Название | Till Türmer und die Angst vor dem Tod |
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Автор произведения | Andreas Klaene |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738062090 |
»Na ja, einfach ist es für kaum jemanden, wenn er mich zum ersten Mal anruft«, sagte Till. »Höre ich da etwa heraus, dass Sie aus Österreich anrufen?«
»Ja«, sagte die Frau mit einem traurigen Lächeln in der Stimme, »das lässt sich wohl nicht verheimlichen.«
»Ist doch gut so, das klingt hier oben im Norden wie Urlaub. Wenn sie mögen, erzählen Sie mir, worum es geht. Sie brauchen mir vorerst auch keinerlei Namen zu nennen.«
Mit dieser kurzen Erklärung schien sich ein Riegel vor der Frau zu öffnen. Ihre Sätze stolperten zu Till herein.
»Es geht um meine Ehe. Vielleicht sind Sie meine letzte Rettung. Mein Mann hat einfach alles hinter sich gelassen, unseren ganzen Betrieb, ja, und auch mich.«
»Den Betrieb und Sie?! Das klingt nach zwei Katastrophen. Welche setzt Ihnen im Moment am meisten zu?«
So, als hätte er mit dieser Frage einem Schlitten auf verschneitem Gipfel einen Tritt verpasst, geriet die Frau sofort in Erzählfahrt. Innerhalb von ein paar Minuten drang der Stoff für eine ganze Familiensaga an sein Ohr. Da gab es für ihn kaum ein Durchsteigen, und statt sorgfältig mitzuschreiben, kritzelte er nur noch einzelne Wörter in sein Notizheft. Die Reihen füllten sich mit Begriffen wie Hotelerbin, Pflicht, Geliebte, Dreiecksbeziehung.
Ihm war klar, dass sein Gespräch so nicht weitergehen konnte. Er musste die Frau unterbrechen, ihr seine Fragen stellen, doch dazu war es noch zu früh. Er ließ sie erzählen, war in diesem Moment nicht auf sachliche Informationen aus. Till lauschte der Frau wie er auch italienischen Opern lauschte, deren Text er nicht verstand. Er brauchte nicht den Blick auf die Bühne, konnte mit geschlossenen Augen zuhören, einfach den Klang zu sich kommen lassen. Stimmen und Melodien verrieten ihm auf ihre Weise ihre Charaktere.
Plötzlich merkte die Frau, dass sie ihrem Zuhörer einen Haufen Puzzleteile auf den Tisch geworfen hatte, statt ihm ein Bild zu malen. Während sie sich dafür entschuldigte, als hätte sie sich selbst bei einer peinlichen Dummheit erwischt, musste er schmunzeln. Er dachte daran, was Österreicher auf quasi jede Entschuldigung sagten, egal ob sie ihnen schmeckte oder nicht. Genau das sagte er hörbar amüsiert auch: »Passt schon!«
Anschließend fiel es ihm leicht, herauszubekommen, was er wissen wollte. Sie konzentrierte sich auf seine Fragen und präsentierte ihm ihren Film aus über fünfzehn Ehejahren. Till schrieb mit, blickte auf seine Notizen und sah eine Frau, die einst mit vierundzwanzig ihre erste Liebe geheiratet hatte. In seinem Heft stand knapp formuliert, dass sie Erbin eines angesehenen Hotels am Attersee war. Ihr Mann war Meisterkoch, der auch das Hotelmanagement gelernt hat und mit seiner Frau zusammen das große Familienunternehmen führte. Das Paar hatte zwei Töchter, die Ehe verlief angeblich jahrelang gut, bis ihr Mann sich in eine andere Frau verliebte. Die Anruferin konnte nicht verstehen, warum er keinerlei Versuche startete, die Ehe zu retten. Sie hielt die Dreiecksbeziehung nicht mehr aus, er zog zu seiner Geliebten. Weil ihr Mann jedem persönlichen Gespräch aus dem Weg ging, hatte sie ihm einen langen Brief geschickt, auf den er allerdings nicht einging.
Till glaubte, dass die mitgeschriebenen Lebensfragmente durchaus die Wahrheit skizzierten, jedoch nicht die wesentliche. Er versuchte, Licht auf die Zeit zu richten, als es noch keine Geliebte gab. Er wollte wissen, ob das Leben der Anruferin damals in etwa das war, was sie sich zu Beginn ihrer Ehe erträumt hatte. Er fragte auch nach den Zielen, die ihr Mann sich vor langer Zeit gesetzt hatte, nach erfüllten Träumen und nach dem Scheitern.
Dabei trat Schritt für Schritt, geradezu schleichend, eine weitere Figur auf diese Ehebühne. Erst als sie nicht mehr zu übersehen war, stellte die Frau sie vor. Sie sprach von ihrem Vater und nannte ihn »den alten Mooshammer.« Aus ihrem Mund klang das, als würde sie einen Titel nennen, den jeder im Dorf mit Achtung über die Lippen brachte.
