Название | Neues Leben für Stephanie |
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Автор произведения | Lisa Holtzheimer |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783847666820 |
Nach einem ausgiebigen Brunch lockte das strahlende Wetter die beiden nach draußen. Immer noch lag eine dichte Schneedecke nicht nur auf den Bergen, sondern auch im Ort. Jana war fasziniert, das musste sie zugeben. Bei Sonne und in dieser Umgebung wirkte der Schnee ganz anders als in Hamburg. Sie spazierten in den Ort und später fuhren sie an den Königssee, den Jana unbedingt gleich sehen wollte. Wie fast immer, trafen sie hier auf jede Menge Winterurlauber. „Komm, jetzt gehen wir in das Café, in dem ich letztens mit Britta war.“ Stephanie zog die Freundin vom See weg. „Der läuft dir nicht weg, hier können wir von mir aus jeden Tag her kommen.“ Jana grinste. Stephanie hatte sie durchschaut. Sie liebte das Wasser, das gab ihr etwas Vertrautes. Während sie bei Kaffee und Kuchen saßen, konnte Stephanie nicht anders, als Jana zu ärgern. „Und gleich steigen wir auf den Jenner.“ Sie erinnerte sich an ihr eigenes entsetztes Gesicht, als Britta ihr vor gar nicht langer Zeit genau denselben Vorschlag unterbreitet hatte. Jana guckte nicht weniger dumm. „Wie bitte? Ich bin doch nicht zum Kraxeln hergekommen.“ „Da gibt’s Wege, da musst du nicht klettern.“ Stephanie kostete ihre Überlegenheit noch ein bisschen aus und Jana schien schon zu resignieren. „Wenn’s unbedingt sein muss ...“ Dass sie bis zur Hüfte oder weiter im Schnee versinken würde, wenn sie das wirklich versuchten, darauf kam sie gar nicht. Stephanie musste aufpassen, dass sie den Kaffee nicht durch die Gegend prustete, und entschloss sich, die Freundin aufzuklären. „Zum Glück!“ war deren einziger Kommentar. Schwimmen, Segeln, Rad fahren, das war etwas für Jana. Laufen in jeder Form nicht. Und auch noch steil nach oben, das konnte sie sich überhaupt nicht vorstellen. Natürlich wusste Stephanie das.
Langsam wurde es dunkel, und sie entschlossen sich, zurück nach Hause zu fahren. Jana hatte einen ganzen Stapel Fotos mitgebracht, und Stephanie war sehr gespannt. Nicht alle hatte Jana selbst gemacht, mindestens fünf Dutzend hatte Stephanies Mutter ihr mitgegeben. „Damit sie uns das nächste Mal noch erkennt“, hatte sie zu Jana gesagt. Stephanie verdrehte die Augen, als diese ihre Mutter zitierte. Sie liebte ihre Familie, aber ihre Mutter konnte auch sehr klammern, und seitdem sie weit von Hamburg weg wohnte, genoss sie diesbezüglich eine ganz neue Freiheit. Ihre Mutter hatte Fotos vom Haus, von ihren Geschwistern, vom Garten und sogar von der Garage gemacht. „Du meine Güte“, stöhnte Stephanie, „glaubt sie, ich hab’ schon Alzheimer?“ Jana fiel fast vom Sofa. „Ich bin doch nicht aus der Welt, nicht mal aus Deutschland raus.“ Stephanie konnte es nicht fassen. „Und bevor ich’s vergesse, ich musste deiner Mom fest versprechen, dich in allen Lebenslagen und vor allem jede Ecke deiner Wohnung zu fotografieren.“ unterbrach Jana. „Untersteh’ dich! Sonst noch ‘was!?“ „Ja, ich soll dir sagen, dass sie im UKE eine OP–Schwester suchen.“ Eine Freundin von Stephanies Mutter arbeitete in der Verwaltung der Universitätsklinik in Hamburg-Eppendorf und wusste immer zuerst die neuesten Neuigkeiten von dort. „Oh nein, bitte nicht!“ Stephanie nahm sich vor, einmal ein ernstes Wort mit ihrer Mutter zu reden. Erst die verratenen Telefonnummern, und nun dies. So konnte das nicht weitergehen. Ihre Mutter musste lernen und akzeptieren, dass das Leben ihrer Tochter anders verlief, als sie es sich vorstellte. Ihr wurde immer klarer, dass es für sie keinen Weg zurück nach Hamburg geben würde.
