen Strümpfe ausziehen können, bevor sie sich in Hohenfurts beliebteste Einkaufsstraße wagte? Doch dann lächelte sie majestätisch und widmete sich den Blusen. Hier kam Aschenbrödel, die Filzpantoffeln der bösen Stiefschwester gegen einen gläsernen Schuh auszutauschen.

      Der Mann hinter ihr räusperte sich und versuchte vergeblich seinem dröhnenden Bass ein Flüstern aufzuzwingen. Seine Worte dröhnten durch den Verkaufsraum, und etliche Köpfe wandten sich zu ihnen um.

      »Entschuldigen Sie, ich vermute, Sie sind in Trauer und ... und so. Ich meine, Herr Jesus, wo habe ich nur meine Manieren, mein herzliches Beileid, ich wollte ihnen bestimmt nicht auf die Füße treten, aber finden Sie Ihr Outfit nicht etwas übertrieben. Ich meine selbst für einen Grufti ... Dieser ... na ja, ich weiß nicht, wie ich ihn bezeichnen soll.« Er deutete auf ihren Hut, und Bonnie beschlich das ungemütliche Gefühl, er provozierte sie bewusst, um die Umstehenden zu unterhalten. Vielleicht war er einer dieser Möchtegernkomiker, die auf Kleinkunstbühnen auftraten. Seine schwarzen Augen funkelten vor Willkür. »Glauben Sie bitte nicht, ich möchte sie anbaggern, was bei einer trauernden Frau natürlich mehr als unpassend wäre, aber …«

      »Dann lass es und halt die Klappe, Schatz!« Eine langbeinige Blondine in weißem Hosenanzug trat aus einer der Umkleidekabinen und pfefferte ihm einen Push-up-BH vor die Brust. »Du zahlst.«

      »Sicher«, seufzte er und zwinkerte Bonnie zu. »Ich bin ja auch von uns beiden der Krösus. Wiedersehen. Äh - vielleicht versuchen Sie es mal mit einem Kleiderstoff, der nicht von allein steht. Ein netter Sommerstoff. Crêpe de Chine oder Satin oder so. Und nehmen Sie den Nachttopf vom Kopf.« Ein feister Mann in ihrer Nähe verschluckte sich vor Lachen.

      »Wieso nicht gleich Seide?«, fragte sie bissig zurück, wütete gegen sich selbst für dieses mickrige, einfallslose Gegenfeuer und wünschte sich eine Pumpgun in Händen.

      »Nein, keine Seide. Seide ist etwas für alte, verknöcherte Gräfinnen.«

      Während Bonnie entgeistert seinem schmalen, ein wenig gebeugten Rücken nachstarrte, zog ihn die Blondine energisch zur Kasse. Bonnie war ihr überaus dankbar, obgleich sie Frauen, die in Kleidung und Aussehen Barbie idealisierten, nicht ausstehen konnte. Aber immerhin hatte diese Barbie ihren Ken fest im Griff.

      Bonnie wählte mit moralischer Unterstützung ihrer Umkleidekabinennachbarin ein schwarzes Hemdblusenkleid aus, das Oberteil mit schmalen silbergrauen Streifen, der Rock glockenförmig ausgestellt. Ein breiter silbergrauer Gürtel betonte ihre Taille. Nach der Beerdigung würde sie das Kleid mit farbigem Gürtel und Halstuch kombinieren können. Sie fand noch einen engen schwarzen Rock, der auf die Hälfte herabgesetzt war und eine Handbreit über den Knien endete. Dazu eine Bluse, dessen gedämpfter Grünton hervorragend mit ihren roten Locken kontrastierte. Rock und Bluse behielt sie gleich an und ließ das Hemdblusenkleid, Helenes furchterregendes Wollkleid mit dem Spitzenkragen, den grässlichen Hut und die dicke Strumpfhose einpacken. Zum Abschied fragte sie die Verkäuferin nach einem Schuhgeschäft und verließ erleichtert den Laden. Die Zeiten, in denen trauernde Witwen ein Jahr lang in Sack und Asche durch die Straßen schlichen, waren gottlob vorbei. Die Seelenqualen Trauernder gingen niemanden etwas an.

      Der Schuhverkäufer konnte sein gequältes Lächeln nicht schnell genug verstecken, als Bonnie Helenes solide Treter von den Füßen streifte und gegen elegante Pomps eintauschte.

      In der warmen Mittagssonne setzte sich Bonnie in ein Straßencafé, dorthin, wo sie dem Trubel am nächsten war und bestellte Lauchcremesuppe mit frischem Baguette. Obgleich sie seit vierundzwanzig Stunden keinen Bissen mehr zu sich genommen hatte, musste sie Löffel für Löffel zum Mund zwingen. Ihr schmerzender Magen rebellierte, sie drohte vor Schwäche zu kollabieren, doch ein kleiner boshafter Wicht hinter ihrer Stirn verweigerte ihr die Nahrung. Tote konnten schließlich auch nicht mehr essen.

      Was willst du eigentlich?, dachte sie gleich darauf. Dich zu Tode hungern, um gemeinsam mit Quentin begraben zu werden?

      Quentin! Sein Lachen! Wieder schoss ihr das Wasser in die Augen, und ihre Umgebung verschwamm hinter dem Tränenschleier. Sie krallte sich die Fingernägel in die Hand, um nicht laut loszuheulen. Als die Sicht wieder klarer wurde, versuchte sie sich auf ihre Umgebung zu konzentrieren.

      Die Fußgängerzone rahmten hohe, schmale Fachwerkhäuser mit steilen Giebeln. Verspielte Erker, Verzierungen und in die Giebelbalken geschnitzte Sprüche wechselten mit schnörkellosen Fassaden. Kein Haus glich dem anderen, kein Giebel endete auf der Höhe seines Nachbargiebels. Keiner der verzierten Türstürze fand seinen Zwilling, kein Fachwerk glich in seiner Anordnung schwarzer Balken und weißer Gefache dem Haus nebenan. Keine der Inschriften in den Balken über den Türen wiederholten sich. Gottesfürchtige Sprüche in Niederdeutsch, die Namen der Erbauer, das Zeichen ihrer Zunft - Dat is Timmermann - erbaut im Jahre des Herren Anno Domini 1413 oder 1543 oder wann auch immer. Darüber und darunter geschnitzte Fächerrosetten, Puttenköpfe, szenische Darstellungen biblischer Geschehnisse. Die Musen, die Tugenden, die vier Evangelisten und Christus selbst, geschnitzt, gemalt und kommentiert. Die Eckhäuser an den Einmündungen der schmalen Kopfsteinpflastergassen in die Fußgängerzone hielten sogar mit zwei reich geschmückten Giebelseiten Hof, wobei auf jeder Seite das jeweils höhere Stockwerk das darunterliegende um eine Handbreit überragte.

      Ein paar Backsteinhäuser im für die Gegend typischen Stil der Weserrenaissance durchbrachen das mittelalterliche Bild hie und da. Dort, wo Brände Lücken hinterlassen hatten, vermutete Bonnie und kniff die Augen gegen das gleißende Sonnenlicht zusammen. Pilaster und Säulen mit dorischen, korinthischen,