Ich, Sergeant Pepper. Fred Reber

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Название Ich, Sergeant Pepper
Автор произведения Fred Reber
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742781635



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in den Jeep. Ich hörte den Motor bis zu mir herauf, als er beschleunigte, und der Jeep die Straße zur amerikanischen Siedlung entlang raste. Unter den lichter gewordenen Laubbäumen entdeckte ich eine belebte Geschäftsstraße.

      Ich dachte an die gute Stimmung während des deutsch-amerikanischen Volksfests.

      Wie machten die das? Wie konnten die alle zusammen so tun, als sei nie etwas anderes gewesen? Wenn die Amis wirklich so nett waren, wie der Lehrer sagte, wieso warfen sie dann in Vietnam Bomben?

      Ich ertrug es nicht, mein Geschichtsbuch mit diesen deprimierenden Bildern in der Schulmappe mit mir herumzuschleppen, also schob ich es in Oas Kammer unter das Laken, das sich über den Lattenrost von ihrem Bett spannte. Im Unterricht ließ Willi mich in sein Buch schauen. Bis der Lehrer Hofer mir nicht mehr glaubte, dass ich meines immer vergessen würde. Er bezichtigte mich, es verloren zu haben, ich solle es endlich zugeben. Und er könne nicht fassen, wie ich mit fremdem Eigentum umginge. Als er mir mit einem blauen Brief drohte, blieb mir nichts anderes übrig, als das Buch unter dem Laken hervorzuholen, um es dem Lehrer am nächsten Tag zu präsentieren. Vorher trennte ich die Seiten mit den entsetzlichen Bildern heraus, die ich zurück in das Versteck schob, mit der Absicht, sie am Schuljahresende mit Tesa wieder einzukleben.

      Meine Mutter überredete mich, sie zu Oas Grab zu begleiten. Bisher hatte sie nie darauf bestanden und freiwillig bin ich nicht hingegangen.

      »Wenigstens heute«, sagte sie. »Wo alle der Toten gedenken.«

      »Ich denke jeden Tag an Oa«, sagte ich patzig und stieg widerwillig in den Wagen.

      Seitdem Oa nicht mehr bei uns war, war ich nicht mehr am Grab meines Vaters gewesen. Meine Mutter ging nicht in die Kirche, also blieb auch ich dem Gottesdienst fern.

      Anna Winter. Was blieb mir anderes übrig, als immerzu Oas Namen auf dem Grabstein anzustarren. Es war nasskalt, und ich fror entsetzlich. Wie in Trance nahm ich wahr, dass Oma und Opa Neumann ans Grab gekommen waren. Ich wischte mir verstohlen über die Wangen und drehte ihnen dabei den Rücken zu. Ich spürte den festen Händedruck auf meiner Schulter, dann sagte Opa Neumann leise an meinem Ohr: »Versuch ein paar Mal hintereinander zu schlucken, das hilft.«

      Ich probierte es und es funktionierte tatsächlich. Ich war froh, dass meine Mutter Opa Neumanns Einladung zu Kaffee und Kuchen annahm.

      »Mozart«, sagte Opa, als wir bei ihnen im Wohnzimmer saßen, und er eine Platte auflegte.

      Die Klaviermusik passte zu meinen Gefühlen. Warum spielten sie uns im Unterricht diese Musik nicht vor, anstatt immer darüber zu labern?

      Meine Mutter brach das Schweigen, als sie sagte: »Ich werde den Namen meines vermissten Vaters auf dem Grabstein anbringen lassen.«

      Oma nahm ihre Hand und Opa nickte.

      Zuhause wollte ich gleich nach oben in mein Zimmer, doch meine Mutter hielt mich zurück. Ob Oa mir schon einmal unser Fotoalbum gezeigt habe? Nein. Ich setzte mich zu ihr. Da waren Aufnahmen von Verwandten, die längst verstorben waren, das Hochzeitsfoto ihrer Eltern, Oa und ihr Mann. Und alle hatten diesen rötlichen Schimmer. Auch meine Mutter als fünfjähriges Mädchen auf dem Schoß ihres Vaters. Es war das einzige Foto von ihr mit ihm.

      »Wieso ist er vermisst«, fragte ich.

      »Sie haben ihn nach Osten geschickt und als der Krieg aus war, kam er nicht zurück. Oa hat alles Mögliche unternommen, um in Erfahrung zu bringen, wo er sein könnte, was aus ihm geworden war. Leider ohne Erfolg.« Meine Mutter zündete sich eine Zigarette an, inhalierte tief und schien dann mit ihren Gedanken sehr weit weg zu sein.

      Die Lager in meinem Schulbuch, waren die nicht auch im Osten? In meinem Kopf ging es drunter und drüber.

