Ich, Sergeant Pepper. Fred Reber

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Название Ich, Sergeant Pepper
Автор произведения Fred Reber
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742781635



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ich mir eine von dir besungene Kassette«, sagte Julia und grinste. Ich wurde rot. Natürlich hatte sie den Rekorder mit dem angeschlossenen Mikrofon auf meinem Schreibtisch längst bemerkt.

      Im Fenster tauchten Scheinwerfer auf. Ausgerechnet heute musste meine Mutter so früh nach Hause kommen. Als unten die Tür aufgesperrt wurde, ging ich hinaus zur Treppe und sah meiner Mutter dabei zu, wie sie erschöpft ihren Mantel abstreifte. Sie sah in dem Moment zu mir herauf, als Julia zu mir trat.

      »Na, wieder einmal zu Besuch bei deiner Großmutter?«, fragte meine Mutter.

      »Ich wollte auch Patrick sehen.« Julia hob das Kinn, dann fuhr sie sich mit gespreizten Fingern durch die Haare. »Ich muss jetzt los.« Sie holte ihren Mantel und sah mich an. »Bringst du mich zum Bus?«

      Ich ging mit ihr hinunter, nahm Jacke und Schal von der Garderobe und schlüpfte in meine grauen Moon Boots.

      »Schöne Weihnachten, Frau Neumann«, rief Julia in die Küche, wo ich meine Mutter hinter dem Sprossenfenster der Tür im Kühlschrank nach etwas Essbarem suchen sah. »Das wünsche ich dir auch«, kam es zurück.

      Unterwegs durch die Allee, sagte Julia: »Ich glaube, dass es meiner Mutter in Rom nicht gut geht. Sie passt da irgendwie nicht hin.«

      »Dann kommt ihr zurück?« Ich zeigte, dass ich mich drüber sehr freuen würde.

      »Das wird Papa nie zulassen. Eine Scheidung in Italien ist schier unmöglich.«

      »Hm«, machte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte.

      Wir erreichten die Haltestelle an der Landstraße, als der Bus auch schon kam. Julia stieg ein, dann drehte sie sich noch einmal um, beugte sich zu mir herunter und umarmte mich. Ihr Haar roch nach Apfel.

      Ich Blödmann! Wieso habe ich sie nicht nach einer Telefonnummer oder nach einer Adresse in Rom gefragt, durchfuhr es mich, während ich dem Bus hinterher sah. Wie ihre Großmutter mit Nachnamen hieß, wusste ich auch nicht. Mutter war meine letzte Rettung. Doch als ich ins Haus kam, sagte sie: »Der bist du nicht gewachsen.«

      Ein eigenartiges Kribbeln breitete sich in meinen Lenden aus. Unter der Bettdecke schob ich die Hand durch den Schlitz meiner Schlafanzughose und mit der anderen tastete ich irritiert nach der Leselampe, knipste sie an, dann warf ich die Bettdecke zurück. Ich streifte die Hose ein Stück hinunter und starrte auf meinen Penis. Er war ganz steif und glänzte. Ich nahm ihn in die Hand, im selben Augenblick schrumpfte er zwischen meinen kalten Fingern auf die Größe zusammen, die mir vertraut war. Nun war endlich bei mir das eingetreten, was meine Klassenkameraden hinter sich hatten. Zumindest behaupteten sie das. Genau wie ich. Ich wollte schließlich nicht als Schlappschwanz gelten.

      Es war nicht so, dass ich mir darüber große Sorgen machte, weil es mir bis jetzt nicht passiert war, schließlich las ich die Bravo, heimlich natürlich, denn das stand nur den Mädchen zu. Doch jetzt hätte ich schon liebend gern ganz genau gewusst, was da vor sich ging. Ich fasste ihn an, er reagierte nicht. Weil ich fror, zog ich die Hose wieder hoch und löschte das Licht.

      Donner riss mich aus dem Schlaf. Vor meinem Fenster zuckte ein Blitz. Dann wurde das Glas blind vom Schnee.

      Auf dem Wecker war es kurz nach halb neun am Morgen. Ich stand auf. Meine Schlafanzughose war klebrig. Entsetzt starrte ich auf das Bettlaken. Von Doktor Sommer, aus der Bravo, wusste ich, dass ich keineswegs ins Bett gemacht hatte. Dennoch wäre es mir peinlich, würde meine Mutter das sehen. Ich entfernte das Bettzeug und stopfte es unten in die Waschmaschine. Oft genug hatte ich Oa dabei zugesehen, um zu wissen, wie ich die Maschine zum Laufen bringen musste.

      Beim Duschen stellte ich mir vor, die warmen Wasserstrahlen seien Julias Haare. Ein wohliger Schauer erfasste mich und mein Penis richtete sich auf.

      Diesen einen Song

      Dezember 2005

      Ich steige aus der Dusche, kämme meine Haare zurück, und während ich mich anziehe, klingelt irgendwo mein Handy. Ich finde es auf meinem Schreibtisch. Tom will wissen, ob er heute mit mir rechnen kann. Ich verspreche es. Er schlägt vor, dass wir aus gegebenem Anlass ein paar Songs von John Lennon auffrischen und sie spielen sollten.

