Till Türmer und die Angst vor dem Tod. Andreas Klaene

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Название Till Türmer und die Angst vor dem Tod
Автор произведения Andreas Klaene
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738062090



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      Nun blickte Sarah ihm so offen und freundlich ins Gesicht, als wäre selbstverständlich er gemeint. »Was könnten Sie wissen?«

      »Wo Sie finden, was Sie suchen.«

      »Aha, das ist ja nett«, sagte er, und seinen Augen war anzusehen, dass er ihr Angebot noch viel netter als nett fand. »Aber Sie scheinen ja selbst auch noch nicht fündig geworden zu sein.«

      »Ich weiß aber, dass es hier direkt vor mir steht. Stehen muss! Ich meine, in diesem Regal.«

      »Ach so, Sie stecken also auch in dem Wald, den man vor lauter Bäumen nicht sieht?!«

      »Manchmal guckt man halt mit dem falschen Auge.«

      Als er nicht sogleich reagierte, sondern lediglich in ihre Augen blickte und sich versucht sah, zumindest ganz kurz einmal mit sämtlichen Sinnen in dieses Blau zu tauchen, hakte sie nach. »Also, wollen Sie jetzt davon profitieren, dass ich mich hier auskenne?«

      Till hatte das Gefühl, schon längst profitiert zu haben. Er sah ins Regal, griff sich dann etwas linkisch an den Kopf und meinte: »Was für die Haare suche ich.«

      »Sehen Sie, ist doch gut, dass Sie mich gefragt haben. Sie sind näm­lich gerade daran vorbeigelaufen.«

      Und schon ging sie zwei, drei Schritte in die entsprechende Richtung. Till folgte ihr. Nun war er sich so gut wie sicher, dass diese Frau Sarah war. Jedenfalls klang sie wie die, die er hinterm Fenster im Lamberti-Palais belauscht hatte. Obwohl, das sanft Eindringliche, das ihn beim ersten Mal so elektrisiert hatte, konnte er jetzt nicht heraushören. Doch das irritierte ihn kaum, schließlich musste sie ihm ja nicht eindringlich klarmachen, dass es höchste Zeit für sie war, aufzubrechen und sich um jemanden zu kümmern, der irgendwo allein herumlag.

      Als er nach dem Shampoo griff, hörte er hinter sich eine andere Stimme.

      »Hey Sarah, schön, dass ich dich sehe! Hab ich da richtig gelesen, dass du am Samstag auch dabei bist?«

      Die beiden Frauen umarmten sich flüchtig und Sarah fragte: »Du meinst in der Kulturremise?«

      »Ja klar. Also, wenn du da bist, komme ich auf jeden Fall nach Aurich.«

      »Das finde ich ganz toll, wenn du auch dabei bist, Biggi.«

      »Klar, sowas darf ich mir doch nicht entgehen lassen. Was wird’s denn diesmal von dir geben?«

      Doch auf diese Frage rückte sie keine Antwort heraus. Mit einem charmanten Lächeln und einer verneinenden Handbewegung sagte sie: »Wird nicht verraten.«

      Till hatte sich während des Gesprächs bemüht, so auszusehen, als gäbe es auf seiner Einkaufsliste im Kopf noch ein paar Dinge abzuhaken. Für einen Augenblick dachte er, die beiden Frauen würden sich im nächsten Moment voneinander verabschieden, aber es kam anders: Sie schoben nun gemeinsam durch den Laden und gerieten dabei erst so richtig ins Gespräch. Er blieb auf Abstand hinter ihnen, konnte dabei ihrer Unterhaltung nicht mehr folgen, bekam aber etwas mit, was er merkwürdig fand. Er beobachtete, wie Sarah beiläufig ganze fünf Dosen Rasierschaum und drei Packungen Aftershave in ihren Wagen legte. In seinen Augen war das ein beachtlicher Vorrat – jedenfalls für eine Frau, und erst recht für eine, von der er dachte, dass sie solo lebte. Erst in diesem Moment fiel ihm auf, dass sie in seinen bisherigen Vorstellungen trotz aller Attraktivität ausschließlich als Single existierte. Aber warum eigentlich? Hatte er etwa unbewusst jede mögliche Partnerschaft wie einen Schaltungsfehler in seiner Kopfzentrale korrigiert, bevor er anfing, im kompletten Nervensystem sein Unwesen zu treiben?

      Er zog an den Frauen vorbei und hielt Sarah sein Shampoo wie einen Siegerpokal lächelnd entgegen. Sie winkte ihm in bester Laune zu, und er entschied, diesen Tag als Erfolgstag zu verbuchen. Der Versuchung, einen männlichen Grund für ihren seltsamen Hamstereinkauf zu suchen, widerstand er nach ein paar unangenehmen Überlegungen.

