Ich, Sergeant Pepper. Fred Reber

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Название Ich, Sergeant Pepper
Автор произведения Fred Reber
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742781635



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Gewitter niedergingen, dann nachts, und sie tobten um einiges heftiger. Ich vermisste Oa mit jedem Tag mehr. Und ich fragte mich, was nun werden sollte. Die Angst stieg in mir hoch. Um sie in Schach zu halten, schlüpfte ich in die Pepperjacke und flüchtete zum Hügel am Waldrand. Im Schatten der Kiefer saß ich an deren Stamm gelehnt und betäubte meine Niedergeschlagenheit mit Beatlesliedern.

      Ich spielte die Melodien in meinem Kopf ab, wusste genau, an welcher Stelle das Schlagzeug einsetzte, wo der Bass, dann begann ich zu singen. Die Texte konnte ich längst auswendig, auch wenn ich noch nicht verstand, was ich da sang. Meinen Hunger stillte ich mit wilden Erdbeeren und Brombeeren.

      Ich könnte jemanden aus meiner Klasse anrufen, fragen, ob sie Lust hätten mit mir zum deutsch-amerikanischen Volksfest zu gehen. Doch auch das Geld, das meine Mutter mir dafür gab, sparte ich für eine neue Single der Beatles.

      Ich holte mein Fahrrad aus dem Schuppen und schlug vorne an der Landstraße den Waldweg hinauf zur Schule ein. Es machte mir nichts aus, dass ich wegen der vielen Wurzeln, die den Weg durchfurchten, schieben musste. Ich begegnete keinem Menschen, was mir nur recht war. Ich überquerte den schmalen Holzsteg, unter dem sich Quellwasser zu einem Teich sammelte, bevor es über eine glitschige Felsplatte lief und unter Wurzeln und Geröll wie heftiger Regen in den Fluss hinabfiel.

      Wieder im Sattel, kam ich auf der rückwärtigen Seite des Schulgeländes aus dem Wald. Ich fuhr nicht geradeaus, wie an Schultagen, sondern bog nach links ab. Nach wenigen Metern erreichte ich mein Ziel, die Kapelle, die ich von meinem Platz im Klassenzimmer sehen konnte, und die wir im Religionsunterricht häufiger aufsuchten. Ich lehnte mein Fahrrad an den Kastanienbaum neben einer Bank und trat nach vorne.

      Steil und schroff ging es hinunter, wo die Straße zu den Amerikanern verlief und sich unter Laubbäumen verlor. Ein weißgetünchter Kirchturm lugte hervor. Ich erkannte einen Strommast, dessen Drähte gegenüber dem Turm zwischen Fichten zu einem Schindeldach mit Kamin führten. Mehr war von der amerikanischen Siedlung nicht zu sehen. Zum Schutz vor der Sonne hielt ich die Hand über die Augen und entdeckte einen Stacheldrahtzaun, der die Fichten ausgrenzte, die sich entlang mehrerer zweistöckiger, schmutzig grüner Gebäude mit zum Teil vergitterten Fenstern drängten. Unweit davon befand sich das Kasernentor, die beiden Wachen, die über ihren Schultern Gewehre mit der Mündung nach unten trugen.

      Ein Helikopter flog in Richtung Kaserne tief über mich hinweg. Es kam mir vor, als streife er gleich die Baumwipfel und schraube sich in das Fichtenwäldchen.

      Der Wind trug Musikfetzen vom Volksfest zu mir herauf. Irgendwo dort unten, unweit des Kasernengeländes, auf einem freien Platz, den ich wegen der Bäume nicht einsehen konnte, feierten die Menschen. Ich lauschte dem turbulenten Treiben, dem Lachen sowie den Geräuschen der Fahrgeschäfte. Es ärgerte mich, dass All you need is love von Blasmusik aus dem Bierzelt übertönt wurde.

      Als sei nie etwas anderes gewesen

      Herbst 1969

      Als die Ferien zu Ende gingen, fiel mir ein, dass meine Mutter mit meinem Zeugnis zufrieden gewesen sein musste, denn sie hatte meine Noten mit keinem Wort erwähnt.

      Am ersten Schultag wartete ich mit dem Rad, wie immer vorne an der Allee, auf Willi. Endlich tauchte er oben am Hügel auf und kam wie ein Pfeil angeschossen. Wir fuhren die Landstraße entlang, zwischen dem Hügel mit dem Maisfeld und dem bewaldeten Schulberg. Uns beiden schmeckte gar nicht, dass der Hofer von nun an unser Klassenleiter war. Dass er Julia und mir aufgelauert und unsere Bravo mit dem Lennon-Poster zerfetzt hatte, wollte ich ihm nicht verzeihen. Auf dem Pausenhof hatte ich schon des Öfteren gehört, dass er sich sehr für Geschichte interessierte. Die deutsche Geschichte der jüngeren Vergangenheit. Offenbar beschäftigte er sich auch in seiner Freizeit damit.

      Mir war schon das endlose Gelaber der Politiker im Fernsehen ein Graus, und ich war immer froh, wenn ich zu einer Show umschalten durfte.