      Ich starrte das Foto von Oa an, das meine Mutter einmal draußen im Garten geknipst hatte. »Kann ich das haben?«

      Am nächsten Tag brachte meine Mutter mir aus der Stadt einen silbernen Rahmen mit.

      Von da an stand Oa auf meinem Schreibtisch und ich stellte mir vor, sie höre mit mir die Beatles. Es gab etwas Neues. Come together war der absolute Wahnsinn. Das Beste, was ich bisher von ihnen gehört hatte. Auch die Rückseite der Single war ein totaler Knaller. Something.

      Wenn ich nur wüsste, ob Julia ebenso empfand?

      Mit diesen Songs gelang es mir, mich allmählich wieder von der Wirklichkeit abzulenken, die mich umso heftiger in den Schlaf verfolgte und morgens lange vor dem Klingeln des Weckers völlig verstört aufwachen ließ. Irgendwie funktionierte ich, auch wenn mir alles nur als Fassade erschien, hinter der jederzeit wieder dieses undefinierbare Grauen hervorbrechen konnte.

      Der bist du nicht gewachsen

      Weihnachten 1969

      In der Bravo las ich, dass für eine neue Fernsehsendung junge Gesangstalente gesucht wurden. Dass ich talentiert war, wollte ich mit Songs der Beatles auf einer Demokassette beweisen. Immer wieder ließ ich Something laufen und übte wie besessen. You’re asking me will my love grow, I don’t know, I don’t know. Super wäre es natürlich gewesen, wenn ich mich auf der Gitarre hätte begleiten können. Die würde ich erst zu Weihnachten bekommen, hoffte ich jedenfalls. Mehr hatte ich nicht auf meinen Wunschzettel geschrieben.

      War da jemand an der Haustür?

      Es klopfte unten tatsächlich, und ich nahm die Nadel von der Platte. Verwundert stellte ich fest, wie dunkel es mittlerweile geworden war.

      »Patrick?« Es war eine helle Stimme. »Ich kann dich hören.«

      Julia? O Gott, ausgerechnet jetzt.

      Ich schob mir die verschwitzten Haare aus der Stirn, nahm mein Drahtgestell ab, zog hastig die Pepperjacke aus und schlüpfte im Hinuntergehen in einen Pullover. Der Schnauzer! Ich riss ihn von der Oberlippe, ließ ihn in meiner Hosentasche verschwinden und öffnete.

      »Da staunst du, was?«, fragte Julia und kam herein. »Mach mal Licht.«

      Ich fand den Kippschalter nicht sofort. Meine Stimme versagte. Ich kam mir idiotisch vor.

      Grinsend warf Julia ihre langen, zerfransten Haare nach hinten. Sie reichten ihr fast bis zum Po. »Ich wusste gar nicht, dass du singst?«

      »War `ne Platte«, krächzte ich und räusperte mich. Ich war noch nicht gut genug, wollte mich nicht blamieren.

      »Schade.« Julia stand am Treppenabsatz und hypnotisierte mich mit ihren graublauen Augen. Ich war kurz davor, nachzugeben, als sie fragte: »Hast du Blackbird

      Ich jagte die Treppe hinauf und Julia folgte mir. Sie zog ihren Mantel aus und warf ihn in meinem Zimmer über den Stuhl. Sie trug eine enge schwarze Hose, die in fellbesetzten Stiefeln steckte. Sie bückte sich nach der Pepperjacke, die auf dem Boden lag und breitete sie auf meinem Bett aus. »Madonna! Wo hast du die denn gekauft?«

      »Hat Oa mir genäht.«

      Ich erschrak. Nie zuvor hatte ich einem Fremden gegenüber meine Großmutter so genannt.

      »Vermisst du sie sehr?«

      Ich antwortete nicht, zog das Weiße Album aus dem Regal unter der Dachschräge und legte die Platte auf.

      Blackbird singing in the dead of night.

      Dieser Song musste unbedingt mit auf die Demokassette.

      »Am zweiten Weihnachtsfeiertag fahre ich mit Verwandten in die Berge«, sagte Julia nach einer Weile. »Mein Cousin Charlie wird mir das Skilaufen beibringen. Die Silvesterparty im Hotel wird bestimmt ganz toll. Um Mitternacht habe ich Geburtstag. Wann wirst du dreizehn?«

      Dreizehn? Das hörte sich an, als sei sie erwachsen und ich noch ein Kind.

      »Erst nächsten Oktober, am neunten«, sagte ich leise, nahm den Tonarm von der abgelaufenen Platte und legte ihn in die Halterung zurück. Dabei fiel mir die Kassette ein, die ich im Sommer für sie aufgenommen hatte. Ich