Till Türmer und die Angst vor dem Tod. Andreas Klaene

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Название Till Türmer und die Angst vor dem Tod
Автор произведения Andreas Klaene
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738062090



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Aurich aus steuerte er seinen in die Jahre gekommenen Benz Richtung Nordwesten bis zu dem kleinen Ort Upgant-Schott. Dort bog er links ab und fuhr geradewegs Richtung Meer. Vor ihm tauchte das Fischerdorf Greetsiel mit seinen zwei Windmühlen und den alten Bürgerhäusern auf.

      Er spielte für einen Augenblick mit dem Gedanken, in den Ort zu fahren. Es war schon immer so, dass er sich von diesem Greetsiel angezogen fühlte. Das hatte mit den kleinen, rot gepflasterten Straßen zu tun, deren uralte Fassaden noch viel von den Circsenas erzählten, jenen Grafen, die hier ihre Häuptlingsburg hatten. Das hatte aber auch mit dem kleinen Hafen und seinen Krabbenkuttern zu tun, an dessen Kaimauer es nach Grenzenlosigkeit roch.

      Er hatte keine Zeit, sich auf die Erzählungen der alten Backsteinhäuser einzulassen. Aber das war nicht schlimm, denn die Strecke, die nun vor ihm lag, gehörte zu seinen Lieblingstouren. Er steuerte über die schmale Störtebekerstraße Richtung Süden. Wie der lange Riemen einer Peitsche, die Freibeuter hier vergessen hatten, durchschnitt sie die Weite grüner Felder und Wiesen. Links und rechts, bis zum Warfendorf Pilsum, breitete sich das Grün wie ein gebügeltes Tuch auf einer riesigen Tafel aus. Rechts, in weiter Ferne, ragte der kleine Pilsumer Leuchtturm mit seinen gelben und roten Streifen aufmüpfig in den Himmel.

      Nach ein paar Kilometern sah Till Manslagt vor sich liegen. Es kam ihm ungewöhnlich vor, nicht hundert Meter weiter links ins Dorf abzubiegen und Casjens’ Reiterhof anzusteuern. Aber seine schwarze Stute stand heute nicht auf dem Programm, und jetzt war auch keine Zeit, mit Enno über Jupp und das Begräbnis zu reden.

      Er fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, Enno telefonisch bis zum Abend hingehalten zu haben. Er sah auf die Uhr hinter dem Lenkrad, meinte, gut in der Zeit zu sein, trat aber dennoch tiefer aufs Gas. Er musste über sich selbst lachen, als er merkte, dass er es ausgerechnet auf Höhe von Manslagt so eilig hatte. Schließlich wusste er, was man sich über dieses Dorf erzählte. Dort sollten die Frauen vor fast tausend Jahren ihre Männer erschlagen haben, und angeblich bedeutete Manslagt nichts anderes als Mord.

      Wieder drängte sich der Gedanke an Enno ins Gehirn. Was er auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte, schien hier, ein paar hundert Meter von seinem Hof entfernt, lauter, vehementer zu klingen. Es ließ sich nicht einmal vom Gedudel des Autoradios übertönen. Aber sobald Manslagt zu einem winzigen Bild im Rückspiegel geworden war, wurde auch Ennos Nachricht ganz klein und immer leiser, bis nur noch das Schnurren des Motors zu hören war.

      Ein Wegweiser sagte ihm, dass es nur noch vier Kilometer bis Pewsum waren. Ein Hinweis, der auf ihn wie ein Wecker wirkte, der ihn schrill aus dem Traum in die Aufmerksamkeit riss. Ihm wurde klar, dass seine Aktion völlig sinnlos wäre, wenn er seine Augen nicht ab sofort auf Rot eichte. Aber nun machte ihm sein Realitätssinn zu schaffen. Er hielt ihm vor, seine Zeit auf Suche nach einem ganz bestimmten roten Fahrzeug nur zu vergeuden. Die Frau, die Sarah heißen und in Pewsum zu Hause sein sollte, war womöglich verreist. Vielleicht stand ihr Auto für ihn unsichtbar in einer Garage. Sein Verstand kannte aber auch eine positive Denkart: Dieses Dorf war so überschaubar, dass es überhaupt nicht unwahrscheinlich war, fündig zu werden. Erst recht zu dieser Stunde. Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz vor sechs, und die meisten hatten bereits Feierabend. Wer also heute mit dem Auto unterwegs war, dürfte mittlerweile wieder zu Hause angekommen sein.

      Sobald Till das gelbe Ortsschild vor sich sah, schaltete er einen Gang herunter. Am liebsten wäre er von nun an im Schneckentempo weitergefahren, um links und rechts die Parkstreifen und Hofeinfahrten zu kontrollieren, aber das ging nicht. Die Autos, die er im Rückspiegel sah, gebärdeten sich wie gereizte Verfolger, die drauf und dran waren, sein gedrosseltes Tempo mit einem Tritt ins Hinterteil zu ahnden. Er beschleunigte dennoch nicht, zuckelte über die Manningastraße geradewegs Richtung Ortskern und versuchte, die ungeduldige Meute hinter sich zu vergessen.