      Zweimal die Woche stand Geschichte auf dem Stundenplan. Gleich in der ersten Stunde sprach der Hofer davon, dass wir eine Klassenfahrt machen würden. Wohin genau, entging mir. Ich war mit meinen Gedanken bei Julia. Wie es ihr wohl in Rom erging, in der Stadt, von der ich nichts wusste?

      »Patrick Neumann, würdest du uns verraten, wovon du gerade träumst?« Mit durchdringenden Blicken entriss mich der Hofer meiner Freudlosigkeit.

      »Von Rom«, antwortete ich ehrlich.

      Die meisten in der Klasse lachten. Auch Willi. »Sie kommt bestimmt in den Ferien ihre Großmutter besuchen«, raunte er mir zu.

      Ich wunderte mich, wie gut er mich zu kennen schien und hoffte, er würde Recht behalten.

      Mit hochrotem Kopf schlug auch ich das Geschichtsbuch mit der Seite auf, die Hofer nannte. Unentwegt starrte ich die Schwarzweißfotografien mit den in Eisenbahnwaggons zusammengepferchten Frauen und Kinder an, die bleichen Gesichter und kahlgeschorenen Köpfe hinter den Zäunen, die Klappen der Öfen.

      Wie Schläge trafen mich die Worte des Lehrers.

      Ich schob die Hände unter meine Oberschenkel, klemmte sie auf der Stuhlfläche ein, und versuchte krampfhaft mir irgendwelche Melodien ins Gedächtnis zu rufen, die die schonungslosen Worte übertönen sollten, doch ich konnte mich an keinen Rhythmus erinnern, an nicht einen von den Beatles.

      Wie auf Watte lief ich mit den anderen am Ende der Stunde zu den beiden Bussen. Erst beim Einsteigen kapierte ich, dass die Parallelklasse mit den Mädchen dasselbe Ziel hatte.

      Ich war froh, dass Julia das erspart blieb. Ich saß in einem der hinteren Sitze am Fenster und starrte hinaus in den diesigen Vormittag, auf die abgeernteten, vom Regen lehmig gewordenen Felder. Mein Kopf war leer, ich ahnte das Schlimmste. Ich hätte Willi gerne etwas gefragt, doch der erzählte in der Reihe vor mir einem Jungen etwas von einer Sturmflut auf Sylt. Ich ärgerte mich über das ungerührte Lachen, das von irgendwo kam. Nervös rutschte ich auf meinem Sitz herum, als das Ortsschild von Dachau vorbeizog. Der Bus hielt, ich stieg als letzter aus und trottete hinter den anderen her. Niemand sagte jetzt etwas. Nur unsere Schritte auf dem Schotter waren zu hören. Mein Magen rumorte, je näher das Eingangstor zum Lager kam. Die grauen Baracken. Die Kaminschlote dahinter.

      Ich erinnerte mich an jedes Wort, das der Hofer sagte, und ich konnte das Rascheln von Kleidern hören, das Klappern der Scheren. Und ich glaubte, die bis aufs Skelett abgemagerten Männer in den gestreiften Anzügen am Eingang des Gebäudes stehen zu sehen.

      Ich bekam keine Luft mehr und fing an zu schwitzen. Unmöglich. Ich konnte da nicht hineingehen.

      Willi sah mich an. Hatte er etwas gesagt? Ich musste mich übergeben. Dann hörte ich den Hofer: »Kannst du ihn zum Bus zurückbringen?« Ich wischte mir über den Mund und sagte: »Ich schaffe das schon.«

      Der Fahrer blickte kurz von seiner Zeitung auf, als ich einstieg und zu meinem Sitz ging. Ich wusste nicht wie lange ich dagesessen und vor mich hingestarrt hatte, als der Kassenlehrer vor mir stand. »Geht’s wieder?«

      Ich nickte. Und am liebsten hätte ich ihm entgegen geschleudert, dass er schuld war, ihn gefragt, wie er uns so etwas antun könne.

      Ich hielt Ausschau nach Willi und entdeckte ihn unter denen, die den Hofer während der Rückfahrt mit Fragen bedrängten. Warum sich niemand gewehrt habe? Gelang jemandem die Flucht? Kamen alle in dem Lager um? Und der Lehrer sagte: »Einige Hundert wurden von den Amerikanern befreit.«

      Als wir an der Schule ausstiegen, nieselte es.

      »Dort ist meine Mutter«, sagte Willi und lief zu ihrem Wagen. Ich sah ihnen zu, wie sie das Fahrrad im Kofferraum verstauten, einstiegen und wegfuhren. Regnete es, wurde Willi immer von seiner Mutter abgeholt.

      Dann stand ich alleine vor dem Schulgebäude. Ich zog die Kapuze meines Anoraks tief in die Stirn und ging zum Fahrradständer.

      Trotz des Regens fuhr ich den holprigen Weg entlang zur Kapelle und blieb stehen. Ich sah zur Kaserne am Horizont hinüber. Ein Jeep passierte die Wache, bremste ab, und der Beifahrer stieg aus. Es war ein Schwarzer. Soviel konnte ich von hier