»Mein Vater, das muss man ihm einfach lassen, hat das Hotel als junger Mann ganz langsam aus dem Nichts heraus aufgebaut. Angefangen hat das alles mit einem Kiosk bei uns unten am See. Mein Vater sprühte ja immer schon vor Unternehmergeist. Er hat halt in finanziellen Angelegenheiten das richtige Fingerspitzengefühl. Und als Wirt, im Kontakt mit Gästen, da ist er eh unschlagbar.«
»Gut, das war früher, aber mittlerweile leiten Sie und Ihr Mann doch das Haus.«
»Ja und nein. – Eigentlich ist er ja schon längst Pensionist, aber er ist halt einer, der auch mit achtzig noch täglich Vollgas gibt.«
»Was heißt das?«
»Sie können sich so einen Mann gar nicht vorstellen! Wenn der bei uns die Stiegen hinaufgeht, nimmt er grundsätzlich zwei Stufen auf einmal. Der ist körperlich total fit. Und im Kopf sowieso.«
»Wie ist es denn für Sie, täglich einen so erfolgreichen und immer noch so agilen Vater an der Seite zu haben?«
»Eigentlich muss man ja froh sein. Was er tut, macht er gut. Jedenfalls so gut wie immer.«
»Eigentlich?«
»Ja, man würde halt schon manches gern anders machen, aber das ist ungeheuer schwer. Mein Vater ist halt der Mooshammer«, sagte sie traurig. »Und Sie müssen wissen, dieser Name ist in unserer Gegend wirklich etwas wert.«
»Und wie ist es mit Ihrem Namen beziehungsweise mit dem Ihres Mannes?«
Als wäre es die Selbstverständlichkeit schlechthin, sagte sie: »Ich bin ja auch eine Mooshammer. Und mein Mann ist auch einer – geworden. Ich meine, er hat unseren Namen angenommen. Ist halt besser für so ein Traditionsunternehmen.«
»Sie sagten, Sie würden gerne manches anders machen. Wer, Sie oder Ihr Mann?«
»Mein Mann. – Herrschaftszeiten, eigentlich wir beide – aber darüber mag ich gar nicht mehr sprechen.«
»Weil Sie das beide schon zu oft mit Ihrem Vater versucht haben und gescheitert sind?«
»Ja«, sagte sie mit gesenkter Stimme, als müsste sie sich unterm Tisch verkriechen, damit niemand sehen konnte, wie eine Mooshammer sich mit so einer Aussage erniedrigte.
»Frau Mooshammer, ich will jetzt keine Details, aber mögen Sie mir kurz beschreiben, wie Sie das Unternehmen führen würden, wenn Sie könnten wie Sie wollen?«
»Bei meinem Vater hat die Betreuung der Gäste absolute Priorität. Das ist ja auch ganz wichtig. Aber mein Mann ist eben anders.«
»Pardon, ich möchte wissen, was Sie anders machen würden, wenn Sie könnten!«
Während Till fragte, klingelte sein Handy. Es lag direkt vor ihm auf dem Schreibtisch. Als er den Namen Enno Casjens im Display las, wusste er sofort, dass dieser Anruf nichts Gutes zu bedeuten hatte. Enno war kein Telefonierer, es sei denn der Deich oder irgendein Genick war gebrochen. Eine Ahnung sagte Till, dass mit dem alten Jupp etwas passiert sein musste. Er stellte das Handy stumm und schob es von sich, bis an den Rand der Glasplatte. Für ein paar Augenblicke war er kaum bei der Sache, als die Frau vom Attersee ihm erklärte, worin ihr Mann und ihr Vater sich so sehr unterschieden.
»Mein Mann kann auch gut auf Leute zugehen und sich hinter der Theke auf alle Themen einlassen, aber es fällt ihm schwerer als meinem Vater. Mein Mann hat seine Stärken in der Küche und im Management. Darum sollte die Gästebetreuung vor allem meine Sache sein. Ich kann das und ich mag das auch.«
»Wo ist das Problem?«
»Das Problem ist, mein Vater erwartet von meinem Mann, dass er alles so macht wie er. Da er das so nicht kann und auch nicht will, ist er in seinen Augen ein Versager.«
Weil Till sich noch Notizen machte, gab es eine Stille, die die Frau bald mit trauriger Stimme brach: »Was meinen Sie denn, was ich machen sollte? Ich wünsche mir so sehr, dass alles wieder wird wie es mal war. Aber wie soll das gehen, wenn keiner redet!?«
Till sagte nichts, er brauchte noch ein paar Sekunden, um festzuhalten,