10
Das Telefon im Schwesternzimmer klingelte. Es war 6 Uhr 13, die Nachtwache wollte mit der Übergabe beginnen, aber Britta war noch nicht da. Ungewöhnlich, denn eigentlich war sie sehr pünktlich und zuverlässig. Stephanie saß am nächsten am Apparat und nahm das Gespräch entgegen. „Station C 1, Schwester Stephanie, guten Morgen.“ Pause. „Au weia. Na dann, gute Besserung. Melde dich, sobald du mehr weißt.“ Die Kolleginnen sahen sie gespannt an. „Das war Britta. Sie hat Fieber und irgendeinen Ausschlag und geht später zum Arzt.“ „Dann müssen wir heute wohl mit einer Kraft weniger auskommen“, meinte eine Kollegin nur, „also lasst uns fertig werden mit der Übergabe, damit wir es schaffen.“ Stephanie hatte nach vier freien Tagen nicht so viel verpasst, so dass sie sich nicht groß neu einarbeiten musste. Zwei Patienten waren entlassen worden und es gab nur einen Neuzugang, eine ältere Frau, die einen kleineren Eingriff vor sich hatte.
Nach der Visite wurde ein weiterer Patient entlassen, und Stephanie übernahm die Aufgabe, sein Bett abzuziehen und das Bett und den Nachttisch zur Desinfektion zu bringen. Das war eine übliche Prozedur. Sie öffnete die Tür zu Zimmer 23, in dem jetzt nur noch der junge Mann mit dem schweren Skiunfall lag. Vor einigen Tagen war er zum zweiten Mal operiert worden, und wie Stephanie aus der Übergabe wusste, war die Prognose immer noch nicht gut und lief schon jetzt auf eine eventuelle dritte Operation hinaus. In ihrem Beruf hatte sie gelernt, sich von den persönlichen Schicksalen der Patienten abzugrenzen, aber Michael Aschmann tat ihr Leid. Sie mochte den jungen Mann, der trotz seiner Situation immer freundlich war und fast an allem noch etwas Positives fand. Er strahlte eine innere Ruhe aus, die sie bewunderte. „Guten Morgen“, grüßte sie fröhlich zum Bett am Fenster und war erstaunt, dass keine Antwort kam. Das war ungewöhnlich für den aufmerksamen jungen Mann. Michael lag auf dem Rücken und hatte den Kopf zum Fenster gedreht. Schlief er? Stephanie ging leise ein paar Schritte auf ihn zu, denn sie wollte ihn nicht wecken. Er hatte die Augen geschlossen. Leise wollte sie mit ihrer Arbeit beginnen, als sie ein unterdrücktes Geräusch hörte. Sie legte das Kopfkissen wieder auf das leerstehende Bett und trat an Michaels Bett. Unter seinen geschlossenen Augenlidern liefen Tränen hervor.
Jetzt war ihr die wartende Arbeit erst einmal zweitrangig. Spätestens an diesem Punkt war ihr das Abgrenzen schon immer schwer gefallen, und sie vertrat vehement die Ansicht, dass der Mensch immer wichtiger sei als Dinge, die zu erledigen waren. Nicht jede Stationsschwester sah das genauso, und Stephanie hatte schon die eine oder andere Auseinandersetzung diesbezüglich geführt. Von ihrer Überzeugung ließ sie sich jedoch nicht abbringen. So konnte sie auch jetzt nicht mehr einfach so tun, als gäbe es nichts Wichtigeres, als das leere Bett im Zimmer. Sie wusste, dass der Urlauber hier im Grunde keinen Menschen kannte. Seine Diagnose kannte sie auch, und so brauchte sie nicht viel Fantasie, um sich auszudenken, was ihn bedrückte. Leicht legte die Hand auf seinen Arm. „Schlechte Nachrichten?“ fragte sie vorsichtig. Michael nickte kaum merklich. Er konnte die Tränen nicht zurückhalten, was ihm sichtlich peinlich war. Allerdings vermittelte Schwester Stephanie ihm den ehrlichen Eindruck, dass auch Tränen mal sein dürfen und gar nicht peinlich sind. Er war sehr froh, dass er seit heute Morgen alleine im Zimmer war – seine Mitpatienten wären vermutlich weniger feinfühlig gewesen. Stephanie blieb einige Minuten wortlos an seinem Bett stehen – es gab nicht viel zu sagen, und sie konnte nicht viel tun, außer ihm ein Stück menschliche Nähe zu geben.
Schließlich kam sie doch in zeitliche Bedrängnis, da durch Brittas Ausfall mehr Arbeit für jeden anfiel. Sie stand langsam auf, wollte Michael aber noch einmal deutlich machen, dass sie ein offenes Ohr für ihn hatte. „Kann ich irgendetwas für Sie tun?“ fragte sie leise. Jetzt öffnete er die Augen und lächelte schon wieder ein wenig. „Schon passiert“, antwortete er, „danke.“ Stephanie lächelte ihn an und drückte seine Hand, bevor sie sich dem verlassenen Bett an der Tür zuwandte. Als sie mitsamt dem Bett das Zimmer verlassen wollte, drehte sie sich noch einmal um. „Wenn ich noch was anderes für Sie tun kann, lassen Sie es mich wissen.“ Michael nickte und fragte dann: „Haben Sie vielleicht ein Taschentuch?“ Nun mussten beide lachen und Stephanie zog ein Päckchen Papiertaschentücher aus der Kitteltasche.