      In diesem Moment meldete sich sein Handy. Er ließ es auf der Mittelkonsole liegen, warf nur einen genervten Blick aufs Display. Was er dort sah, war eine Überraschung. Allerdings keine, die ihn beflügelte, denn Grossanter war es, der gerade versuchte, ihn hier oben in der Krummhörn aufzuspüren. Till hatte schon befürchtet, diesen Mann nicht mit einem Kaffee loszuwerden. Typen wie er, dachte er, haben leider zu oft die Erfahrung gemacht, mit Penetranz ans Ziel zu kommen. Er rührte das Handy nicht an und sehnte sich mit jedem Ton mehr sein Schweigen herbei.

      An einem kleinen Kreisverkehr bog er rechts ab, und endlich hörte das Klingeln auf. Als er sich wieder ganz auf seine Suche konzentrierte, wurde ihm bewusst, dass sie lediglich auf Hoffnung und Zufall basierte. Es war also egal, welche Straßen er abklapperte. Jede konnte die richtige sein.

      Wie einem inneren Kompass folgend schlug er einen engen Bogen um den Kern des uralten Warfendorfes. Vorbei an prächtigen Villen fuhr er langsam über die Burgstraße auf den Drostenplatz. Sein Blick scannte sämtliche entgegenkommenden und parkenden Autos, und er fragte sich, was es wohl war, das ihn zu dieser Stelle zog. War es der alte Baumbestand, dessen mächtige Kronen Vögel jeglicher Art anlockten, und nun auch einen so komischen wie ihn? Er ließ sein Auto über die rote Pflasterung mit ihren Kreismustern bis vor einen der borkigen Stämme rollen und stellte den Motor aus. Vor ihm erhob sich die Häuptlingsburg der Manningas mit ihrem gelben Gemäuer. Er stieg aus, ging ein paar Schritte auf das Gebäude zu. Ein schwarzer Graben umringte die Burg, machte sich vor ihr breit wie ein muskulöser Türsteher. Die Sonne hatte seine dunklen Arme mit dem Spiegelbild des gelben Herrschersitzes tätowiert.

      Als Till über das Wasser schaute, landete sein Blick auf einer Reihe hoher Linden. Zwischen den hinteren Stämmen parkte ein rotes Auto. Es war so klein, dass es in sein Suchraster passte. Die Bäume versuchten, es unter ihren Schatten zu verstecken.

      Nun hatte er es eilig. Eng schlängelte er sich am weißen Lattenzaun eines Hauses vorbei, weil die vorbeifahrenden Autos mehr Platz brauchten, als die mittelalterlichen Stadtplaner gedacht hatten. Endlich konnte er den Wagen genauer erkennen. Er sah seine linke Seite. Ja, es schien tatsächlich ein Mini zu sein. Doch nach ein paar weiteren Metern wurde ihm klar, dass er umkehren konnte. Der Wagen hatte ein Hamburger Kennzeichen.

      Halb Pewsum schien an diesem frühen Abend auf den Beinen zu sein, aber Till registrierte die vielen Radfahrer und Fußgänger kaum. Seine Augen schienen nur dann mit dem Gehirn zu korrespondieren, wenn sie auf ein rotes Auto trafen.

      Mit Selektionsblick machte er sich auf den Weg über die Burg­straße in die Jannes-Ohling-Straße. Er merkte, wie schnell ihm die überschaubare Größe des Dorfes über den Kopf wuchs, da die Zeit bis zu seinem Termin so spürbar schrumpfte. Ihm fiel ein, dass er unbedingt noch etwas für sein Frühstück am nächsten Morgen einkaufen musste. Darum wollte er noch einige Straßen fahrend inspizieren und zwischendurch beim nächsten Supermarkt Halt machen.

      Till fuhr nun wahllos durchs Dorf. Er verließ die mittelalterliche Welt des Ortskerns, schlich durch moderne Siedlungen, vorbei am Sportplatz und über die Philipp-Reemtsma-Straße bis zum Friedhof, wo Grabsteine das Ende Pewsums markierten.

      Genau dort tauchte Jupp wieder in seinen Gedanken auf, dieser gutmütige hagere Mann mit seinem ewig schlecht rasierten Gesicht. – Ewig? Auf seinem inneren Film erkannte er, dass das nicht stimmte. Manchmal war sein stoppeliges Kinn ganz glatt. Und zwar immer sonntags. Till fragte sich, warum ihm das nicht eher aufgefallen war, viel früher, als Jupp noch lebte. Das wäre für ihn ein Anlass gewesen, diesen Mann noch genauer zu betrachten, zum Beispiel herauszubekommen, was Sonntage ihm bedeuteten. Auf diesem Hof waren sie wie jeder Tag, weil Pferde nach Kontinuität verlangten. Womöglich wechselte Jupp auch nur zum Wochenende seine Unterwäsche. Diese Vorstellung verwarf Till auf der Stelle. Er trug zwar immer seine um die knochige Gestalt flatternde Jeans und sein am Kragen abgewetztes Karohemd, aber er müffelte nie. Jedenfalls nicht nach Mensch, nur nach Stall und nach den Pferden, die er dort versorgte. Und die stanken nicht. Genau wie sie roch Tills größter Kindheitstraum, in dem er sich vor seinem eigenen Pferd stehen sah. Er glitt mit seiner kleinen Hand über die lange Blesse, drückte sein Gesicht auf die weiche, muskulöse Schnauze und war selig, wenn er den Duft, der aus den Nüstern wehte, inhalieren konnte.

      Jupp müssen sie wohl etwas bedeutet haben, diese winzigen Unterschiede in der Monotonie der Zeit. Vielleicht verzauberten sie seinen ständigen Gleichschritt heimlich in Walzerrhythmen. Jetzt bewegte er sich nicht