      Pelorus Jack

      »Mein Bedürfnis sie zu berühren ist immer größer geworden. Ich musste sie einfach anfassen«, las Till in seinen Notizen auf einem Auto­bahnrastplatz irgendwo zwischen Utrecht und Amersfoort. Er war ohne Frühstück in Den Haag gestartet, so zeitig, dass der niederländische Verkehr noch schlief. Nun brauchte er einen Kaffee. Er hatte an einer Tankstelle Halt gemacht, einen heißen Pappbecher mit drei Fingern über den Parkplatz jongliert und sich bei weit geöffneter Fahrertür ins Auto gesetzt. Der noch kühle Wind dieses Morgens wehte herein und verwirbelte den Dampf, der blass aus dem Becher züngelte.

      Beim Autofahren hatte Till an die letzten zwei Tage gedacht und sich gefragt, ob er wirklich genug aus Marjet de Clerck herausbekommen hatte. Die Zeit mit ihr war in mancherlei Hinsicht intensiv gewesen, aber würden seine vielen Eindrücke und Notizen reichen, um da­raus ein gutes Porträt schreiben zu können? Unmittelbar nach einer Recherche war Till sich diesbezüglich meistens noch nicht so sicher. Er hatte das Gefühl, in Ruhe einmal überfliegen zu müssen, was er mitgeschrieben hatte, erst dann wusste er, was er von seinen Gesprächen zu halten hatte. In der Regel staunte er anschließend über so manche Gedanken oder Formulierungen seiner Gesprächspartner, deren Wert er im Eifer der Unterhaltungen noch gar nicht erkannt hatte.

      Er wollte nicht lange auf diesem Parkplatz bleiben. Sei Plan war es, noch vor Mittag zurück in Aurich zu sein. Er musste es schaffen, rechtzeitig in der Kulturremise anzukommen, dort, wo auch die Biggi aus dem Supermarkt in Pewsum sein wollte, um Sarah zu treffen. Im Veranstaltungskalender hatte er gelesen, dass dort am Vormittag eine Ausstellung zur Geschichte der Multiplen Sklerose eröffnet werden sollte. Er wusste nicht so recht, was er sich unter solch einer Präsentation vorstellen sollte, und schon gar nicht, was Sarah dort zu suchen hatte, aber das interessierte ihn auch gar nicht so sehr. Was zählte, war nur, dass es sich um eine öffentliche Veranstaltung handelte, die also auch er besuchen konnte, und dass er sich sicher war, sie dort zu sehen.

      Till nippte an seinem heißen Kaffee, während er noch schnell ein paar Seiten seiner Aufzeichnungen las. Ihm gefiel, was er in Den Haag bei Marjet de Clerck notiert hatte, während sie versuchte, ihm begreiflich zu machen, was eine schöne Form in ihr auslöste: »Natürlich hätte ich sie weiterhin rein visuell erforschen können, aber das reichte mir nicht. So eine Schönheit kann ich doch allein mit den Augen gar nicht genug begreifen.«

      Als die kleine Frau mit der mädchenhaften Gestalt vor ihm saß und das sagte, verstand er auf einmal mehr, als sie ihm klarmachen wollte. Er begriff, was sie antrieb, als Malerin und vor allem als Bildhauerin zu arbeiten. Es war ihre geradezu brennende Verliebtheit in manche Formen, Bewegungen und Gestalten.

      Plötzlich hatte er das Gefühl, zu durchschauen, warum sie es als Künstlerin zu internationalen Erfolgen gebracht hatte: Wenn sie sich für ein Thema oder Motiv entschieden hatte, brannte sie so sehr dafür, dass sie damit verschmolz.

      Was die Künstlerin ihm über ihre Faszination für die körperliche Schönheit von Delfinen erzählt hatte, hätte er über die Schönheit Sarahs sagen können: »Ich musste sie einfach anfassen.« Doch was sie für sich bereits umgesetzt hatte, war für ihn bislang nur ein Traum, allerdings einer, aus dem Realität werden konnte. Diese Botschaft hatte sie ihm, ohne es zu wissen, wie in einer pädagogischen Lektion vermittelt. Ihr Unausgesprochenes hatte ihm zu verstehen gegeben, dass Menschen mit Leidenschaft wie Feuer sind. In ihrer Glut konnten sie ihr komplettes Weltgerüst formen, und ihr Lodern war anziehend wie ein warmer Schein in klirrend kalter Nacht.

      Lesend hatte Till einen Film eingeschaltet, der nun vor seinem geistigen Auge abspulte, was in den letzten Tagen geschehen war. Er begann mit einer SMS, die er während seiner Suche in Pewsum erhalten hatte. Als er sie Stunden später nach seiner Begegnung mit Sarah las, wehte der unkonventionelle Charme Hollands zu ihm nach Ostfriesland, und er spürte Lust, ihm zu folgen. »Du kannst gerne schon Mittwochabend kommen. Ich koche uns etwas«, hatte Marjet de Clerck ihm geschrieben.

      Im allerersten Moment stutzte er wegen der duzenden Formulierung, schließlich kannte er diese Frau aus lediglich zwei Telefonaten. Aber er begriff ihre Art zu schreiben nicht als plumpe Vertraulichkeit, sondern als gängige holländische Umgangsform, die ihm noch nie Probleme bereitet