      »Das ist eine hervorragende Idee«, sage ich. »In zwei Stunden bin ich da.«

      Ich suche nach meiner Mappe mit den Texten der Songs, die Tom und ich irgendwann einmal in unser Repertoire aufgenommen hatten und im Woodstock spielten. Ich vergesse zwar selten einen Text, nehme sie vorsichtshalber trotzdem mit.

      Obwohl ich zehn Stunden geschlafen habe, fühle ich mich zerschlagen. Während ich mir einen Tee aufbrühe, esse ich eine Banane. Danach raffe ich mich auf, den Kamin im Wohnzimmer sauber zu machen und trage die Asche zur Mühltonne hinter das Haus.

      In der Nacht hat es wieder geschneit und der eisige Wind hat sich gelegt. Ich fühle mich wie in einer Schneekugel, atme tief durch und schließe die Augen, bis ein hupendes Auto vorne an der Landstraße mich aufschreckt. Die klare Luft tut mir gut. Ich beschließe zu Fuß hinüber zum Woodstock zu gehen. Das mache ich manchmal. Tom nimmt mich nachts nach unserem Auftritt in seinem Wagen mit.

      Der Weg der Allee ist hart gefroren, und ich komme nur schwer voran.

      Ich muss an jene Silvesternacht denken, in der Julia dreizehn geworden war. Damals hätte ich meine neue Gitarre am liebsten gegen ein Paar Skier eingetauscht und wäre zu Julia in die Berge gefahren. Bei jedem Feuerwerkskörper, der über dem Horizont aus der Siedlung aufstieg und am Nachthimmel zu einem bunten Strauß Chrysanthemen erblühte, hatte ich mir gewünscht, es möge in dem Hotel, wo Julia ihren Skiurlaub verbrachte, bloß keinen anderen Jungen geben, der auch für die Beatles schwärmte, oder noch schlimmer, der wie Julia, Paul McCartney für das Nonplusultra hielt.

      Ich stelle den Kragen meiner wattierten Jacke auf und ärgere mich, dass ich gestern auf dem Friedhof nicht zu Julia hingegangen bin und sie angesprochen habe. Die Situation wäre günstig gewesen, um das Eis zu brechen. Wir haben uns viele Jahre nicht gesehen, in der Zeit nur wenige Male telefoniert, und das erst, nach dem Tod ihres Mannes.

      Wird sie mich besuchen kommen, wenn ich sie anrufe und darum bitte?

      Als ich die Landstraße erreiche, beschließe ich, auf den Bus zu warten. Weil es mich jedoch nach wenigen Augenblicken in den Zehen zu frieren beginnt, laufe ich weiter und folge nach der Brücke dem schmalen Weg hinauf in den Wald. Ewigkeiten bin ich den alten Schulweg nicht mehr gegangen. Der Schnee ist von den Kindern aus der Siedlung, die hier immer noch langgehen, festgetreten.

      Schon von weitem sehe ich den schmalen Holzsteg. Auf ihm bleibe ich stehen und starre hinunter auf den mit Graupel überfrorenen Teich. Ich entdecke die freie Stelle, an der das Quellwasser zwischen den Felsen glucksend hervordrängt. Es hört sich an, als lache es über mich. Auf der anderen Seite des Stegs, wo der Waldboden unter den Wurzeln der Buchen abfällt, hat sich das Wasser zu dicken Eisplatten geschichtet. Darunter stürzt es viel zurückhaltender als im Sommer in den Fluss.

      Ich gehe weiter, trete nach wenigen Metern aus dem Wald hinaus und umrunde das riesige Schulgelände. Mir fällt die Lärche mit der Bank im u-förmigen Innenhof ein. Für einen Moment befürchte ich, dass sie gefällt worden sein könnte und bin richtig erleichtert, als ich vor ihrer nackten Silhouette stehe, durch die der Wind streicht und den Schnee wie feines Pulver von den Ästen auf die Bank rieseln lässt.

      Auf dieser Bank hat Julia mit der Bravo gesessen. In jenem Frühjahr empfingen wir die Erstkommunion.

      Die schlagende Turmuhr über dem Haupttrakt des Gebäudes erinnert mich daran, dass keine Zeit für Sentimentalitäten bleibt und ich im Woodstock erwartet werde.

      Während ich den Schulberg hinuntereile und auf die Stadt blicke, wird mir bewusst, wie enorm gewachsen sie in den letzten Jahren ist. Sie reicht bis an das Industriegebiet heran, das auf dem ehemaligen Luftwaffenstützpunkt entstand. An der Kreuzung, gegenüber dem Friedhof, erwische ich den Bus und fahre mit ihm weiter. Früher wohnten hier am Fluss die Amerikaner mit ihren Familien. Um die Häuser vor ihrem endgültigen Verfall